Essay

Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Chioggia Teil 3
Hamburg

Zurück mit der Menschenmenge zum Markusplatz, mit manchen von ihnen wieder per Vaporetto quer übers Lido zum Auto. Das parkt auf der Landzunge unter dem Rieddach. Hoffentlich ist es nicht geklaut. Ihre Koffer wären fort, für die Katz wären die anstrengenden wohldurchdachten Einkäufe gewesen. Alles ist da. Zurück auf die Autostrada via Chioggia. Lastwagen schleppen die Gemüse-Ernten in die Fabriken, deren Schilder vor den Feldern stehen, Mais, Kohlrabi, Lauch, Blumenkohl, Auberginen, Zuckerrüben und immer wieder Bohnen. An bei den Seiten haben die Bauern ihre neue Ernte zum Verkauf ausgebreitet, Trauben, Äpfel, Birnen und Quitten. Katharina steigt aus, um sich Obst gegen den Durst zu kaufen. Zentnerweise lagern Kürbisse auf dem Boden, gelbe, rostrote und grüne in vielen Größen, kinderkopfklein, männerkopfgroß, die größten gewichtig wie Alfredos kugeliger Bauch. Fasziniert spaziert sie an den Holzstiegen mit Zierkürbischen entlang. "Wie heißen die?" - "Zucchi", lächelt der Landwirt aus dem ledrig-braunen Gesicht. Nicht zum Essen, zur Zierde. Wie Blumen. Klein sind die, wie eine Kinderfaust und eine Frauenhand ungefähr, gelbe Kugeln und grün-weiß-gestreifte in Birnenform und vor allem solche, die den Fliegenpilzen nachgezüchtet sind, weißliche Knollen mit rötlichen Mützen. Was es alles gibt.

Spätnachmittag ist es und immer noch heiß. Zum Glück hat der Volvo eine Klimaanlage. Nicht auszudenken, was die Hitze im Kofferraum ausbrüten würde. Schwer hab ich mich getan, mir den Luxus zu leisten. Nun bin ich zum ersten mal reich und zum Umlernen zu alt. Geschämt hab ich mich und hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Erbens; ohne Arbeit, das ist nicht richtig. Nun bin ich froh, dass das Auto kühl ist. Weil man nie wissen kann, wann ich Sohn Sandro zu mir nehmen kann und ob ich es nicht auch werde verstecken müssen, habe ich vorsichtshalber Eichhörnchen-Aktion gemacht und das Notwendige an Wäsche und auch Nahrungsmittel für zehn Tage eingekauft; im Kofferraum lagert das teils verderbliche Zeug. Die Kühlung geht dort vielleicht gar nicht, Gase entwickeln sich unter der Plasteverpackung, wenn die Sonne im Stau zu lange auf einen Punkt scheint. Vorn und fern, soweit der Lastwagen den Blick freigibt, hängen die Berge in den Wolken, es könnte ein Gewitter kommen und mit den Wassermassen eines Wolkenbruchs abkühlen. Nun ruckt es weiter, schneller, noch schneller, der Stau ist vorbei, die Hoffnung steigt. Was ist von soviel leiden­schaftlicher Liebe geblieben. Angst tötet Liebe zu Männern, noch mehr die um ein Kind. Mist, das Grübeln bringt nichts als demnächst einen Unfall. Schluss. Ich muss  an was Schönes denken. Das war damals mit meinem Ersten anders, die Straßen schlechter, trotzdem kamen wir schneller voran, als ich mit Norbert im Wartburg durch die Mark Brandenburg nach Polen gefahren bin, um zu sehen, wo er daheim war. Als Kinder hatten wir uns kennengelernt. Aus Leipzig waren meine Eltern evakuiert worden, er war Flüchtlingskind aus Ostpreußen. Geblieben wie so viele Leute 'nach fünfundvierzig'. In Dorfkammern haben beide Familien eingepfercht gewohnt, seine und meine. Wir Stadtkinder gingen zur Schule, Unterricht in einer ehemaligen Schmiede, nachmittags ging er mit vierzehn als Waldarbeiter, um Geld zu verdienen. Ein alter Waldarbeiter hat Norberts Schulbücher gefunden, die er in Pausen hervorzog unter dem Baumstamm, um zu lernen, ihm bei Mathematik geholfen; denn er war eigentlich Lehrer. Kaum einer hat damals gemacht, was er gelernt hatte. Das ist, wenn auch aus anderen Gründen, ein wenig wie heutzutage gewesen. Alle Mädchen im Dorf sind hinter ihm her gewesen, Norbert mit den Belladonna-Augen unter buschigen Brauen, lackschwarz wie die Locken, sie haben ihn Norberto genannt und gefragt, ob seine Eltern aus Italien kämen. Die waren dagegen, meine waren dagegen, dass wir miteinander gingen. Bei den Schularbeiten hab ich ihm geholfen, aber er hat mir das Nachdenken beigebracht.

