Im Gespräch: Timo Brandt redet mit Bertram Reinecke
Du selbst hast mir gegenüber die Literatur deines Verlages einmal als „freakig“ beschrieben. Unter dem Dach von Reinecke & Voß sind viele experimentelle Lyriker*innen – u.a. der Anagramm-Dichter Titus Meyer oder auch Ulf Stolterfoht – versammelt und zahlreiche andere Sprachartisten, wie zum Beispiel der Schriftsteller Jürgen Buchmann mit seinen philologisch inspirierten Werken. War es dein Ehrgeiz einen Verlag aufzubauen, der in diese Richtungen thematisch spezialisiert ist? Welchen Stellenwert hat experimentelle Literatur für dich als Verleger, als Leser, als Autor?
Ich mag den Begriff der Obsession. Jemandem ist etwas wichtig und er möchte das mit mir teilen. Das Energische daran, etwas auch gegen gut gemeinten Einspruch nicht sein zu lassen. Adolf Endler berichtet in seinem „Tarzan“ von einer russischen Putzfrau, die sich den generösen Tipps über Reinigungsverfahren, die ihr ein Deutscher machte, mit den Worten: „Ich dumm, ich mach anders“ entzog. Diese Haltung ist auch mir nahe.
Der Gebrauch des Wortes experimentell ist für mich da höchst problematisch. Es ist ja eher zum Warnwort für „schwierig“ oder „ungenießbar“ verkommen, oder auch für „überambitioniert“ und „bloß theoretisch“, das Schreiben im Modus des Als-ob künstlicher Laborsituationen. Irgendwie scheint sich das Wort nicht von einem lauernden Doppelvorwurf freimachen zu können: Man wirft einem Text gleichzeitig vor, dass er den Kommunikationsprozess nicht abgesichert hat (man will nicht zugeben, dass man das eigentlich wünscht) und möchte zugleich kritisieren, dass er durch Distanziertheit oder Theorie zu abgesichert sei. Man möchte sich etwas vom Leibe halten.
Vor allem bleibt das Wort „experimentell“ aber notorisch im Reich der Behauptung, niemand, fürchte ich, kann experimentelle Gedichte von solchen sinnvoll unterscheiden, die es nicht sind.
Sind z.B. meine Montagen experimentell? Einerseits ja, weil es in dieser Form kaum jemand anders versucht. Andererseits weiß ich genau, wie ich meine Arbeitsweisen organisiere, damit es mich dann eventuell so und so weit trägt. Natürlich scheitert das oft, aber das passiert ja auch bei einem „normalen“ Text, das sehen wir ja eher als Merkmal von Kunst überhaupt, dass etwas auf nichtreproduzierbare Weise wider Erwarten gelingt.
Manchmal ahne ich natürlich, dass der konkrete Ansatz dieser Montage durch gewünschte Wortfelder oder durch die intrinsische Materialvorwahl eventuell sperriger, schwieriger wird, ich mich mehr treiben lassen muss, um irgendwie überhaupt etwas Greifbares zu erreichen. Wären dann einige meiner Montagen Experimente, andere hingegen nicht?
Wie ist es, wenn ich ein bestimmtes Material in einem Sonett darbieten möchte, auch das kann ja scheitern. Und ein Sonett wäre ja umso besser, desto weniger sich der Inhalt von der Form her bestimmt. Aber man spricht da einfach von einem gelungenen Sonett. Ist vielleicht jeder Text, der nicht von der Stange gearbeitet ist, der erst glücken muss, experimentell? Aber dann war für Heine die erste Liedstrophe, die glückte, experimentell, die anderen hingegen nicht?
Wenn man vom Produktionsaspekt (oder Unterstellungen darüber) ausgehend an das Problem nicht herankommt, vielleicht kommt man unter Bezug auf die Textform weiter? Sind Palindrome per se experimentell? Aber es gibt da doch ebenfalls interessantere und uninteressante, leicht Erreichbares und Schwieriges, wie bei jeder anderen Form auch. (Herzschmerzpalindrome „lese“-“Esel“ usw.) Ich fürchte, auch hier enthält das Wort experimentell schnell eine Unterstellung, die stärker damit zu tun hat, was man kennt und was nicht. Eine Unterstellung deshalb, weil man ja meint, mit dem Wort etwas beschrieben zu haben und sich nicht mit Wendungen wie „mir bisher unbekannt“, „ungewöhnlich“ „eigenartig“ bescheiden zu können.
