Kolumne

"Zwangsvorstellung: Da ich nichts vergessen darf!"

Gespräch mit Peter Kurzeck in Frankfurt am Main

MECHTHILD CURTIUS  Peter Kurzeck, dein Roman spielt auf dem Dorf, es wird Landschaft beschrieben, aber nicht, wie bei Stifter, seiten­weise nur Landschaft, sondern Menschen gehen dazwischen herum. Es scheint wieder Interesse an Dorf, Landschaft und Ländlichkeit, die in Verrufenheit geraten waren, zu geben; ob Annette von Droste-Hüls­hoff wieder gelesen wird oder ob Bücher schreibender Bäuerinnen hohe Auflagen erreichen. Du schreibst auf deine eigenwillige, von keinem übernommene Weise über diese Bereiche. Hast du eine Erklärung dafür?

PETER KURZECK  Ja, aber nur für mich. Für mich war's so, daß ich nach jahrelanger Abwesenheit von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gemerkt hab', wie sehr mir das in der Stadt fehlt, daß man alles, was um einen herum ist, sehr gut kennt, und zwar über lange Jahre hinweg. Ich bin 1946 als Dreijähriger in das Dorf meiner Kindheit ge­kommen und hab' dort gelebt bis zu meinem 34. Jahr. Das heißt, ich hab' eigentlich über ein halbes Menschenalter hinweg die Leute dort leben sehen und das Dorf als Lebensraum erfahren. Mir ist klargewor­den, daß in den fünfundzwanzig Jahren, um die es mir geht, vom Kriegsende bis etwa 1970, eigentlich ein ganzes Zeitalter stattfand in diesem Dorf, und daß das im Grunde nirgends bisher für meine Begriffe ausreichend beschrieben ist. Wie auch die Leute, die Dorfbewohner, mehr oder weniger nur aus der Ferne in unserer Literatur vorkommen. Denn ich weiß nur, daß ich das Buch geschrieben habe, weil ich zu dem Schluß gekommen bin, daß die Bauern, die Kleinbauern und Nebener­werbsbauern und Handwerker und Industriearbeiter im Dorf, außer mir keiner kennt, folglich ich darüber schreiben muß.

MC   Du hast in ihrer Mitte gelebt und siehst, daß Industriearbeiter und Landarbeiter in diesem Falle identisch sind, daß kaum einer von einem von beiden leben konnte und daß sie sich dafür entscheiden mußten, beides zu tun! - Jetzt zu deinem Beruf und deinen Arbeiten: Siehst du zwischen deinem Schreiben, deinem sehr genauen Beobach­ten und deinen »bürgerlichen« Berufen, um Geld zu verdienen - du hattest mehrere - eine Diskrepanz? Hat es Spannungen gegeben?

PK  Ja, eigentlich immer, vor allem deswegen, weil für mich diese Be­rufe von vornherein nur jeweils ein Notbehelf waren; ich war nie der Meinung, mich auf diese Art durchs Leben schlagen, durch' s Leben mogeln zu können, sondern ich wußte von Kind auf, daß ich schreiben wollte und habe auch immer geschrieben. Nur - und daran ist auch das Dorf mit schuld, denke ich -, erstens mußte ich mit vierzehn zu arbei­ten anfangen und zweitens: für mich bestand der Beruf eines Schrift­stellers eigentlich darin, daß man schreibt und besessen ist von seinem Thema und besessen von der Literatur. Daß es Verlage gibt, habe ich nur am Rande wahrgenommen. Ich wußte nichts über den Literatur­betrieb und wollte auch eigentlich gar nichts wissen. Das einzige, worum es mir ging, war wirklich Lesen und Schreiben.

MC  Du hast offensichtlich sehr viel gelesen; das ist ja die Art, wie wir uns unser Handwerk aneignen.

