Essay

Als Politik und Literatur noch untrennbar zusammenhingen

Die Weimarer Republik offenbart, woran es den zeitgenössischen Autoren mangelt
Hamburg

Weimar hat Konjunktur. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung widmete vor einigen Wochen – wohlgemerkt, vor dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen – der Frage, ob wir derzeit wieder auf Weimarer Verhältnisse zusteuern, eine ganze Serie an Beiträgen. Auch die ZEIT und andere haben sich eingehend mit möglichen Analogien der Jahre 1918 bis 1933 mit dem Hier und Heute befasst. In fast allen Fällen mit dem Ergebnis, dass man die Gegenwart nicht mit den Maßstäben von damals beurteilen könne. Getreu dem Motto, dass sich Geschichte nicht wiederholt, historische Entwicklungszusammenhänge aber Rückschlüsse auf das Verständnis der Gegenwart zulassen. 

Doch nicht nur in der politischen Kommentierung ist Weimar omnipräsent. Die Frankfurter Schirn Kunsthalle zeigt derzeit eine aufwendige Ausstellung über „Glanz und Elend in der Weimarer Republik“. In Berlin erlebt Jeanne Mammen, deren eindrucksvolles Hauptwerk in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist, eine künstlerische Wiederentdeckung. Mit „Babylon Berlin“ wurde soeben die teuerste deutsche Fernsehserie aller Zeiten abgedreht, deren Erfolg zu einem Gutteil auf der Sogwirkung des als besonders anrüchig dargestellten Berlins der 1920er beruht.    

Und auch literarisch findet die Phase zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Machtübertragung an die Nationalsozialisten Beachtung. Im vergangenen Jahr sind etliche Bücher erschienen, die sich mit der Literaturgeschichte dieser Zeit befassen, sei es in Gänze oder, wie im Falle des neuen Buches von Volker Weidermann, mit ausgewählten Aspekten. So viel kann man vorwegnehmen, es treten dabei Facetten zutage, die bislang allenfalls in Fachstudien beleuchtet wurden. 

II.

Das bemerkenswerteste dieser Bücher hat der Heidelberger Literaturwissenschaftlicher Helmuth Kiesel geschrieben; eine monumentale, rund 1300 Seiten starke Geschichte der deutschsprachigen Literatur der Jahre 1918 bis 1933. Man kann ohne viel Prophetie sagen, dass an dem Werk auf absehbare Zeit niemand vorbeikommt, der sich einen Überblick über die zahlreichen literarischen Strömungen – Kiesel spricht von einem „Tumult der Stile“ – dieser Zeit verschaffen möchte.        

In „Kämpfen“, dem sechsten und letzten Band seines autobiografischen Romanprojekts, schreibt Karl Ove Knausgård: „Fast alle Texte aus der Zeit der Weimarer Republik, die heute noch gelesen werden […] sind geschmackvoll und bewegen sich stilistisch auf höchstem kulturellem Niveau, und selbst wenn die in ihnen geäußerten Gedankengänge wirklich unerhört und für uns eigentlich vollkommen inakzeptabel sind […] akzeptieren wir sie, studieren sie und diskutieren sie als nicht-unerhört, aber nur, indem wir sagen, […] dass sie in einer politisch turbulenten Zeit entstanden. Die Gedanken sind gefährlich, aber stilistisch sind sie ein Genuss, wir können uns mit ihnen beschäftigen.“

Wie so oft bei Knausgård werden hier etliche Überlegungen in einen Topf geworfen und kräftig verrührt. Allerdings wird deutlich, welche Faszination von dieser gerade einmal anderthalb Jahrzehnte währenden Phase der deutschen Geschichte bis in die Gegenwart ausgeht; nicht nur hierzulande. Ein Gutteil dessen, was heute zum Kanon der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts zählt, ist in dieser Zeit entstanden oder – wie Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder Thomas Manns Josephs-Tetralogie – bereits gedanklich angelegt gewesen. Allerdings, das wird gerne übersehen, sind das literarische Gedächtnis und die Art, wie wir diese Bücher heute bewerten, maßgeblich durch die Erfahrungen des Jahres 1933 fortfolgende geprägt. Helmuth Kiesel weist darauf zu Recht hin. Und macht es sich zur Aufgabe, dieses Bild zu korrigieren und unseren Blick auf die damalige Literatur zu verbreitern. Sein Buch führt eindrücklich vor Augen, dass die Literatur der Weimarer Republik sehr viel facettenreicher war als das, was ab 1933 unter deutscher Exilliteratur firmiert.

