Essay

Ein Bild von einem Gedicht

Hamburg

„[J]eder offene Text ist auch dargeboten als die zur Schau gestellte, nicht private Oberfläche eines offenen Briefes, also einer Postkarte, […] mit ihrer zugleich codierten und stereotypisierten Sprache. […] Entsprechend ist jede Postkarte ein öffentliches Dokument, eine Privation aller privacy […]“1, referierte der algerisch-französische Philosoph Jacques Derrida in seinem Vortrag Ulysses Grammophon, den er am 12. Juni 1984 zur Eröffnung des James Joyce International Symposiums in Frankfurt hielt.

Das gilt natürlich für jedes einzelne Gedicht im Allgemeinen und die in dieser Anthologie versammelten, illustrierten Gedichte – Poetryletter genannt – im Speziellen. Lyrik ist sprachlich-semantisch codiert und doch formal stereotypisiert. Wir wissen immer noch nicht so recht, was denn nun ein Gedicht ausmacht, erkennen aber trotzdem Gedichte, wenn wir sie sehen. Wir reihen Wörter und Zeilen aneinander mit der Absicht, dass daraus ein Gedicht entstünde. Wir veröffentlichen sie in Zeitschriften, im Internet, in Büchern oder Anthologien wie diesen, machen sie anderen Menschen zugänglich und schaffen damit eine privat-öffentliche Situation: Die von AbsenderIn und EmpfängerIn. Jedes Gedicht ist eine Postkarte, adressiert mehr oder weniger anonym an niemand Bestimmten – laut Derrida hat die Postkarte den „Charakter der anonymen Öffentlichkeit“2 – abgeschickt. Warum muss ein Projekt wie das des regelmäßig erscheinenden Poetryletters also überhaupt diesen Namen tragen: Poetryletter? Könnten diese im Netz veröffentlichten, als hochwertige Drucke angefertigten und in jährlichen Anthologien wie dieser fünften zusammengetragenen Gedichte verschiedener AutorInnen denn nicht einfach den Titel Poetry oder schlicht Gedichte tragen?

Oder fragen wir lieber zuerst: Was ist das Problem mit diesen Zitaten Derridas? Dass sich nur schwerlich aus dem Werk des Philosophen zitieren lässt, ohne seine Gedanken zu verkürzen? Dass diese Zitate einem Vortrag entnommen sind, der sich eigentlich um den Gebrauch des Wortes yes in James Joyce‘ Ulysses drehte und somit der Kontext ein gänzlich anderer ist? Oder vielleicht, dass dieser Vortrag 1984 gehalten wurde, als die Vorläufer des World Wide Web schon kaum mehr das Datenvolumen des E-Mail-Verkehrs tragen konnten? 31 Jahre alte Sätze, lange ausgesprochen vor der Veröffentlichung dieses Buches, das in einer Zeit erscheint, in welcher Postkarten kaum mehr als nostalgisch aufgeladene Artefakte sind?

Wir kommunizieren kaum noch postalisch, sondern vornehmlich digital. Telekommunikationsstrukturen haben das Briefsystem längst abgelöst. Ausnahme sind die Briefe, die unserer Unterschrift benötigen. Selbst der rhizomatisch (des)organisierte Hypertext, als den wir das Internet kennen, ändert sich. Die Schrift verliert ihre Sonderrolle, das Visuelle wird zum Träger der Kommunikation. Schrift wird komplementär, bekommt eine Kommentarfunktion zugewiesen. Bilder wirken schneller, ein paar Wörter reichen meist für eine kurze Kontextualisierung, Kritik oder Ironisierung des Gesehenen aus.

Der Poetryletter reiht  sich in diese Logik ein: Die Postkarte, von der Autorin oder dem Autor abgesendet, geht postwendend zurück, transformiert in ein neues Kunstwerk, in dem der kommentierte Text vermeintlich zum Kommentar avanciert ist. Ein Bild von einem Gedicht steht im Untertitel dieser Anthologie – schon die syntaktische Stellung lenkt den Blick zuerst aufs Bild, das Visuelle. Im Buch sieht das nicht anders aus: Der Text ist in die Illustration eingebettet oder wird durch sie eingerahmt. Er wurde der visuellen Arbeit aufgepfropft und das, obwohl er zuerst kam und sogar die – im Übrigen anonymisierte – Inspiration für das Bild lieferte. Durch die Rücksendung verkehren sich so die Hierarchien der Kunstformen, wie auch SenderIn und EmpfängerIn die Rollen tauschen. Die visuelle Interpretation des Geschriebenen (die polemisch gesagt Kunst zweiter Ordnung ist) fordert mehr Aufmerksamkeit ein als das, was wir als Original identifizieren würden. Dass das Gedicht im Nachhinein erst wieder in die Illustration eingebettet wird, ändert daran zuerst nichts.

Heißt das aber: Das Gedicht ist wird an den Rand gedrängt, etwa obsolet? Oder ist nicht viel eher aus der Postkarte Gedicht die Postkarte Poetryletter geworden? Nein, denn die Poetryletter antworten der veränderten medialen Situation. Und, was noch wichtiger ist: Sie bleiben dem alten Prinzip treu und illustrieren den Charakter des Gedichts als Postkarte, die von AbsenderIn zu EmpfängerIn reist, aus EmpfängerIn wiederum AbsenderIn macht und so weiter und so fort. Eine Postkarte, auf der die Namen – juristisch gesprochen das Copyright – verzeichnet sind. Aber wer ist EmpfängerIn? „Aber nie weiß man, wer wem zugehört, was wem, was was, wer was. Es gibt kein Subjekt der Zugehörigkeit, ebensowenig wie einen Eigentümer der Postkarte: sie bleibt ohne zugeteilten Empfänger“3, sagte Derrida dazu auf einem Symposium im Jahr 1984, noch vor dem Anbruch des Internetzeitalters, lange bevor die Homepage Fixpoetry gelauncht und der erste Poetryletter versandt wurde, adressiert an niemand Bestimmten – „ausgenommen denjenigen oder diejenige, der oder die durch eine unnachahmliche Unterschrift ihren Empfang bestätigt“4. Eine Visualisierung des Geschriebenen – ob nun am PC, auf dem Papier oder in den Köpfen der Leserschaft – kommt einer solchen Unterschrift, einer Empfangsbestätigung gleich. Die nächste Postkarte kann damit auf den Weg gegeben werden.

Anm. der Redaktion: Dieses Essay wurde ursprünglich für die Druckversion der Poetryletter 2013/2014 geschrieben. Das Buch konnte aus finanziellen Gründen nicht gedruckt werden.

  • 1. Derrida, Jacques: Ulysses Grammophon, übersetzt von Elisabeth Weber. Brinkmann & Bose, Berlin 1987, S. 48.
  • 2. Derrida, S. 49.
  • 3. Derrida, S. 50.
  • 4. Derrida, S. 49

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