PK  Ich hab' mit fünf allein Lesen gelernt, dadurch, daß ich meiner älteren Schwester bei den Schularbeiten zugesehen habe, und von da an mein ganzes Leben täglich gelesen; Jahre und Jahre jeden Tag ein Buch mindestens, nachts in der Regel, weil ich tagsüber die Zeit zum Geld­verdienen gebraucht habe. Und ich hatte jahrelang Angst, eines Tages alle Bücher gelesen zu haben, eben weil ich in einem Dorf aufgewach­sen bin, in dem so gut wie niemand gelesen hat, in dem es zwar ein paar Bücher, auch eine kleine öffentliche Bücherei gab, die ich aber mit neun oder zehn ausgelesen hatte. Und erst mit elf, als ich zum erstenmal eine öffentliche Bibliothek in der Stadt gesehen habe, das Amerikahaus in Gießen in einer beschlagnahmten Villa, und gesehen habe, daß dort an den Wänden der Räume vom Fußboden bis zur Decke Bücher in Rega­len untergebracht waren - ich weiß noch sehr gut, wie tief ich damals aufgeatmet hab' und wie sicher ich wurde, daß die Bücher mein Leben lang reichen werden. Eigentlich ist das Lesen 'ne Sucht für mich, etwas, wogegen ich nichts tun kann.

MC  Das Lesen eine Sucht, das Schreiben Besessenheit und die cher Dinge, wie die Dinge auf dem Lande, und du hast bedauert, daß die Dinge in der Stadt fern seien und man nichts mit ihnen zu tun hätte?

PK  Man konnte in Dörfern damals überhaupt nur gut leben, wenn man sehr gut über seine Nachbarn Bescheid wußte. Ich bin mit drei oder vier mit den Bauern aufs Feld gefahren, ich habe jedes Kind ge­kannt in dem Dorf, jede Kuh, jede Ziege und hab' auch in jedem Haus gegessen. Aber die andere Welt, von der ich wußte, daß es sie gab und daß ich sie mein Leben lang würde suchen müssen, war die Welt der Wörter und Bücher.

MC  Wann hast du dann angefangen zu schreiben?

PK  Also spätestens mit sieben war ich mir sicher, daß ich Schriftsteller werden würde, so sicher, wie ich es jetzt auch bin; daß ich eigentlich Schriftsteller bin, nur noch bißchen älter werden mußte. Ich hab' dann auch davon meinen Freunden erzählt und immer wieder kleine Bücher geschrieben, die auch aussehen sollten wie gedruckt, gedruckte fertige Bücher. Am schönsten war es, wenn ich ein leeres Poesiealbum, entwe­der von meiner Schwester oder von einem Mädchen im Dorf bekam, bei dem nur die vorderen Seiten rausgetrennt waren und die übrigen leer, und ich dann ein Gesamtkunstwerk, eigentlich ein Buch mit Illustratio­nen, mit Seitenzahlen und allem übrigen gemacht habe. Möglichst hin­ten mit Titeln anderer Bücher von mir drin, als ob ich die schon ge­schrieben hätte.

MC  Wo sind die kleinen Bücher geblieben?

PK  Ja, das weiß ich nicht; die gibt' s nicht mehr. Jetzt denk' ich, daß ich ganz gern noch einmal eines davon sehen würde; es nicht unbedingt aufheben den Rest meines Lebens, aber schon nochmal in die Hand nehmen. Ich weiß noch, wie betrübt ich manchmal war, nie über die Seite 34 oder 35 rauszukommen ; jetzt hab' ich eher das umgekehrte Problem: meine Bücher werden immer zu dick!

MC  Ich möchte noch einmal zur Gegenwart zurückkommen: schreibst du jetzt jeden Tag?

PK  Eigentlich schon.

MC  Hast du einen bestimmten Zyklus?

 PK  Ich schreib' täglich.

MC  Zu bestimmten Stunden?

PK Ich fange gern morgens früh an.

MC  Wann ist das?