Wir haben uns verloren und wiedergefunden im Studium in Leipzig und Berlin und es immer wieder geschafft, uns zu treffen. Niemals aus den Augen verloren. Alle sind gegen uns gewesen. Seine Mutter hat vor ihm gekniet und gebeten:"Lass die Deitsche, die sind alle beese, bringen Unklick! Waißt doch, was die Nazis deinen Tanten angetan haben, und haben deinen Onkel ermordet." Meine akademischen Eltern haben wie so viele ihrer Landsleute ihre slawische und jüdische Herkunft verdrängt; ihnen ist der "polnische Bauernbengel" nicht fein genug für ihre "eenzsche Prinzessin" gewesen. Wenn die wüssten. Arbeiter- und Bauernstaat hin und her, Vorurteile, die in Generationen gewachsen waren, sind auf amtliche Verordnung nicht wirklich gewichen. Und 'die Politik' war auch gegen unsere Verbindung. Wir wurden absichtlich nicht in gleichen Betrieben angestellt. Haben als Studenten geheiratet, wurden von Berlin nach Leipzig dirigiert, haben zuletzt doch durch List und Geschick und auch Glück die Plagwitzer Altbauwohnung bekommen, in der ich bis zuletzt wohnte. Die Tapeten haben von den Wänden in Fetzen gehangen, das Salpetersalz hat grünlich in den Ecken gefunkelt. Mit Holz und blakenden Braunkohlebriketts habe ich morgens um fünf eingeheizt, alles vier Stock hochgeschleppt aus dem Rattenkeller, falls es was zu kaufen gab. Mit den kleinen Kindern allein, ich machte alles gleichzeitig, von wegen goldenen Zeiten für Mütter dank DDR-Kinderkrippe, das war die spätere Generation.

Eines wird Katharina allmählich klar, hier, zum ersten mal, im "Land, wo die Zitronen blühen": Goethes Italien als Verheißung und der dunkle Typ Mann haben sich wie rote Fäden durch ihr Leben gesponnen. Ob sie mit ihrer Rache gegen Piero voreilig ist? Es wachsen die Zweifel. Als ob sie aus den Feldern der Lagunengegend kriechen. Das monotone Fahren scheint die Erinnerungen herauf zu rütteln und die Vergleiche zusammen zu schütteln. Leipzig contra Venedig. Mittendrin Frankfurt. Schon wieder ein grünüberwucherter Canale zwischen Kürbisfeldern in NieseIregen. Zu Land und zu Wasser schippern die Gedanken hin und her. Imaginär fließen die Flüsse zusammen: Pleiße. Main. Tagliamento.