Zu den charakteristischen Besonderheiten der 1920er Jahre gehört die enge Verflechtung von Politik und Literatur. Ein Phänomen, das in der zeitgenössischen Literatur kaum mehr eine Rolle spielt. Einen wichtigen politischen Roman in deutscher Sprache hat es seit mindestens drei Jahrzehnten nicht gegeben (auch Robert Menasses „Die Hauptstadt“ ändert daran nichts, wenngleich pflichtschuldig mit dem Deutschen Buchpreis prämiert). Während man die streckenweise gähnende Langeweile der heutigen Literaturproduktion mitunter auf das Fehlen eines politischen Diskurses zurückführt, verhielt es sich in den 15 Jahren nach dem Ersten Weltkrieg genau umgekehrt. Literatur war ein elementarer Bestandteil der politischen Debatten; sie war Gradmesser und mitunter auch Treiber einer immer stärkeren Zuspitzung der weltanschaulichen Auseinandersetzungen.

Zu den großen Stärken von Kiesels Buch gehört, dass es die Symbiose zwischen Literatur und Politik in ihrer ganzen Breite aufzeigt. Dabei geht es weit über das hinaus, was heute noch an Werken aus dieser Zeit in Erinnerung ist. Diese sind in erster Linie gekennzeichnet durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und lassen sich einer vor allem liberalen bis linken Autorenschaft zuordnen. Ausnahmen wie Ernst Jünger bestätigen die Regel. Die Riege der heute noch bekannten Autoren reicht von Thomas und Heinrich Mann über Erich Maria Remarque und Karl Kraus bis hin zu Robert Musil und Bertolt Brecht. Hinzu kommen Vertreter des publizistisch-literarischen Lebens wie Leopold Schwarzschild oder Alfred Kerr, die den kulturellen Alltag der Weimarer Jahre an einflussreichen Stellen mitgeprägten. Sie alle werden in Kiesels Buch eingehend behandelt.   

Daneben gab es aber auch eine Vielzahl von Autoren (und eine überschaubare Anzahl Autorinnen), die man heute kaum mehr kennt, die jedoch in den 1920er Jahren prominent zum literarischen und politischen Diskurs beitrugen. Schon um dieses Panorama an Stimmen und Stilen einmal en Detail und mit beeindruckender Werkkenntnis vor Augen geführt zu bekommen, lohnt die Lektüre von Kiesels Buch. Wer erinnert sich beispielsweise noch an den „Starautor“ Werner Beumelburg, der mit seinen Schlachten-Büchern („Ypern 1914“, „Loretto“, „Flandern“) in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre populär wurde und geradezu mustergültig die Ideologie der nationalistischen Kriegsapologeten bediente? Seine höchsten Auflagen erreichte Beumelburg freilich erst in der Zeit des Nationalsozialismus. Oder an Franz Schauwecker, der 1919 mit „Im Todesrachen“, einer autobiografisch gefärbten Erzählung des Ersten Weltkrieges, einen beachtlichen Publikumserfolg landete. Im Kapitel „Umwertung“ schildert Schauwecker „unerhörte Offenbarungen des Krieges“, welche – die Diagnose zeugt von einer gewissen Weitsicht – „unter dem Faustdruck urhafter Zustände innerliche Umwälzungen und Überzeugungsänderungen“ bei all jenen zur Folge hatten, die daran beteiligt waren.

Darüber hinaus stößt man bei Kiesel aber auch auf längst vergessene Texte, deren Wiederentdeckung lohnt. Etwa der kleine Essay „Die geistige Welt im Jahr 1926“ des Theologen Paul Tillich. Das Stück entstand in einer Phase der Weimarer Republik, als die ersten Erschütterungen der Nachkriegszeit – man denke an das Wüten der Freikorps und die diversen Putschversuche von rechts und links – beigelegt waren, der Zusammenbruch der Wirtschaft und die für die Republik letztlich finale Radikalisierungen von Politik und Gesellschaft aber noch bevorstanden. Was im Rückblick offenkundig erscheint, hat der Zeitgenosse Tillich bereits mit feiner Sensorik diagnostiziert. Er sprach von einer „Überganszeit“, einer Phase des „Atemholens“, die man derzeit durchlebe, bevor das „Weiterdrängen“ wieder Fahrt aufnehmen werde. Dieses Intermezzo lasse sich in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft beobachten: „in der Außenpolitik als Neigung zur Versöhnung; in der Wirtschaft als Stabilisierung; in der Gesellschaft als Nachlassen des revolutionären Impulses und Revitalisierung des bürgerlichen Typus; in der Kunst als Abwendung von den ekstatisch-subjektiven Formen des Expressionismus und als Zuwendung zu den Prinzipien der neuen Sachlichkeit“.