PK  Ja, in der Stadt nicht mehr so früh. Ich steh' gewöhnlich gegen sieben auf und fang' zwischen acht und neun an zu arbeiten; hab' aber gleichzeitig den Hang, bis in die Nacht 'rein zu schreiben. Das heißt, ich muß dann entweder nachmittags schlafen - wobei ich es über Monate hinweg fertigkriege, nur zehn Minuten zu schlafen oder vier oder fünf Minuten, und dann kann ich weiterarbeiten; es ist so ein Reinigungs­prozeß, der Kopf wird leer und kann noch mal angefüllt werden.

MC  Ein Wort zu deiner Arbeitsdisziplin: Arbeitest du, wenn du ein bestimmtes Thema hast, auch weiter, obwohl du keine Lust hast und es dir widerstrebt zu schreiben?

PK   Es widerstrebt mir eigentlich nie, aber der Anfang ist Tag für Tag nicht leicht. Ich hab' jetzt drei Jahre lang an diesem Buch gearbeitet, mehr als drei Jahre, fast vier, und ich konnte das ohne nennenswerte Nebenarbeiten tun, obwohl ich nicht vom Verkauf meiner Bücher lebe.

MC  Wie schreibst du denn zum erstenmal? Mit der Hand oder mit Schreibmaschine? Gibt es technische Hilfsmittel, Computer, Tonbänder usw.?

PK  Nein, nein, eine sehr gute Schreibmaschine ist schon ein großes Hilfsmittel - im Moment hab' ich 'ne geliehene -, eine elektrische Schreibmaschine bzw. 'ne Typenradschreibmaschine. Und die muß so gut funktionieren, daß man sie beim Schreiben als Hilfsmittel fast wie­der vergessen kann; sie darf einen nicht terrorisieren. Manchmal schreib' ich mit der Maschine und zwischendurch mit der Hand weiter, wobei ich nicht weiß, warum. Oft, weil ich zwischendurch in die Küche gehe; ich trink' unzählige kleine Tassen italienischen Kaffee, Espresso, vor allem, seit ich keinen Alkohol mehr trinke. Da merke ich aus Unge­duld, daß mir Sachen einfallen, die nicht verloren gehen dürfen, nehm' den Zettel aus der Maschine, schreib' drei Zeilen mit der Hand und später mit der Maschine weiter. Meine Manuskripte sehen oft wie Bilder aus, wie Landkarten, sehr wirr, aber so, daß man sie entziffern kann. Manch­mal schreib' ich einen Satz, schreib' ihn ab, und dann sind es anderthalb Sätze. Auf die Art kommen meine 400-Seiten-Bücher zustande, durch immerwährendes Abschreiben und Ergänzen.

MC Wie oft überarbeitest du? Ich kann mir vorstellen: sehr oft!

PK Ja, ja; das ist mir ein Teil des Werdens, dadurch, daß ich anfange, den ersten Satz abzuschreiben, so lange, bis die Seite voll ist, ganz abgesehen davon, daß ich laut lese, laut spreche beim Arbeiten, das ist mir eigentlich nach Jahren erst aufgegangen - meine Familie hat das früher toleriert. Erst, nachdem ich mich von meiner Familie getrennt hatte, ist es mir aufgegangen, daß ich mir angewöhnt hatte, die Sätze auf den Klang hin zu prüfen und solange daran herumzubiegen, bis ich nicht nur die für meine Begriffe richtige Version, sondern bis es genau den richtigen Klang hatte, wie man auch 'ne Münze auf ihre Echtheit prüft, indem man sie wogegen schlägt oder wirft.

MC  Nehmen wir den langen Roman >Kein Frühling< : Hast du da korri­giert oder das Ganze neu geschrieben?

PK   Ich hab' das Ganze immer wieder abgeschrieben. Aber das Ab­schreiben war ein Verbessern und Korrigieren.

MC   Es ist ein Bestandteil des schöpferischen Prozesses?

PK   Ja. Es wird ganz von selbst immer länger, auch wenn man streicht.

MC   Kannst du da irgendeinen Durchschnitt sagen: fünfmal, zehn­mal, zwanzigmal ?