Im regen Austausch der Städte Frankfurt am Main und Leipzig an derPleiße waren manche in ihrer Familie zu Urgroßvaters Zeiten hin- und hergezogen, der eine als Architekt, und der andere hatte in einer der berühmten Werkstätten in der Bücherstadt Leipzig die Meisterprüfung gemacht und war als Drucker bei der Frankfurter Sozietätsdruckerei angestellt worden. Im Hinterhaus wurden Kästen mit Bleibuchstaben, handgeschöpftes französisches Bütten und sonderbar makabre Lithografien gefunden. Eine Liebesszene hat den Findern Schauder über den Rücken gejagt: Rührend zart, aber warum hatte abwechselnd der Geliebte und die Geliebte einen Revolver in der linken Hand? Schimmelige Zeitungen und Bücher waren in Kisten und Schränken gestapelt; der Sohn soll sich während des Nationalsozialismus mit kleinen Druck-Aufträgen und Buchbinder-Arbeiten über Wasser gehalten haben.  Als ich unerwartet von der Frankfurter Erbschaft erfuhr, bin ich hingefahren. Nach Norberts Tod in der zerfallenden Altbaubude in Leipzigs Fabrikviertel Plagwitz allein, hatte ich sowieso nichts zu verlieren. Mit den erwachsenen Söhnen kaum noch Kontakt, meine Stelle bei der Stadt gleich 1990 verloren; als einer der ersten Institutionen war der Jugendclub geschlossen worden. Und jetzt erst überlege ich mir, mein Ererbtes in meinem erlernten Beruf für die neue Generation sinnvoll anzulegen. Wenn mir nicht der jüngste Nachwuchs einfiele, mein Sandro. Bambino geht vor. Ist das alles erst einmal geregelt, mein Sohn bei mir, dann sehen wir weiter.

Ich zog in Frankfurt gleich ein, die Tante war ja imitten viel zu vieler Jugendstilmöbel tot umgefallen. Viel Ärger gab es weiterhin: Unter mir lärmte die italienische Pizzeria und über mir die WG, wie die im Westen Wohngemeinschaften nennen; zum nächtlichen und täglichen Gestöhne aus manchen Zimmern kam das Durcheinander im Bad, der Krach in der Küche, der Streit um ständig leergefressene Kühlschränke, um Sonnenbaden im Garten, falls man das Karrée zwischen den vier Altbauhäusern rund um die schiefe Kastanie so nennen kann. Mülleimer die eine Wand lang, so dass es immer nach Küchenabfällen stinkt, vor allem die vom 'Italiener', 'Ristorante Piccolo'. Faulende Fischköpfe, Gemüseabfälle und Espresso-Reste durcheinander vergoren schnell und stanken sehr. Den stetig wechselnden jungen Männern aus Umbrien und Ascoli Piceno gefiel es, wenn sich die Studentinnen auf dem abgetretenen Gras so gut wie nackt sonnten, den Frauen ihre Stielaugen nicht, so gab es bisweilen Wortwechsel:  Gestank hüben wurde gegen Unzucht drüben aufgerechnet, bisschen Schmutz, dreckige Wäsche gewaschen, auch leicht vergessen. Drei Tage lang wurden Mülldeckel geschlossen, Mädels mit Handtüchern abgedeckt. Dann ging das Gezänk von Neuem los. Frankfurter Nachbarn sind meist tolerant, es ist zwar wie Leipzig eher ein Großstädtchen als eine Metropole, mit seiner reichlichen halben Million, aber seit eh und je Vielvölkerstadt, "multikulti" sagen die Besucher in ihrer Uniformsprache, die sich mit Hallöchen grüßen und fortwährend links und rechts küssen. Beide Parteien petzten, ich musste als neue Hausbesitzerin vermitteln. Was tun. Ganz gern. So hab ich Piero immer öfter gesehen. Mit ihm bin ich auch einmal nach Leipzig gefahren, weil er unbedingt wollte. Vernarrt, wie ich war, hab ich das für ein gutes Zeichen gehalten, dass er es vielleicht doch ernst mit mir meine. Meine Heimat - deine Heimat. Fotos von meinem Mann hat er sehen wollen, schwarz-weiße Foto­grafien: den unscheinbaren kleinen Gelehrten in Grau erkenne ich selbst in dem jungen Waldarbeiterbub kaum wieder: dunkel von Haut und Haar, sah er einem anziehenden Italiener ähn­lich, von Haus aus Pole, und während der Polenferien per Zelt hat er sich fließend verständigen können. Eine kompli­zierte Geschichte, wieder hab ich mich weit zurück erinnert: mit vielen Dorfmädels war er gegangen, später hat diese Schülerliebe Unterbrechungen erlebt, keiner durfte das in der DDR wissen, gegen die Funktionäre sind katholische Nonnen ja tolerant in Liebesdingen. Das ist mir zu den alten Fotos eingefallen. Piero hat aufgeregt mit Händen und Füßen geredet, wie sein Bruder und Onkel und wer weiß wer in seiner Familie sehe mio Marito muerto aus. Aha, dieser dunkle Mann, sei er nun slawisch oder romanisch oder wer weiß was, ist eben 'mein Typ'.