Mit seiner klugen Analyse hatte Tillich nicht nur die politischen Zeitumstände treffend erfasst, sondern, so Kiesel, auch „den Takt der literarischen Entwicklung“ getroffen. Tatsächlich sei auch die literarische Produktion Mitte der 1920er Jahre in eine Phase des „Atemholens“ eingetreten. „Die Exaltationen des Expressionismus und des Dadaismus wurden durch die ernüchternde Neue Sachlichkeit in Reinkultur unmöglich gemacht und gingen als sparsam zu verwendende Bausteine in die Kunst der reflektierten Moderne ein, die sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre herausbildete.“ Die kriegs- und revolutionsreflektierende Literatur der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde abgelöst durch eine Literatur des „versöhnlichen bürgerlichen Lebens“, wofür sinnbildlich Carl Zuckmayers „Fröhlicher Weinberg“ (1925) steht. Und auch bei Großautoren wie Thomas Mann oder Alfred Döblin lässt sich Mitte der 1920er eine Verlagerung der Interessen weg von der Politik und hin zu künstlerisch-ästhetischen Fragestellungen beobachten. Bis schließlich 1929 die kurze Phase des Überganges abrupt endete; und die politischen Ereignisse – Stichwort „Blutmai“ und „große Depression“ – eine neuerliche Radikalisierung von Politik, Gesellschaft und auch Literatur einläuteten.    

Symptomatisch für die literarischen Tiefenströmungen der 1920er Jahre war die Entstehungsgeschichte von Ludwig Renns pazifistischem Beststeller „Krieg“; dem Buch über den Ersten Weltkrieg, das sich nach Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929) der größten Beliebtheit beim Publikum erfreute. Renn hatte sein Manuskript bereits 1924 fertiggestellt, allerdings dauerte es weiter vier Jahre, bis das Buch einen Verleger fand und erscheinen konnte. Die Veröffentlichung fiel in eine Zeit, als die Befassung mit dem Krieg einen erneuten Höhepunkt erreichte, und zwar aus pazifistischer, sozialistischer, rechtsradikaler und bürgerlicher Perspektive gleichermaßen. Walter Benjamin bezeichnete diese Zeitspanne später als eine „Apotheose des Krieges“ und Inbegriff eines „überholten Heroismus“ sowie als erste Selbstdarstellung des unter nationaler Flagge marschierenden „faschistischen Klassenkriegers“. Das Aufkommen der „neuen Kriegsliteratur“ fand in der Presse einen willigen Echoraum und war Gegenstand unzähliger Rezensionen und Debatten. Dasselbe gilt für ein weiteres Sujet, das neben dem Krieg in der Spätphase der Weimarer Republik die literarische Landschaft beherrschte: die Revolution! Dazu zählten sowohl die erneute Beschäftigung mit den Jahren 1918/19 – Ernst Glaesers „Frieden“ erschien 1930, Renns „Nachkrieg“ ebenfalls, Remarques „Der Weg zurück“ 1931 – als auch der Rekurs auf die Oktoberrevolution, aber auch länger zurückliegende Revolutionen wurden literarisch aufgegriffen.  

Kurzum, die Radikalisierung und Militarisierung von Politik und Gesellschaft fand ab 1929 ihren Widerhall in der Literatur. Ob positiv oder negativ konnotiert, hing vom „Sehepunkt“ des jeweiligen Verfassers ab. Mit sogenannter Agitationsliteratur suchten zudem zahlreiche Autoren – meist aus dem extrem nationalistischen oder kommunistischen Lager – Einfluss zu nehmen auf das politische Geschehen.

Politik und Literatur, das zeigt Kiesels Buch eindrucksvoll, waren in der Weimarer Republik nicht voneinander zu trennen. Das gilt besonders für die Früh- und Spätphase, also unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und vor 1933. Die meisten der damals erschienenen Bücher sind heute zu Recht vergessen. Dafür stehen jene Werke, die noch gelesen werden, nicht selten für eine gänzlich neue Form des literarischen Schreibens (siehe Döblins „Berlin Alexanderplatz“) oder eine besonders intensive künstlerische Auseinandersetzung mit den intellektuellen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit (Beispiel „Zauberberg“). Daneben gibt es aber auch zahlreiche literarische Werke aus dieser Periode, deren (erneute) Entdeckung und Lektüre lohnt. Wie das wunderbare, 1928 anonym erschienene Buch „Schlump“ von Hans Herbert Grimm, das 2014 bei Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt wurde, oder „Jahrgang 1902“ von Ernst Glaeser, seit 2013 wieder bei Wallstein verfügbar. Kiesels Literaturgeschichte ist somit nicht zuletzt auch eine wertvolle Fundgrube für die weitergehende Lektüre.   