PK   Der Durchschnitt ist, glaub' ich, zwischen acht- und vielleicht zwanzigmal. Wenn ich eine Seite öfter als zwanzigmal abschreiben muß, ergibt sich gewöhnlich ein anderer Hauptstrang.

MC   Wovon hängt es denn ab, daß du nicht bis zum Jüngsten Gericht weiterschreibst, sondern irgendwann aufhörst und dann ein Buch entsteht?

PK  Davon, daß ich merke, und zwar etappenweise: eine bessere Lö­sung läßt sich nicht mehr finden, oder sie ist mit einem solchen Auf­wand verbunden, daß es nicht gerechtfertigt ist.

MC Machst du auch Vorarbeiten quasi wissenschaftlicher Art, mit Zettelkästen, Entwürfen, Recherchen?

PK  Mit Recherchen gar nicht; dafür hab' ich mein Gedächtnis. Was ich tue, ist, daß ich mich immer wieder erinnere, daß ich mich nicht mit den erstbesten Einzelheiten der Erinnerung zufriedengebe, son­dern sie mir solange ins Gedächtnis rufe, prüfe und von allen Seiten betrachte und an dem Kontext der Erinnerung zu messen suche, so daß ich oft in der Lage bin, für Jahre und Jahre zurück einen komplet­ten Kalender zu erstellen, für jeden einzelnen Tag nachträglich noch sagen zu können, was ich an diesem Tag getan habe. Und das ist für mich die Voraussetzung, mit dem Schreiben anzufangen.

MC  Benutzt du zum Schreiben sogenannte stimulierende Mittel: Rauchen, Wein, Tee, Kaffee, Drogen, womöglich Tabletten?

PK  Das hab' ich alles probiert und bin über Jahre hinweg zur Erfah­rung gekommen, daß ich mittlerweile ohne dieses Zeug am besten ar­beiten kann. Aber das hat für die ersten Jahre nicht gegolten; ich glaube, daß man solch ein freies Assoziieren und den Umgang mit den inneren Bildern erst lernen muß. Das lernt sich nur sehr sehr müh­selig. Ich hab's jahrelang mit Alkohol, mit Tabletten versucht, ich bin jahrelang Kettenraucher gewesen, ich hatte ständige Nikotin- und Alkoholvergiftungen, hab' auch oft auf lebensgefährliche Art mit Wachtabletten experimentiert. Ich denke inzwischen, ich brauch' nichts, als so weiterzuarbeiten und dabei uralt zu werden, um ein we­sentliches Werk zu schaffen.

MC  Du hast auch das schöne Wort von den inneren Bildern ge­braucht. Dadurch weiß ich ungefähr, wie du arbeitest. Ich versuche das zu vergleichen: es sei, als ob ein Film hinter den Augen herläuft, und man müsse ihn eigentlich nur gehorsam abschreiben.

PK  Man muß immer wieder sehen.

MC  Man hat ja vorher gesehen, und dieser Film läuft eines Tages aus der Erinnerung vor einem ab.

PK   Aber es sind gleichzeitig sehr viel mehr Möglichkeiten, als der Film sie hat: man kann Bilder nicht nur stehenlassen oder zurücklaufen lassen, man kann auch in sie hineingehen. Und das kann man beim Film ja nicht.

MC  Peter, gibt es bei dir Unterschiede zwischen der ersten Zeit des Schreibens und angewachsener Erfahrung, wenn du weitergeschrieben hast? Oder auch, insgesamt rückblickend: Was hat sich geändert, nachdem das erste Buch fertig gewesen und erschienen ist?

PK  Für mich hat sich geändert, daß ich danach viel ökonomischer ar­beiten konnte. Für mein erstes Buch hab' ich noch acht- oder neunhun­dert Seiten gebraucht, die ich dann nur mit einem Lektor kürzen konnte. Ich hab' außerdem kein Wort geschrieben, ohne Unmengen von Alkohol zu trinken.

MC  Wie ist bei dir das Verhältnis zwischen der verwendeten und der erdichteten Wirklichkeit? Thomas Mann hat diesen Satz gesagt vom »Recht des Dichters, die Wirklichkeit zu benutzen«.