Auch Experimente darauf zu beschränken, dass sie einer, expliziten oder impliziten, aber nennbaren Regel unterliegen, bringt nicht viel. Was hieße, im expliziten Fall, der Begriff experimentell anderes als „Konzeptkunst“? Im zweiten Fall muss man sich fragen, ob man vielleicht bei „freier“ Kunst, von wem auch immer, sei es Benn, Bukowski, Bachmann oder sonstwem, bereits genau genug hingeschaut hat, ob deren Kunst solchen Regularitäten nicht ebenfalls unterliegt. Man kleidet also vielleicht nur den Begriff „Masche“ in ein vergiftetes Kompliment?
Eine letzte, aber ohnehin kaum je in Betracht gezogene Möglichkeit, ist die, Texte experimentell zu nennen, bei denen der Autor ausprobieren möchte, was passiert, wenn er sie irgendwie schriftlich oder mündlich darbietet. Aber auf einer basalen Ebene ist es hier wie mit Heines Liedstrophen: Auf manches ist man mit mehr Erfahrung weniger neugierig. Ganz generell gilt hier noch viel stärker ein Problem der Quantenphysik, dass die Datenerhebung selbst auf die Messung zurückwirkt: Dadaistische Aktionen, soziale Plastiken etc. vertragen nicht gut Wiederholungen. Jemand der den Ruf hat, Experimente mit dem Publikum durchzuführen, ändert die Einstellungen seines Publikums, insofern er nicht gleich ein vollkommen anderes gewinnt. Zu sagen, jemand habe eine Reise mit unbekanntem Ziel angetreten, scheint mir hier treffender, als der leere Terminus Experiment.
Selbst, wer versucht, gegen diesen ganzen Wust aus Verdacht das Wort „experimentell“ queer als Ehrenbegriff zu verwenden, vertut sich leicht. Es sinkt leicht herab zu einem entkernten Hilfsbegriff zur Charakterisierung bestimmter sperrigerer Textoberflächen. Ist es experimentell, wenn man Nerval am Beginn des 21. Jahrhunderts aus dem Französischen gezielt in ein Deutsch der Zeit Nervals überträgt? Oder ist das eher klassizistisch? Bei einem Experiment, was aufgeht, übersieht man leicht den fragilen Charakter mutvoller Inangriffnahme, den dieser Begriff eigentlich auszeichnen soll. Es scheint mir monströs, den Begriff so zu verwenden, dass er ein (partielles) Scheitern des Experiments immer schon einschließt, indem man bei experimentellen Texten fortwährend irgendwie spröde, sperrige Texte erwartet.
Nein, ich wollte immer bloß interessante Literatur verlegen, solche, die irgendwas bietet, was man anderswo nicht geboten bekommt. Ich muss nicht jedes Jahr ein Programm füllen und kann warten, was mich trifft. Darüber hinaus verlege ich lieber Autoren, deren Besonderheit ich auch greifbar schildern kann. Außer eine Serviceanstalt, die Kosten vorschießt und hinterher Rechnungen schreibt, ist der lautstarke und konkrete Hinweis auf Werke ja mit das Einzige, was ich für meine Autoren tun kann. (Es wäre für beide Seiten unbefriedigend, wenn ich jemandem nur als Buchhalter helfen könnte, da gibt es Adressen, an die sollte derjenige sich dann besser wenden.)
Im Herbst erscheint bei Aphaia ein Band mit Sonetten von dir und Illustrationen von Monika Rinck. Sonette sind ja eine sehr klassische Form, die schon öfter unterwandert und/oder zerschlagen wurde (u.a. von Robert Gernhardt oder Konrad Prissnitz), wobei ich das Gefühl habe, dass es dich eher reizt diese Form tatsächlich auszuloten. Aber warum gerade Sonette?