Symbolisch für die Reise sind Anfang und Ende gewesen: Leipzigs Bahnhof ist da eine Baustelle, Blick von Geleisen in tiefe Löcher, auf von Gerüsten und grünen Plastiknetzen ummantelte Fronten. Fahrgäste warten im einzigen Café, Eisdiele Ginelli, die zwei Tische kippeln auf hochgeworfener bebender Erde, brüchiges Linoleum wippt direkt auf dem Lehmberg; bei den Bauarbeiten verändere sich das ständig, sagt die Kellnerin. Piero quatscht sie auf Italienisch an, sie antwortet sächsisch, ich mische mich ein. Der schmutzige Vorhang teilt sich und ein dunkler Mann schiebt sich durch, der gestikulierend italienisch auf Piero einredet, bis die beiden am Ende Visitenkarten austauschen. Dass ich damals schon jedes Wort verstanden habe, konnten sie beide nicht wissen. "Unsere Straßenbahn fährt", hab ich Piero hinausgedrängt, als mir das Gerede bedrohlich vorkam. Um meinen harmlosen Bäckersmann in Schutz zu nehmen, die Welt unserer Zuneigung ist da noch in Ordnung gewesen. Zweimal umsteigen, von der alten Rumpel-Straßenbahn runter klettern und hinein in eine, die wie die in Frankfurt nagelneu ist, zum Einsteigen bequem über dem Bahnsteig.

Durch Leipzig kreuz und quer wollte er fahren, bis heran an den aufgeforsteten Braunkohlenrand, Espenhain wollte er schon lange sehen, immer wenn etwas im Fernsehen darüber kam. Dann bewundert er die Hardt aus Pappeln und Gras, den neuen Gospudener See, der das Grundwasser ist, das langsam in die aufgegebene Braunkohlegrube steigt. "Nur von Weitem Mondkraterlandschaft ist das Tagebaugebiet", sagt Piero entzückt, "nahe betrachtet, guck doch nur, überall Blüten und Büsche, wie oben in Umbria, sehen wirst du." Hoffentlich, sein Vergleich ist ein gutes Omen. Wir gehen durch Zöbigker, die Kirche ist eine Ruine, hinter Mauern finden wir Reliefköpfe, denen die ätzende Luft sie Nasen weggenagt hat. Das Schloss ist gespalten, unterhöhlt ist das ganze Terrain. Küssen auf dem Vulkan nicht gerade, aber Liebe über dem Abgrund, den Doppelsinn hat er gewiss nicht gemeint. Erotisch ist es gewesen wie nie, ein bisschen makaber wie diese Lithografien im Hinterhaus sind. Aber im Nachhinein interpretiert man manches hinein. Das ganze Leipzig muss  es sein, wir fahren in die Stadt hinein, mal mit neuer, ruhiggleitender, mit tiefen Glastüren, mal mit alter, ruckelnder Straßenbahn durch die Straßen, aber immer zwischen den hohen alten Häusern her, ich gucke, den Kopf gereckt, an Markkleeberger, Connewitzer, Leipziger Gründerjahr-, Jugendstil- und noch älteren Stadthausgiebeln vorbei, manche mit Stuck, manche mit leeren hellen Flächen, wo mal ein Schnörkel war, meist halb da und halb fort. Piero schaudert: wem das wohl alles auf den Kopf gefallen sein mag. "Du sei ruhig", hab ich mein Leipzig verteidigt: "Wenn es in eurem Calabrien steht, ist das Alte kunsthistorisch wertvoll, das Zerfallende idyllisch." -  "Si, sie, bello, bella Leipzisch", hat er mich beruhigt.