PK  Das ist schon schwer zu trennen. Eigentlich ist es eine Qualitäts­frage bei mir, mehr nicht. Ich denke, wenn ein Text gut genug ist, ist es nicht mehr notwendig zu unterscheiden, ob es Fiktion oder Wahrheit oder was immer ist; dann rechtfertigt der Text sich durch seine starke Bildhaftigkeit und durch die Eindringlichkeit für den Leser. Statt wahr wird er dann wahrhaftig.

MC  Also Verdichten, denkst du, kann auch die Realität? Ohne zu transformieren, ohne in Erfindung hineinzuverwandeln ?

PK  Ich kann das einfach nicht trennen; das ist nicht die Frage, die mich bewegt, wenn ich an einem Text arbeite. Während ich daran ar­beite, geht es mir nur darum, ob er durch seine Qualität und den Klang überzeugend genug ist. Ich bin ganz sicher, daß die Wirklichkeit dabei nicht zu kurz kommt. Je höher der eigene Qualitätsmaßstab ist, um so mehr wird man rechtfertigen können, was man geschrieben hat.

MC   Du hast aber gesagt, du fändest den Text um so besser, je mehr du dich selbst daraus zurückzögest?

PK   Ja, je mehr ich von einer einfachen Autobiographie dabei ab­komme. Aber da ist auch die Frage, was man mit Sprache kann! Ich muß  'ne Menge lernen, um mir sagen zu können, das ist mein persön­lichstes Buch, obwohl ich selbst darin nur am Rande vorkomme.

MC   Ich denke, da der Prozeß der schöpferischen Arbeit  sehr schwierig zu erforschen ist, da er aber erforschbar ist. Ähnlich wie Träumen.  Was du gesagt hast, geht das unbewußt vor sich oder machst du das hochbewußt ? Ich meine die Verarbeitungs- und Verdichtungsprzesse.

PK  Ich denke, es ging ursprünglich unbewußt, weil ich von kindauf mit Schreiben beschäftigt war. Aber wenn man das so viele Jahre hin­weg macht, dann eignet man sich, wie bei jeder anderen Arbeit auch, eine Menge Handfertigkeiten an, die einem eine so schwere Arbeit wie das Schreiben erleichtern. Ich weiß, daß es einen Sinn hat, wenn ich jeden Tag zwei oder drei Stunden zu Fuß gehe, für mich jedenfalls. Ich brauche gar nicht den Vorsatz, um es zu tun, merke dann aber: ich komme nach Hause und kann sehr gut weiterarbeiten!

MC  Die Wissenschaftler haben einige Versuche gemacht, das alles zu systematisieren. Es sind Verkürzungen, die die Forscher variieren, und zwar haben sie vor allem vier Phasen des Schöpferischen festge­stellt, diese sind: 1. die Präparation oder Vorbereitung, 2. die Inkuba­tion, das Heranreifen, 3. die Inspiration, die »Erleuchtung«, 4. die Ve­rifikation, Überarbeitung und Kontrolle. Was könntest du zu jeder einzelnen Phase sagen? Gibt es zum Beispiel zu dem Roman >Kein Frühling< eine Vorbereitungsphase ?

PK  Ja, nur geht die eigentlich mein ganzes Leben hindurch. Ich bin mit drei in das Dorf gekommen, und die Empfänglichkeit, die ein drei­jähriges Kind hat, war bei mir dadurch gesteigert, daß wir vorher län­ger als ein Jahr unterwegs, auf der Flucht - in Lagern und mit Güter­zügen und zum Teil zu Fuß - mehr als fünfzehn Monate unterwegs waren, bevor wir dahin kamen, und daß ich den Verlust meiner ersten und, wie ich es empfand, meiner eigentlichen Heimat erlebt habe, und das hat mich für den Rest meines Lebens mit der Zwangsvorstellung versehen, daß ich nichts vergessen darf. Ich glaube, daß Schreiben, wenn es darum geht, ein Abbild der Welt zu schaffen, bedeutet, stell­vertretend für die Welt allgemein seine eigene Welt zu entwickeln.