III.       

Was passiert, wenn Schriftsteller nicht nur politische Bücher schreiben, sondern selbst Politik machen – oder es zumindest versuchen –, kann man im neuen Buch des SPIEGEL-Literaturkritikers Volker Weidermann nachlesen. „Träumer“, so der bezeichnende Titel, beleuchtet einen Teilaspekt der (Literatur-)Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg, der von den Germanisten und Historikern bislang allenfalls gestreift wurde.  

Konkret geht es um die Zeitspanne zwischen November 1918 und April 1919, in der sich im Getöse der Revolution ein kleiner Kreis von Literaten um Kurt Eisner, Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam für wenige Tage an die Spitze der Münchner Rätebewegung stellte. Einen Plan oder gar ein ausgearbeitetes Programm hatten die Beteiligten nicht; dafür aber jede Menge Ideen, basierend auf dem gemeinsamen Nenner, die zurückliegende Ordnung ein für alle Mal zu beseitigen. Damit gemeint waren Autoritarismus und Militarismus, die Ausgrenzung von Minderheiten, Unterdrückung, soziales Elend – kurzum, all jene Missstände, die mit dem soeben untergegangenen Kaiserreich in Verbindung gebracht wurden. Allerdings war die Frage, was stattdessen entstehen und, nicht minder komplex, wie dies vonstattengehen sollte, nicht ohne weiteres zu beantworten. Das Handwerk der Politik hatte keiner der nun plötzlich zu Regierungsämtern gelangten Dichter gelernt. Als sei das nicht bereits Schwierigkeit genug, kam auch noch eine sich rasch formierende und zu allem entschlossene reaktionäre Opposition hinzu, die sich auf das Waffenarsenal und die militärische Expertise zahlreicher Kriegsheimkehrer stützen konnte. In anderen Worten, die Ausgangslage für einen erfolgreichen coup d’etat der Literaten war alles andere als günstig.   

Weidermann schildert die damaligen Geschehnisse als ein gewaltiges Experiment; als eine Art riesige Bürgerversammlung, der es nicht an gutem Willen, dafür aber am strukturellen und administrativen Unterbau fehlte. Sowie am Blick der Akteure für die Zusammenhänge eines funktionierenden Staatswesens. Nicht zuletzt daran, so eine Einsicht nach der Lektüre von „Träumer“, ist das Projekt einer Regierung der Literaten 1918/19 gescheitert.

Freilich könnte man den Beteiligten vorwerfen, mit allzu großer politischer Naivität an die Sache herangegangen zu sein. Wenn ein Regierungschef Toller die Amtsgeschäfte aus dem Badezimmer des Palastes führen wollte, weil ihm der Rest des Gebäudes zu protzig erschien, dann kann man das aus heutiger Sicht belächeln. Andere Ideen wiederum haben sich in der Rückschau als überaus modern herausgestellt, wie etwa der Plan Landauers, Gesamtschulen zu gründen oder den Achtstundentag festzuschreiben. Die Stärke von Weidermanns Buch liegt auch darin, dass er nicht aus der überheblichen Warte des Nachgeborenen argumentiert,  sondern sich den Ereignissen und Akteuren grundsätzlich wohlwollend, wenngleich nicht unkritisch nähert.

Eine Debatte, ob die spontan auf den Weg gebrachte Regierung der Literaten unter anderen Vorzeichen erfolgreich hätte sein können, erübrigt sich, da sie dann gar nicht zustande gekommen wäre. Fest steht jedoch, dass die Beteiligten einen hohen Preis für ihr Scheitern bezahlten. Gustav Landauer wurde wie so viele andere auch von Freikorps-Soldaten ermordet; Kurt Eisner, der 1918 den Freistaat Bayern ausgerufen und sich an dessen Spitze gestellt hatte, fiel einem Attentat in der Münchner Innenstadt zum Opfer; Erich Mühsam wurde für fünf Jahre weggesperrt und später von den Nazis ermordet. Der Versuch der Münchner Literaten, nicht nur Bücher, sondern auch ein neues Staatswesen zu erschaffen, blieb eine einmalige Episode der Literaturgeschichte. So spannend es ist, das heute in der von Weidermann dargebotenen Detailtiefe nachzulesen, so tragisch war es für die Protagonisten. Mit ihrem brutalen Ende war auch der Ton für das gesetzt, was in den kommenden Jahren folgen sollte.     