Das Sonett ist eben eine Form die da ist und bereit liegt. Sie zu zerschlagen reizt mich nicht. Dazu müsste man irgendeinen Groll hegen. Das war denkbar, solange Dichter häufig öffentlich auf metrisch gereimte Formen verwiesen wurden. Gernhardt kann nur noch Späße machen.
Heute ausgerechnet diese Form angreifen hieße, ostentativ an den Restriktionen vorbei sehen, unter die Lyrik jetzt gern öffentlich gestellt wird. (Ähnliches tut die Diagnose „Heute ist alles möglich“, sie wird meist von denen geäußert, die dann darum Ringen, dass die Dichter doch bitte mehr etwas ganz Bestimmtes tun sollten, und dafür anderes abwerten.)
Zunächst hatte ich mir nur gewünscht, mal einen Band zu machen, in dem ich meine Arbeiten in klassischen Formen zusammenfasse. Dann fokussierte es sich aufs Sonett, weil von dieser Form am meisten da war. Keimzelle war ein Zyklus fünfhebiger Sonette, indem ich versuche, jedes Mal auf einem anderen Weg zu dieser Form zu gelangen, nun sind viele Texte hinzugetreten, aber das Anliegen, in jedem Sonett einen neuen Akzent für die eigene Herangehensweise zu setzen, blieb.
Das Sonett ist eine sehr robuste Form, die im Vergleich zu den wenigen anderen noch gängigen metrisch gereimten Formen relativ viel Freiraum bietet. Die Volksform unter den sogenannten strengen Formen. (Eigentlich kommen mir gute Liedstrophen viel restriktiver vor.)
Die Limits der Sonettform lassen sich relativ leicht sehen. Die Länge, der metrische Rahmen, es gibt interessante Wörter, die lassen sich in einen Jambus nicht fügen. Der Reimzwang gehört noch nicht einmal richtig hierher, denn das Unterlaufen der Reimform gehört noch zu den Dingen, die ein Sonett am leichtesten verträgt.
Der bedeutendste Unterschied zu freien Formen ist für mich, dass man etwas, was man in einer Zeile nicht unter bekommt, oft nicht einfach in die Folgezeile packen kann, weil das Material dann sofort einen neuen Sinn bekommt. Aber das ist natürlich auch die große Chance, dass sich dem Material ein neuer Sinn abgewinnt, (die passive Formulierung kommt mir hier treffender vor, obwohl auch ich in dem Prozess natürlich gewinne), der bei anderer Präsentation sich nicht so profilierte. (Und: Dass man diesen Prozess natürlich auch versuchen kann gezielt zu unterlaufen, man braucht da gar nicht ostentativ irgendetwas zu zerschlagen, wie es nach dem Urteil angesehener Anthologien offenbar immer noch oft als chik gilt.)
Insgesamt ist der Verdacht, dass bestimmte alte Formen bestimmte alte Inhalte nahelegen, zwar nie unbegründet, aber das Problem erweist sich als eines, mit dem man sehr gut umgehen kann.
Aber es ist merkwürdig, Du stellst die Frage im Sinne eines „warum ausgerechnet“. Eigentlich sollte sich die Frage schon mit „Warum nicht“ beantwortet haben?
Aber belassen wir das Sonett mal unter diesem ungerechtfertigten Druck der Rechtfertigungslast. Mainstream (oder soll man sagen die Tradition) wirkt heute oft auf diese Weise, dass eine Rechtfertigungslast umgekehrt wird. Seit den Avantgarden müssen sich die hergebrachten Formen rechtfertigen, früher musste man‘s für Reimverzicht. (Leider lernt man den Avantgarden nur das ab, was den Status quo begünstigt, man borgt, gegen deren Anspruch, bei den Avantgarden ausgerechnet dann das hartnäckige Fragen ab, wenn sich das Unübliche rechtfertigen muss.)