MC Das ist für dich also ein sehr allmählicher Prozeß, der in der Kindheit angelegt worden ist, und du könntest die verschiedenen Sta­dien so gar nicht sehen? Als ein plötzliches Ein-Sehen, daß du sagst: Heureka - ich hab' es! - Hast du das auch erlebt?

PK  Ja, das auch, aber eher etappenweise, mehrfach innerhalb eines Buches bei bestimmten Themen, aber das gilt nicht für das Gesamt­werk; dafür weiß ich schon zu lange, daß ich schreiben will und schreiben muß; ich habe die Erfahrung, daß ich ohne Schreiben nicht leben kann.

MC Man hat ja vorher gesehen, und dieser Film läuft eines Tages aus der Erinnerung vor einem ab.

PK Aber es sind gleichzeitig sehr viel mehr Möglichkeiten, als der Film sie hat: man kann Bilder nicht nur stehenlassen oder zurücklaufen lassen, man kann auch in sie hineingehen. Und das kann man beim Film ja nicht.

MC Peter, gibt es bei dir Unterschiede zwischen der ersten Zeit des Schreibens und angewachsener Erfahrung, wenn du weitergeschrieben hast? Oder auch, insgesamt rückblickend: Was hat sich geändert, nachdem das erste Buch fertig gewesen und erschienen ist?

PK Für mich hat sich geändert, daß ich danach viel ökonomischer ar­beiten konnte. Für mein erstes Buch hab' ich noch acht- oder neunhun­dert Seiten gebraucht, die ich dann nur mit einem Lektor kürzen konnte. Ich hab' außerdem kein Wort geschrieben, ohne Unmengen von Alkohol zu trinken.

MC Wie ist bei dir das Verhältnis zwischen der verwendeten und der erdichteten Wirklichkeit? Thomas Mann hat diesen Satz gesagt vom »Recht des Dichters, die Wirklichkeit zu benutzen«.

PK Das ist schon schwer zu trennen. Eigentlich ist es eine Qualitäts­frage bei mir, mehr nicht. Ich denke, wenn ein Text gut genug ist, ist es nicht mehr notwendig zu unterscheiden, ob es Fiktion oder Wahrheit oder was immer ist; dann rechtfertigt der Text sich durch seine starke Bildhaftigkeit und durch die Eindringlichkeit für den Leser. Statt wahr wird er dann wahrhaftig.

MC Also Verdichten, denkst du, kann auch die Realität? Ohne zu transformieren, ohne in Erfindung hineinzuverwandeln ?

PK Ich kann das einfach nicht trennen; das ist nicht die Frage, die mich bewegt, wenn ich an einem Text arbeite. Während ich daran ar­beite, geht es mir nur darum, ob er durch seine Qualität und den Klang überzeugend genug ist. Ich bin ganz sicher, daß die Wirklichkeit dabei nicht zu kurz kommt. Je höher der eigene Qualitätsmaßstab ist, um so mehr wird man rechtfertigen können, was man geschrieben hat.

MC Du hast aber gesagt, du fändest den Text um so besser, je mehr du dich selbst daraus zurückzögest?

PK Ja, je mehr ich von einer einfachen Autobiographie dabei ab­komme. Aber da ist auch die Frage, was man mit Sprache kann! Ich muß 'ne Menge lernen, um mir sagen zu können, das ist mein persön­lichstes Buch, obwohl ich selbst darin nur am Rande vorkomme.

MC Ich denke, daß der Prozeß der schöpferischen Arbeit sehr schwie­rig zu erforschen ist, daß er aber erforschbar ist. Ähnlich wie Träumen.

Was du gesagt hast, geht das unbewußt vor sich oder machst du das hochbewußt ? Ich meine die Verarbeitungs- und Verdichtungspro­zesse.