IV.

Die Bücher von Helmuth Kiesel und Volker Weidermann verbindet, dass sie Aspekte der Zeit zwischen 1918 und 1933 beleuchten, die bislang nicht im Fokus standen. Speziell Kiesel scheute dabei nicht davor zurück, auch jene Autoren und Bücher einzubeziehen, die heute entweder längst in Vergessenheit geraten sind oder im rechts- oder linksextremen Lager standen. Das führt mitunter dazu, dass spätere Exilautoren mit angehenden Nazis in einem Atemzug genannt werden. Doch war das Aufeinanderprallen von radikalen Ideen und Zukunftskonzepten ein wesentliches Kennzeichen dieses Jahrzehnts der politischen, gesellschaftlichen und auch literarischen Extreme. Die Faszination, die von dieser Zeit bis heute ausgeht, liegt nicht zuletzt darin begründet. Die Literatur spielte dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, als Vermittler von politischen Ideen und Vorstellungen, bisweilen aber auch als deren Entwickler und Treiber. Wie weit das reichen und mit welchen Konsequenzen es verbunden sein konnte, lässt sich in Volker Weidermanns Buch über die Münchner Räterepublik nachlesen, als die Literaten kurzzeitig versuchten, ihre Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft in reale Politik zu übersetzen.

Und noch etwas führen die Bücher von Kiesel und Weidermann vor Augen: Wie unpolitisch handzahm und mitunter langweilig die zeitgenössische Literatur hierzulande derzeit daherkommt! Damit sei in keiner Weise einer neuerlichen Polarisierung nach Vorbild der 1920er Jahre das Wort geredet. Allerdings mangelt es gegenwärtig ganz sicher nicht an Themen, die anzugehen einer Literatur mit Anspruch auf Gegenwartsbezug gut zu Gesicht stünde. Wo ist der aufrührerische Roman über die Finanzkrise, der es – inklusive der daraus (nicht) gezogenen politischen Konsequenzen – ganz sicher nicht an Empörungspotential mangelt? Welcher Autor, welche Autorin befasst sich mit der Frage, welche Auswirkungen der Vertrauensverlust in Parlamente und Regierungen, ja, in das Prinzip der Demokratie insgesamt, für unsere Gesellschaften hat? Wo findet sich das gegenwärtige Unbehagen der Menschen gegenüber dem technologischen Fortschritt und damit letztlich der eigenen Zukunft in der Literatur wieder?

Dass zeitgenössische Literatur und aktuelle politische Debatten kein Widerspruch sein müssen, hat Jenny Erpenbeck 2015 mit ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ (Knaus Verlag) gezeigt. Sie griff darin das hochaktuelle Thema der europäischen Flüchtlingskrise auf und übertrug es auf die Lebenswelt eines emeritierten, bis dato eher lebensfremden Professors. Einen großen Literaturpreis hat Erpenbeck damit zwar nicht gewonnen. Allerdings liegt das Buch seit kurzem in englischer Übersetzung vor und wird im Ausland intensiv rezipiert. „A Novelist’s Powerful Response to the Refugee Crisis“, titelte der New Yorker. Die New York Times nannte es ein wichtiges Buch, das sich der großen Frage stellt, was von unseren Moral- und Identitätsvorstellungen angesichts der radikalen globalen Veränderungsdynamiken überhaupt noch Bestand hat.

Die Reaktionen zeigen, dass das Bedürfnis nach einer literarischen Befassung mit den relevanten politischen Fragen unserer Zeit unvermindert besteht, hierzulande wie auch anderswo. Ob die deutsche Literatur den Ball aufnimmt, oder sich weiterhin in ihrer überragenden Mehrzahl dem Diskurs entzieht, bleibt abzuwarten.

Bücherliste:

Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. 1918 bis 1933. C.H. Beck Verlag 2017, 1304 Seiten, 58 Euro, ISBN: 978-3-406-70799-5.

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen. Kiepenheuer & Witsch 2017, 288 Seiten, 22 Euro, ISBN: 978-3-462-04714-1.

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