Quanten, Dschihad, Sloterdijk
Frank Milautzcki hat einen langen Text über den Begriff "Raum" geschrieben, der unschuldig-phänomenologisch anfängt: Spiegelerlebnis, frühe Kindheit, mittelbar Unmittelbares. Ausser diesem Anfang umfasst er noch, je nach Leseweise, drei oder vier Abschnitte. Die sind lang, aber das ist in Ordnung, denn es muß vieles in ihnen Platz finden: Philologisches zum Raumbegriff bei Nietzsche; Vorüberlegungen zu einer neuen, (zumindest für Milautzcki) verbesserten Aufgabenverteilung zwischen Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Kunst; ein Versuch der Ehrenrettung Sloterdijks; AfD-Knallchargen; Flüchtlings- und andere Krisen; am Ende: eine Monadologie, die ohne das Wort "Monade" auskommt und sich statt dessen mit der "Blase" behilft, in der wir alle/s/ steck/t/en. Der Text ist hier ohnehin verlinkt, weshalb es keinen Grund gibt, ihn noch weiter zu paraphrasieren. Er ist lesenwert genug. Gegen ihn spricht allerdings zweierlei:
Erstens, daß der Verfasser die Erwartung zu vertreten scheint, es könnte die assoziative bzw. "literarische" Sprache von Nietzsche/Milautzcki/Sloterdijk (starring in order of appearance) irgendetwas zur Erkenntnis empirisch wissbarer Tatbestände (hier betreffend den Raum, die Zeit, das Ich et cetera) beitragen. Kann sie nicht. Von Quanten und Quarks, von dunkler Materie und Gravitation haben wir keine Ahnung - wobei mit "Wir" die meisten Personen ohne Physikstudium gemeint sind. Dass ich irgendwas assoziieren kann, wenn ich die sprachliche Annäherung an kompliztierte mathematische Notate höre oder lese, bedeutet nichts, ausser: Ich kann irgendwas assoziieren. Was zwar schön ist, aber nicht notwendig hilfreich. Sich "selber vorstellen" zu wollen, wie das mit der Raumzeit ist - so, wie das Milautzcki unter Punkt 2a seines Essays unternimmt - gleicht dem Versuch, die Kalkulationen zu Statik und Materialkosten eines zu bauenden Wolkenkratzers im Hinterkopf der jeweils Zuständigen zu belassen: *Möglich* ist vieles, aber wenn es auf irgendwas Wirkliches ankommt, wird die Überprüfbarkeit allzeit vorgezogen werden.
Gegen Milautzckius Text spricht zweitens, daß sein Verfasser in ihm über dieses Zitat Sloterdijks -
Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer Kultur, er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen Menschen, der sich für so gut und klarsichtig hält, daß er sich gern überall nachgeahmt sähe.
- folgendes sagt:
Eine Analyse, die bei falschem Lesen reichlich Empörungspotential hat, aber bei genauem Lesen und Nachdenken einen der Hauptgründe für das Entstehen bspw. des Dschihadismus benennt.
Ich kann mich an viele Beschimpfungen erinnern, denen Peter Sloterdijk ausgesetzt war und ist (auch unlängst wieder verortete man ihn plakativ als Argumentelieferer der AfD) - hauptsächlich von altlinksliberaler Seite, die nicht fähig ist, Denkurteile ohne Linientreue auszulegen und lieber in Denkblasen verbleibt, als sich auf unbekanntes Gebiet zu trauen.
Wenn nun das Sloterdijk-Zitat nur bei falschem Lesen Empörungspotenatial hat, dann muss jedenfalls festgehalten werden, dass uns Milautzcki die richtige Lesart in seinem Essay schuldig bleibt - auch nach seiner Lektüre finde ich mich ausserstande, jenen drei Zeilen etwas anderes zu entnehmen als "Scheiss Aufklärung! Zurück zur Herrschaft beliebig austauschbarer Schlagetots und Hexenmeister!" Milautzckis Behauptung, "bei genauem Lesen" würde hier ein Hauptgrund für das Entstehen "bspw." des Dschihadismus benannt, stimmt dann aber wieder ...
... Insofern nämlich Sloterdijks zitierte Wortmeldung bereits selber eine Stimme in jenem Chor auf allen Diskursebenen ist, der als Begleitgeräusch die weltweite Wiederkehr der anti-abstrakten, anti-historischen, anti-vernünftigen, von planlos-testosterongesteuerten jungen Männern getragenen Bewegungsfaschismen begleitet, zu der "bspw." der Dschihadismus wohl gehört.
Jener Chor verdankt sich dem Vorschein der Alternativlosigkeit des Kapitalismus; seiner falschen Identifizierbarkeit mit dem "Westen"; schließlich auch der Unwilligkeit des weltweit je zuständigen Personals, vernünftigerweise machbare Lösungen für einfache Sachprobleme zu implementieren, sobald dies mit der Anerkenntnis einhergehen würde, nicht das beste aller möglichen Personale in der besten aller möglichen Welten zu sein (was wiederum mit dem Ende des kalten Krieges zu tun hat: geht es doch, "mangels Alternativen", nicht mehr um die eigene Machtbasis der Funktionärskasten, sondern "nur" für irgendwelche Betroffenen um Leben und Tod) ...
Der Chor säuselt Mystisches, wo vordem Vernunft war; fordert "Gedankentiefe", wo doch schon Rechenergebnisse vorlagen; diskutiert "Traditionen", wo es bloß um Fragen des Lebensstandards gehen müsste.
Nennen wir ihn: Postmoderne.
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