Aber gut: Ins Sonett passen Argumente, Häufungen fremder Begriffe, ja selbst ausgebaute Metaphern viel zwangloser als in die Gedichtmodelle, die heute von „qualitätsbewussten“ Kritikern und Anthologisten am liebsten hervorgehoben werden. (Wen diese Restriktionen des scheinbar freien „formlosen“ Gedichts näher interessieren, der mag sich meine Essays „Aggregate der Poesie“ 1 und 2 sowie „Weizenbaums Erschrecken oder das Konzept ‚Gegenwartsgedicht in Grundstellung‘“ näher ansehen.)
Um es weniger abstrakt am Beispiel zu machen. Im heute bevorzugten (angesehendsten?) Gedichttyp werden sich Startfragen wie die eines Hans Brinkmann, „Weiß der Hase wie der Hase läuft“, ebenso schlecht entwickeln wie Bildlogiken, wie Thomas Böhmes „Alle Welten stehen Kopf. / Auch kopfstehende Welten sind möglich. / Besonders in rollenden Köpfen / wechselt die Perspektive häufig.“ In ein Sonett wären sie recht zwanglos zu integrieren.
Und wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Monika Rinck?
Für Aphaias Mitlesebücher sind Illustrationen vorgeschrieben. Ich bin zwar kein besonderer Liebhaber des Konzepts ‚illustrierter Lyrikband‘, habe mich aber auf das Konzept eingelassen. Monika Rinck habe ich gefragt, weil ich ein Gegengewicht zu der gewissen Gravität des Sonetts suchte, sie ist ja eine profilierte Illustratorin ihrer eigenen Arbeiten. Sie war so nett zuzusagen. Vielleicht weil es ihr interessant vorkam, sich dann und wann auch mal von außen einer fremden Sache als Zeichnerin zu nähern? Jedenfalls wählte sie mit Tuschzeichnungen auch eine relativ klassische Arbeitsweise, ich hatte eher mit Kuli oder Fineliner gerechnet. Dennoch setzt ihre leichte Federführung einen interessanten Akzent und ermöglicht neue Blicke auf die Texte.
Was würdest du antworten, wenn man dir vorwerfen würde, nicht politisch genug in deiner Kunst zu sein?
Das kommt darauf an, wer danach fragt. Die kurze Antwort lautet, dass ich regelmäßig auch explizit Texte zum politischen Diskurs veröffentliche. In diesem Jahr z.B. in der Anthologien „Jahrbuch der Lyrik“, „Schlafende Hunde“, „Von Fluchten und Wiederfluchten“ und der Zeitschrift „Risse“.
Dennoch halte ich die Möglichkeiten des politischen Gedichts für begrenzt. Das hat sehr verschiedene, miteinander verzahnte Gründe. Leser haben sich angewöhnt, Texten stark zu misstrauen, die etwas wollen, etwa Schlüsse nahelegen oder zu Handlungen inspirieren sollen. Will man durch diesen Misstrauenspanzer hindurch, ist es oft geschickter, das Politische aus der Textoberfläche herauszuhalten, sodass dann ununterscheidbar wird, welcher Text noch politisch ist und welcher nicht, während das vielfach geforderte politische Gedicht immer dazu neigt, deckungsgleich mit dem wirkungslosen politischen Gedicht sein. Diese Sachlage hat auch damit zu tun, dass wir uns Gedichten heute meist in stiller, privater Lektüre nähern, man kann da leichter Distanz gewinnen als bei dem, was mündlich in einer Menschenansammlung geäußert wird. Aber da ist dem Gedicht die Praxis leider fast gänzlich abhandengekommen.