Und wie ich jetzt durch Venedig ging, so ist er durch die Mädler-Passage, um und in die Thomaskirche, das Alte und Neue Rathaus spaziert. Den Kopf hocherhoben, hat er immerzu bewundernd gelächelt: "Wie in Roma, wie in Firenze". Schönere Komplimente kann er nicht machen, das ist mir klar; ohne dass er es je sagte, ohne dass er es recht wusste, hab ich gemerkt, dass er manchmal heimwehkrank war. Madre Italia. "Come Perugia! Bellissima Leipzisch!" Ach, wie liebevoll ist Piero. Wir sind als Touristen durch Leipzig gelaufen, die kann man schon von hinten an ihren Kopfbewegungen erkennen: sie gucken mal rauf und mal geradeaus, mal rechts und mal links. Oben die Mauern, mal pastellneu, mal altersgrau, unten bunt bunt bunt alle Läden und Shops und Bistros, viel wird gebaut, manches ist fertig, der Augustus-Platz ist ein gähnender Krater, für die Tiefgarage. Wir gehen drum herum, hier und am Rathaus wurden Archäologen fündig, meine Türme sah ich und sehe ich von Weitem, Weisheitszahn der Universität, damals haben wir vom Studenten-Café im obersten Stockwerk weit über Leipzig geguckt, darunter arbeiteten Norbert und die 'Kuwis', die Kulturwissenschaftler. Da schlägt der steinerne Mann wieder mit dem Hammer an die Glocke vom Hochhaus, dem der Weisheitszahn den Höhenschneid abgekauft hat, wie die Studenten spotteten.

"Zeig mir dein Haus", drängt Piero. In Plagwitz ist mehr kaputt und unberührt seit 1990 als anderswo. Wenige Häuser sind farbige Inseln im vertrauten Grau, viele sind eingerüstet, wir laufen unter Bauarbeiten im dröhnenden Lärm und schnell, in der Hoffnung, gerade diese Minute falle uns nichts auf das Hirn, wir stehen im Staub, der durch die Ritzen der Trümmerrutschen aufwirbelt. Als wir wieder sehen können, lesen wir Firmenschilder aus allen möglichen westlichen Städten, die sind die Igel all hier, samt einem Architekten aus Köln, bei dem mein ältester Sohn anfangen wird. Neu sind Türschlösser auch dort, wo außer der brettergefestigten Tür nichts mehr heile aussieht, viele Häuser scheinen teilweise leer, in Hinterhöfen lagern Möbel ein, alte und neue. Er bewundert Balkongärten voller Blütenranken zwischen baufälligen Mietskasernen, ein Durchhaus zieht Blicke und Schritte in einen grasigen Hinterhof, in der Ecke inseriert ein Bräunung-Studio, sonst alles verlassen, abgebrochen, Bretter und Steinberge. Angefangen, nicht zu ende geführt. Neue Schilder über alten Türen, wieder überklebt, viele Besitz-'Generationen' seit 1990. Schildchen- wechsel- dich von Firma zu Pleite, der eine hat einen alten Lastwagen, der andere ein Doppelbett auf dem Grundstück hinterlassen, das lagert nun alles zwischen ganz- und halbrenovierten und zerschlissenen Bauten.

Über eine Brücke gehen wir, drunten wird eine Seite mit Platten belegt, die Böschung ist frisch eingesät, das sollen Spazier- und Radwege werden. Vom anderen Ufer hängen Baumzweige über grünliches Wasser. Noch immer sind die Eckhäuser grau, und nur hellere Stellen markieren ehemalige Ornamente, Engelsköpfe und Jugendstilschlieren. Geteilt wird die graue Zeile durch einen Bau aus Glas und blauem Stahl, darüber steht das Schild 'Möbelfabrik' und drinnen neue Möbel. Dann eine große freie frisch geräumte Fläche, in der Ecke bauen noch drei Männer den Rest ihrer eigenen Fabrik ab, wie sie Piero sächsisch erklären. "ABM - das heeßt 'Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme'- nächsten Monat isses ooch aus. Unsern eegnen Betrieb machen wir platt, sind dreie von sechshundert, die hier ihr Läben lang georbeedet habn."

Piero legt den Arm um mich. Lange ist er still und ernsthaft. Zum erstenmal höre ich etwas Nachdenkliches aus seinem Mund. "Warum hatten es meine Verwandten damals als Gastarbeiter in Alemania besser?" Dann sind wir da. Wir schauen in meine leere verlassene Wohnung, fragen im Treppenhaus in helle und dunkle Gesichter hinein und erhalten freundliche Antworten in mehreren Sprachen. Piero fragt italienisch und englisch, ich polnisch und deutsch. Irgendwie verstehen sich alle. Wem das Haus jetzt gehöre und was daraus würde, keiner weiß es wirklich. Piero zieht mich die Treppe hinauf, bis es zu baufällig wird. Sagt nichts, umarmt mich, das halte das für seine Art zu trösten. Als ich endlich seine erotische Absicht bemerke, gebe ich dem losen Mauerstein einen Stoß mit dem Fuß: wenn du unbedingt willst. Dein letztes Mal könnte es sein. Wir rennen zur Straßenbahn, die stadteinwärts fährt, darin reden drei alte Männer sächsisch, Piero findet es "bella - come musica. Un poco come italiano." Sie halten die neuesten Zeitungen vor sich mit den Berichten über Frankfurts Pläne vom unterirdischen 'Rail-Port'. Sie streiten um den Vergleich der Bahnhöfe Leipzig - Frankfurt. "Weil unsrer greeßer ist, und die Wessis in Frankford immer die Hauptsache sein missen, baun se ihren Boahnhof unterirdsch." "Also vergleichen auch die Leipziger". Sagt der italienische Piero. "Frankfurt und Leipzig sind zwei Geschwister, die in der Kindheit getrennt worden sind. Und Leipzig ist von den ärmeren Eltern adoptiert worden. Wiedergefunden, teilen sie sich Armut und Reichtum."  

Da liebte ich Piero am meisten. Wieder eine neue Seite an ihm, seelische Wunden kann er merken und schließen. Im ICE zwischen Leipzig nach Frankfurt, ungefähr auf der Höhe von Erfurt, hab ich in die katholische Taufe unseres Kindes eingewilligt. Wieder in Frankfurt, haben wir Conte Raimondo im Friaul gebeten, Pate zu werden. Fälschlich habe ich daraus geschlossen, dass alles seine Ordnung haben werde mit unserer jungen Familie. Meinen erwachsenen Söhnen in Leipzig habe ich nicht einmal von ihrem Halbbruder Sandro erzählt; nur zufällig hatte ich meinen Ältesten am Augustusplatz vor dem 'Schwarzen Marx' auf dem Wege in den "Weisheitszahn" zu seiner Vorlesung über Hegels Ästhetik getroffen und Piero als meinen Mieter vorgestellt, was er schließlich auch ist. Ich glaube, dieser versponnene Philosophie-Dozent ist nicht einmal misstrauisch geworden, dass ich mit dem schönen Italiener was hätte, so sehr bin ich für ihn als Mutter jenseits von Gut und Böse und von jeder erotischen Regung.