Aber nicht nur so erklärt sich das Phänomen, dass zwar viele Dichter äußerst politische Menschen sind, aber dennoch das politische Gedicht augenscheinlich so selten vorkommt, dass es immer wieder gefordert wird: Wie kommt ein politisches Gedicht zu Lesern? Man reicht es bei Zeitschriften oder Anthologien ein. Hier beginnt ein mehrfacher Marginalisierungsprozess. Zunächst: Der Redakteur wird ein politisches Gedicht nur dann drucken, wenn er dessen Aussage für wertvoll hält. Er wird also entweder eines wählen, was seiner Einstellung entspricht, oder er musste vorher durch das Gedicht zu einer neuen Einstellung gebracht werden. Die heute weithin herrschenden Maßstäbe für Qualität (man stellt sich ja ein gutes politisches Gedicht gern wie ein gutes Gedicht nur eben politischen Inhalts vor), begünstigen aber das Kristallisieren von Haltungen nicht unbedingt, sondern betonen das Schwebende. (Im Detail muss ich auf die vorher schon genannten Aufsätze verweisen.) So kommt es, dass viele Gedichte dann nur oberflächlich politisch sind. Zum Beispiel vertieft eine Anspielung auf Geschichte gern den philosophisch tiefen Eindruck eines Naturgedichts, indem der Sprecher auf Reste eines Grenzzauns, Nazibunkers etc. trifft. (Eine Art Sinnturbolader.)
In kaum einer besseren Lage gerät der Autor, wenn er versucht, durch weniger gängige Mittel mehr Politik einzuschleusen. Gerade dann schrumpft der Raum erneut, denn man kann sein Anliegen dann zwar leicht als ehrenwert hinstellen, den Text aber aus ästhetischen Maßstäben ablehnen. Das fällt mir stark auf: So selten nimmt jemand zu dem politischen Inhalt eines Gedichts Stellung! Missliebiges wird lieber klammheimlich wegen angeblich mangelnder Textqualität ausgegrenzt. „Man kann das ja machen, aber nicht so!“ Oder man argumentiert ad hominem: Möchte nicht der Lyriker mit dem großen Thema vor allem sich selbst Bedeutung verleihen? Usw.
Eigentlich erstaunlich vor diesem Hintergrund, wie politisch sich das diesjährige Jahrbuch der Lyrik gibt.
Dem Mainstream kann man sich dann am ehesten entziehen, wenn man in einem politisch orientierten Spezialmedium publiziert. Da wird man dann aber nur noch, sozusagen, Katholiken noch katholischer machen. Jenseits der spitzen Formulierung, ist das allerdings ein Anliegen, das mir immer ehrenwerter erscheint: Wir sollten uns mehr in unserer Verschiedenheit anerkennen und nicht so viel antizipieren, welche Meinung man sich öffentlich vielleicht leisten kann!
Ich verstehe jeden, der sich dieser Knochenmühle nicht aussetzen mag, denn Reputation ist für einen Lyriker ein wichtiges Gut, wenn er auf die ein oder andere Weise genug Lebenszeit für seine Arbeit freischaufeln möchte … zumal es auch an anderen Baustellen noch genug zu tun gibt: Bevor wir uns in die politische Auseinandersetzung stürzen, dezidiert Haltungen haben und Argumente vertreten, ist viel schon geschehen, wir haben Rahmen gesetzt, sehen im Fremden z.B. wahlweise eine Herausforderung, eine Ressource, eine Gefahr, ein Problem der eigenen epistemischen Integrität usw. Und so kann sich zeigen, dass ein Gedicht hier politisch wirkt, obwohl es von etwas ganz anderem handelt. (So zeigte die Anthologie „Schwarzbuch der Lyrik“ ein Gedicht von mir zwischen anderen gesellschaftlich interessierten und plötzlich schien mir seine politische Dimension durch den Kontext an die Oberfläche zu treten.) Solche Rahmen sind eher sensitiv für Interventionen, wie sie die Lyrik heute bieten kann. Und hier trifft das Gedicht vielleicht auf einen Menschen und nicht auf seinen Panzer.
Wie wichtig ist dir, dass etwas rezipiert wird, das du geschrieben hast?