Von hier an wird Erinnern gefährlich. Ein leichter Stoß rüttelt Katharina zurück aus Leipzig zwischen die venezianischen Lagunen. Hup nicht so blöd, du hängst mir ja fast auf der Stoßstange. Pass doch auf, du bist schuld. Findet der nicht, zeigt der ihr doch den Stinkefinger. Italiener mögen galant sein, auf der Autostrada sind sie es gar nicht.  NieseIregen oben, glitschige Straßen unten, die Landzunge runter fährt Katharina seit Porto Sabbiano und weiter durch langweiliges Lagunenflachland. Dunkel. Erschöpft. Schon zwanzig Uhr fünfzehn. Sie ist müde. An vielen rostigen und weißen Fischkuttern vorbei rettet sie sich in die Altstadt von Chioggia, ruckelt am Pier lang. Das finstre Eckhaus ist das Albergo Giovanna, sie fragt nach Alfredo Boretti. Der dürre Greis erstarrt, seine altersfleckige Haut zittert über den feinen Knochen, er fasst sich und nimmt einen roten Knauf mit zwei Schlüsseln. Viertes Stockwerk, letztes freies Zimmer, keine Dusche, Klo unten am Gang. Aber draußen vom Hotelbalkon aus sieht sie den Himmel, Schiffe schaukeln, Regen schlägt ihr entgegen, Lichter spiegeln sich im Wasser. Im Morgengrauen weckt sie der Sturm. Tagsüber geht sie allein durch die Gassen dieser kleinen volkstümlichen Schwester Venezias, immer neben den Lagunen läuft sie entlang. Weiße reinliche und rostige Fischkutter fahren aus und ein, liegen meist fest, hier und da hämmern einige Männer, selten laden sie ein paar Fische aus, ein fetter Mann lehnt rauchend über die rostigste Reling, sein Mopsgesicht mit den schwarzen Haaren ist wie ein Bruder des Alfredo, doch warum sieht der Seemann gutmütig aus und Alfredo brutal? Hier und da kehrt sie ein und trinkt einen Espresso, einzige Frau unter vielen Männern in Arbeitskleidung. Die mustern sie von oben bis unten, einer in schmalen Krokodils-Lederschuhen zum Lacoste-Hemd zeit auf ihre hellen Beine. "Bianco bello, bella Tedesca, no Vacanze?" Nein, die Ferienreise hat erst begonnen. Wenn der wüsste, was das für Mörderferien sind.

Fällt in bleiernen Schlaf. Der geht über in einen Alptraum, ein bulliger Kerl zwingt sie, überall haarige Haut, Fleisch und Gestank. Als sie wach wird, sind Schweregefühl und Gestöhn immer noch da, hängt der Miesling keuchend über ihr, zu einer Gegenwehr ist es zu spät. "Partner", lacht er erschöpft und rollt runter, "Partner nicht nur in Geschäften". Narkose mit Horrorvisionen, vierzig Jahre lang immer der gleiche Alptraum vom schwarzen Lederkerl - seit dem Überfall an der Grenze, Mutter jung, Katharina klein, da kann sie nicht einmal schreien, kann nicht, will, kein Ton kommt aus dem offenen Mund, bis zum Hals aufgeklappt, geschwollen. Erstarrt. Endlich ist Bewegen möglich. Alles tut weh. Heiser. "Nein."-  "Wohl moralisch, eh? Was meinst du, cara Tedesca, wie moralisch deine Mordwünsche sind? Damit bist du eine von uns, oder was?"

Sie richtet sich auf, wird immer wacher. Er will verhandeln. Eine Pakt schließen. Fragt sie aus wie ein Richter. Betäubt, antwortet sie monoton, bis sie merkt, der weiß sowieso alles. "Okay? Also dein Kind ist weg, mein Patensohn. Sei froh, dass du ihn los bist ." Katharina schüttelt den Kopf. "Gut, wir besorgen ihn dir. Piero, der Vater, ist vermutlich zur Zeit in Perugia, sie alle sind dort, beim Prozess. Okay, ich hol dir dein Bambino zurück. Jetzt, seit die Francettis, diese Verräter, unsere Feinde sind. Sonst niemals. Dein Glück. Gegen Cash. Hunderttausend. Haste die da?" -  "Vom Beruf verstehste nix. Dann auf Cashkonto via Francoforto-Milano. Deine Anzahlung in Naturalien war gut. Unn nun biste du mia marita, zur Tarnung,  capisci? Da dein Pass. Wir müssen hin zuerst, nach Perugia. Wo hastu dein Auto?" -

Sie nach unten. "Nicht mit deinem Auto, auch nicht mit meinem, das bleibt in der Garage, im grünen Schuppen gegenüber. Mit Eisenbahn, nicht vergessen, du bist meine Frau und parierst." Jetzt erst hebt Katharina den Pass und schaut drauf. "Schwarze Haare, fünfundzwanzig, das glaubt doch keiner." - "Wer achtet schon drauf. Trotzdem, mal sehen." Alfredo wühlt unter den Achseln des kanariengelben Sacco, ein Schulterhalfter wie bei Männern im Krimi wird sichtbar, die haarige Hand zieht er mit drei anderen Pässen zurück. "Da, der ist besser." - "Wie viele Gattinnen hast du denn immer bei dir?" Katharina kann lachen, gute Miene zum bösen Spiel, auf was habe ich mich da eingelassen. Auf wen?  Bin auf Mord aus wie er.

Warum musste der damit anfangen, gerade hatte sie so angenehm alles vergessen und sich wirklich als Ferienreisende gefühlt. Spielverderber. Sie zahlt und rennt raus, der Regen hat aufgehört, sie läuft immer weiter bis dicht an das Meer, die Anlegestelle vom Vaporetto nach Venedig, klappert mit den Murano-Glasketten an den Buden. Sie trödelt herum, hoch auf die halbrunde Marmorbrücke, die einzige hier mit Reliefs, die Rialtobrücke von Chioggia sozusagen, der weiße Stein des Geländers zum Meer hin glänzt vom Griff vieler Hände. Sie schlendert wahllos und entspannt zwischen den Schiffen und den Läden für den Fischfang, in einem Schaufenster hängen Holztafeln voller Seemannsmotive und geschnitzte Seenixen als Gallionsfiguren, auf dem Vertiko schläft eine fette weiße Katze. Eine neue Welt für die Frau aus Leipzig, denkt Katharina und flüchtet vor dem Platzregen unter die Colonaden mit den Cafés, Schuhgeschäften und Modeläden, studiert lange Kostüme und noch länger Kinderkleider. Nicht sehen, den Gedanken entgehen.

Um die Barockkirche herum und hinein ins Halbdunkel mit dem Geruch aus Lilien und Wachs, lieber wieder raus an die frische Brise zwischen die Lagunen. Nicht frisch, es stinkt nach Kloake, am Seitenkanal wird gebaggert, ein Mann im schwarzen Tauchergummi mit Schnorchel taucht in die Kanalisation, in den grauen Abwasserschlamm, andere vermessen mit  Zollstöcken im Kanalschlick Höhe und Breite der Mauern, Leute stehen und glotzen, sie alle nehmen die seltene Gelegenheit wahr, der Stadt in die glitschigen Eingeweide zu schielen, Lagunenvoyeure. Wo der Froschmann am anderen Ende dort hinten unter den Häusern wohl rauskommt? Was wäre, wenn in diesem Haus gerade ihr Piero wohnen würde? Oder Sohn Sandro versteckt wäre? Der Froschmann könnte ihn greifen und holen, sie würde den Sohn hier aus seinen schwarzen Gummiarmen empfangen, Mamma Mamma, schluchzend würde sich das verängstigte Kerlchen an sie drücken, was macht es da, dass das weiße Kleid schlammgrau wird. Schlammige Träume, weiß Gott, Mamma mia. Weil es um die Mittagstunde wieder regnet, vertreibt sie sich die Zeit in einem Fischrestaurant. Zum hellen Verdiccio di Jesi nimmt sie Antipasta mista aus 'Zigale de Mare', das seien Meereszikaden, erklärt ihr der Kellner, "Specialita, Meeresspinner", sagt er, Meeresspinnen; sie isst das Häufchen feiner, fischiger Fasern aus einer rosa narbigen Schale, die sie am Ende für Sandro mitnimmt. "Ah, Signora, ricordo." Ein Andenken hat sie nicht nötig. Rundherum haben sich alle verschworen, geradezu ein Kindergarten scheint sich aufgemacht zu haben, sie zu quälen. Ein gezopftes Mädchen schaukelt auf der Absperrungskette zur Promenade, Mütter fahren ihre Bambini in Kinderwagen aus bunten Baumwollstoffen vorbei, nebenan muss ein schwarzer Lockenkopf artig mit Messer und Gabel essen und versucht, vom Stuhl zu rutschen, weg zu einem dünnen blonden Glatzkopfjungen, der machen darf, was er will, überall herumkriecht und dem Bernhardiner ins Sabbermaul fasst, danach die Hand ableckt. Die Zwillinge an den Händen eines jungen Paares sehen einmal wieder dem Sandro ähnlich. Nur ein bisschen. Wahrscheinlich bildet sie sich das Meiste ein. Katharina lässt den Rest des Geldes liegen und flüchtet ins Albergo.

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