Es gibt keine Privatsprache, weil Sprache ein soziales Medium ist, das selbst etwas so privatisiertes wie unser persönliches Erinnern prägt. Ich bin immer schon andere Menschen. (So würde sich im Altern eventuell das Wort „Rot“ verschieben, wir wissen aber, dass es im Zweifel klüger wäre zu sagen, meine Wahrnehmung von Rot mag sich im Altern langsam geändert haben, aber nicht „Rot ist heutzutage etwas anderes als früher“ Und selbst für ein solches Bewusstsein bräuchte es Mitmenschen.) Wie ich also meine Sprache als Mensch nur mit meinen Mitmenschen gemeinsam beherrschen kann, sie im Kontakt mit nahen oder fremden Menschen mir ständig neue Erfahrungen mit der Welt und mit meinen Erinnerungen gibt, könnte ich nicht sprachliche Artefakte machen, wenn nicht irgendjemand ansatzweise etwas davon mitkriegen würde, damit anstellte. Das heißt nicht, andere Leute begeistern müssen, sondern, dass da etwas passiert, eventuell ist Ärger oder Reibung intensiver als Bewunderung. (Uns ist ja im täglichen Leben devote Bewunderung auch eher peinlich.) Natürlich gibt es zentrale Bereiche meines dichterischen Begehrens, mit denen ich mich nur an Menschen wenden kann, die eine gewisse Erfahrung im Umgang mit ästhetischem Text haben, aber es ist mir auch immer wieder mal wichtig mich meiner Sprache auch in anderen Formen zu versichern. Ich habe z.B. auch gelegentlich Songtexte geschrieben. Nicht um einmal gemeinverständlich zu sein, sondern um meine Sprach-Welt in andere Situationen zu bekommen, andere Limits zu erleben. Rezeption klingt so abstrakt, und es geht nicht um große Zahlen. (auch wenn die natürlich erfreulich für die Eitelkeit sind und praktisch das Leben erleichtern, indem außerdem öffentliche Wertschätzung ja verkuppelt ist mit der Fähigkeit als Dichter Rechnungen zu bezahlen.) Ich meine hier vor allem: Wenn ich meiner Geliebten kein Liebesgedicht schreiben kann, sodass irgendetwas gemeinsam mit uns vorgeht, warum sollte ich dann Liebesgedichte schreiben?
Erst wenn auf diesem Boden man sich seines Sprechens versichert weiß, kann man es überhaupt versuchen, sich eventuell Celans Wort „Es gibt noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“ zu eigen zu machen. Es gehört aber viel Kraft dazu und selbst Paul Celan hat das nicht lange bewältigen können.
Inwieweit sind für dich die Elemente Gedichte und Erkenntnis miteinander verknüpft?
Man nimmt gern für literarische Texte in Anspruch, dass sie eine Art „höhere Erkenntnis“ verkörpern. Man kann sich des Gefühls ja kaum erwehren, dass es so etwas gäbe. Wenn man genauer hinschaut findet sich nichts, was man nicht ebenso als Übertölpelung bezeichnen könnte: Über Bilder gestiftete Zusammenhänge, nahgelegte (unwillkürlich gemachte) Übergänge zwischen zwei Tatsachen usw. also Dinge, die von Voreinstellungen, Ressentiments kaum zu unterscheiden sind. Weil einem das zu banal ist, sieht man sich frei davon. Anschließend, weil eben schon unser Alltag zu komplex ist und erst recht unser Anspruch, sich irgendwie in der Welt und der Kultur auszukennen, als dass man das ohne geistige Trampelpfade bewältigen könnte, holt man dann genau diese Vorprägungen als sogenannte und nun irgendwie sehr lauter scheinende „höhere Erkenntnis“ in die Kunst zurück. Sollten wir nicht ernster nehmen, dass wir ständig über unsere Urteile ringen, Menschen mit Interessengegensätzen sind, auch wenn wir uns dann gegenseitig seltener das Kompliment machen können, einmütig gemeinsam etwas von Kultur zu verstehen?
(Man könnte diese Bemerkung auch in Bezug auf Vokabulare, Tonfälle Syntagmen durchspielen, das würde aber noch abstrakter, so rede ich hier weiter exemplarisch über Bilder.)
Trotz dieser Skepsis halte ich Literatur für hilfreich beim Erkenntnisgewinn: Legt man eine neue Erkenntnis, eine neue Hinsicht der Beobachtung in einem Essay dar, fällt es denjenigen, die diese andersartige Sichtweise nicht teilen, erfahrungsgemäß leicht, sie als widersprüchlich zu brandmarken. Es scheint also so, dass neue Erkenntnisse oder Sichten, wenn sie einschneidend sind, zuerst als Kategorienfehler auftreten. Kategorien und Denkrahmen kann man mit Textverfahren modellhaft unterlaufen oder ausstellen.
Gleichzeitig glaube ich nicht - ich betone es lieber nochmal -, dass es ein Erkenntniswerkzeug wie ästhetisches Denken gibt, das der Kunst irgendwie ein Sonderreich der Erkenntnis sichert. Ich glaube eher, dass Bilder, nicht in einem weltabbildenden direkten Sinne, sondern auch Metaphern, Bilder des Sozialen usw. eine so tiefe Rolle in unserem Denken spielen, dass sie ebenso gut dafür verantwortlich sind, uns zu täuschen und konservativ am einmal „Begriffenen“ festhalten zu lassen. Und zwar in umso stärkerem Maße, wie wir uns ihnen überlassen. Abstraktes Denken halte ich auch in der Lyrik für wesentlich. Es wird nicht oft darüber geredet, denn normaler Weise lässt sich derjenige, der den höheren Erkenntnisgewinn ästhetischer Strategien bezweifelt, leicht als jemand verunglimpfen, der zu unsensibel ist, die höheren Obertöne der Literatur überhaupt wahrzunehmen. Man gerät also leicht in Teufels Küche. Der bräsige Glaube an Erkenntnis durch Literatur ist vielen Menschen wertvoll, da diese „Erkenntnisform“ auf annehmliche Weise und zügig Erträge verspricht, die ein Studium anderer Erkenntnisquellen nur langwierig und mit Mühe offeriert.
Ich bewundere den Literaturkritiker Gaston Bachelard, wie es ihm gelang, akribisch nachzuzeichnen, wie inadäquate Bilder physikalischer Vorgänge selbst großen Wissenschaftlern der Aufklärung wie Franklin und Descartes, in ihrem Theoriefortschritt beeinträchtigten. Franklin etwa stellte sich die Elektrizität, ebenso wie Descartes den Vorgang der Lösung, am Bilde des Schwammes vor. (Um hier nur ein Beispiel zu nennen.)
Ich glaube jedenfalls nicht mehr an einen Unterschied zwischen zweckhaft gelenkter, vielleicht aus Schablonen zusammengesetzter Sprache auf der einen Seite und künstlerischem Ausdruck auf der anderen. (Auch wenn dieser Unterschied selbst von ehrenwerten Theoretikern wie Barthes immer wieder stark gemacht wird.) Wenn ich mich in einer E-Mail mit jemandem auseinandersetze, verwerfe ich ebenso Schablonen der Formulierung, und wähle oft erst die -zigste Formulierung einer Sache als die adäquate, wie bei der künstlerischen Arbeit. (Allenfalls denke ich in der Kunst länger nach, denn ich belatscher je nach Auflagenhöhe mit meiner „Nachricht“ da vielleicht ein paar Hundert Leute.) Ebenso kennt man es ja, dass man sich in einer solchen Zweckmail mal eine Anmerkung, eine Spitze, mal eine schrullige Abschweifung oder einen nur einem selbst verständlichen Witz nicht ganz verkneifen mag, auch wenn man genau weiß, dass dies den eigenen Interessen nicht dient. (Und nicht einmal der vom Empfänger erwarteten Performanz eines ehrlichen Textes.)
Das eigene Schreiben greift stets auch über die eigenen Zwecke hinaus, intendiert zweckfreie Kunst ist im Gegenzug immer bestimmten Welthaltungen eher dienlich und anderen hinderlich. (Und nicht erst an Montagen sieht man ja, dass selbst vorgestanzte Sprache kein Gegensatz zur Kunst ist.) Man mag als Autor diese Stilisierung der Dichtung zum „höheren Schreiben“ als angenehm empfinden, Wertschätzung ist ja oft etwas, wovon es „auch etwas mehr sein darf“. Allerdings scheint mir dies Kompliment erstens nicht groß, weil es so pauschal ist, dass man den Einzelnen leicht davon wieder ausschließen kann und zweitens vergiftet, weil es im Gesamthorizont der erste Schritt dahin ist, die Kunst möglichst ruhig zu stellen und ihr Geschehen als das eines Sonderreiches folgenlos zu machen. Ich schreibe lieber ohne einen solchen Kunstanspruch, was mich nicht davon abhält, im Zweifel so artifiziell zu schreiben, dass dies von vielen als „zu experimentell“ oder „unnatürlich“ abgelehnt wird.
Soll Literatur über eine bessere Welt nachdenken oder soll sie der Welt den Spiegel vorhalten und von der Sachlage erzählen?
Ich glaube, man kann die Alternative unterlaufen, denn das Sprache oder Text vor allem Welt irgendwie abbildet oder in dieser Form der Inhalt das Wichtigste ist, ist ein Irrtum, in den man leicht gerät, wenn man philosophiert. Sprache ist zuerst ein Medium zu denken und zu handeln, ganz jenseits der Frage, was der Fall ist (Worum sich die Wissenschaft kümmert, in ihrer Spannung auf Wahrheit). Man sollte in seinen Texten eine gute Sprache verkörpern und dieses „gut“ hat durchaus auch eine ethische Dimension. Das um die Wahrheit ist nur eines der Spiele, dessen die Sprache fähig ist, ich fürchte ein viel abgeleiteteres als unsere ästhetischen Debatten nahelegen. Parmenides, der von der Philosophiegeschichte zum ersten Apologeten des uns bekannten Konzepts der Wahrheit stilisiert wird, (mit ihren Grundbedingungen Universalität, Interesselosigkeit, Tatsachenadäquatheit und Konsistenz, eben denselben die wir oftmals geneigt scheinen, auch an glückende Kunst heranzutragen) konnte sich selbst nicht darauf berufen, das seine Ideen wahr sind, sondern musste sie quasi als Religion stiften. Er hatte nicht mehr zu bieten als: „Folget mir nach und ihr werdet schon sehen.“ Und so glaube ich, dass die Beurteilung von Sachlagen und Spiegelverhältnissen immer schon einen Rahmen voraussetzt, den ein interessanter Text auch unterlaufen kann. Texte stehen in einem viel vermittelteren Verhältnis zum Abbildenden, „von etwas erzählen“-Klang, Integrität, Glaubwürdigkeit etc. spielen eine Rolle, diese Begriffe hier aufzählen heißt aber, so tun, als könne man eines jeweils vom anderen abgrenzen.
Diese Idee der guten Sprache soll nun, auch wenn die Spannung auf die Ethik hier mitintendiert ist, nicht behaupten, dass es so etwas wie einen moralischen Letztbegründungsdiskurs gibt oder geben sollte, es geht viel eher um Fragen auch des unwillkürlichen Stolzes, der unwillkürlichen Scham, unwillkürlicher Begeisterung und Empathie. Auch Gefühle sind natürlich keine Letztbegründungen, denn Begründungen sind immer Argumente und Gefühlsworte eben Rechtfertigungsbegriffe einer bestimmten Art. (Heute wird ja oft so getan, als wären Gefühle reine Naturtatsachen und sie hätten demzufolge immer Recht. Dabei sind sie ebenso erlernt und geprägt.)
Allgemeine Maßstäbe für Literatur schlagen sich mir also stets wieder aus der Hand und ich lande immer wieder dabei, dass ich letztlich (auch als Kritiker) nicht mehr sagen mag als: „Das interessiert mich (nicht) weil ...“ Ich bemerke dass Leute, die Maßstäbe aufrichten, sich gar ein sicheres Gespür für Qualität zuschreiben, immer wieder von einem verdünnten Literaturbegriff ausgehen. Diese Leute kommen mir utopielos (konservativ) vor, weil sie nicht einrechnen, wie anders wir in anderen Welten reden wollten. (Das ist eine Erfahrung, die sich auch in jeder Juryarbeit erneuert. Eine große Herausforderung, weil es um die eigenen Interessen in dem Fall ja allenfalls nur äußerst mittelbar geht.) Und in diesen anderen Welten leben andere ja vielleicht schon ohne dass wir es wissen.
Vielen Dank Timo und Bertram!//Julietta Fix
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