PK Ich denke, es ging ursprünglich unbewußt, weil ich von kindauf mit Schreiben beschäftigt war. Aber wenn man das so viele Jahre hin­weg macht, dann eignet man sich, wie bei jeder anderen Arbeit auch, eine Menge Handfertigkeiten an, die einem eine so schwere Arbeit wie das Schreiben erleichtern. Ich weiß, daß es einen Sinn hat, wenn ich jeden Tag zwei oder drei Stunden zu Fuß gehe, für mich jedenfalls. Ich brauche gar nicht den Vorsatz, um es zu tun, merke dann aber: ich komme nach Hause und kann sehr gut weiterarbeiten!

MC Die Wissenschaftler haben einige Versuche gemacht, das alles zu systematisieren. Es sind Verkürzungen, die die Forscher variieren, und zwar haben sie vor allem vier Phasen des Schöpferischen festge­stellt, diese sind: 1. die Präparation oder Vorbereitung, 2. die Inkuba­tion, das Heranreifen, 3. die Inspiration, die »Erleuchtung«, 4. die Ve­rifikation, Überarbeitung und Kontrolle. Was könntest du zu jeder einzelnen Phase sagen? Gibt es zum Beispiel zu dem Roman >Kein Frühling< eine Vorbereitungsphase ?

PK Ja, nur geht die eigentlich mein ganzes Leben hindurch. Ich bin mit drei in das Dorf gekommen, und die Empfänglichkeit, die ein drei­jähriges Kind hat, war bei mir dadurch gesteigert, daß wir vorher län­ger als ein Jahr unterwegs, auf der Flucht - in Lagern und mit Güter­zügen und zum Teil zu Fuß - mehr als fünfzehn Monate unterwegs waren, bevor wir dahin kamen, und daß ich den Verlust meiner ersten und, wie ich es empfand, meiner eigentlichen Heimat erlebt habe, und das hat mich für den Rest meines Lebens mit der Zwangsvorstellung versehen, daß ich nichts vergessen darf. Ich glaube, daß Schreiben, wenn es darum geht, ein Abbild der Welt zu schaffen, bedeutet, stell­vertretend für die Welt allgemein seine eigene Welt zu entwickeln.

MC  Das ist für dich also ein sehr allmählicher Prozeß, der in der Kindheit angelegt worden ist, und du könntest die verschiedenen Sta­dien so gar nicht sehen? Als ein plötzliches Ein-Sehen, daß du sagst:  Heureka - ich hab' es! - Hast du das auch erlebt?

PK Ja, das auch, aber eher etappenweise, mehrfach innerhalb eines Buches bei bestimmten Themen, aber das gilt nicht für das Gesamt­werk; dafür weiß ich schon zu lange, daß ich schreiben will und schreiben muß; ich habe die Erfahrung, daß ich ohne Schreiben nicht leben kann.

MC  Und was kommt, wenn das Buch abgeschlossen ist?

PK  Ich hab' bei mir die Tendenz bemerkt, daß ich mich mit Arbeit versehen muß, ehe ich fertig bin. Ich sehe eigentlich nur noch ein Le­benswerk auf mich zukommen; ich hab' da nicht sehr viel Wahl.

MC  Du gehst also mit dir und deiner Arbeitsmöglichkeit und -fähig­keit sehr strategisch um, so daß du die »prä- und postkreativen De­pressionen«, wie es heißt, schlimme Einsamkeitsangst, versuchst zu vermeiden?

PK  Ja, ich versuche mir darüber klarzuwerden, daß ich nur eine be­stimmte Zeit habe zum Leben und schon innerhalb dieser Zeit mit einem Lebensplan, der sich mir aufgedrängt hat, als ich sechs oder sie­ben war, halbwegs zu Rande kommen muß.

MC  Lebensplan, Lebensentwurf : das Verhältnis Kunst und Leben, worüber manche immerfort nachgedacht haben: es gibt unterschied­liche Haltungen, die einen leben ganz still und bescheiden, die ande­ren um so wilder. Rilke hat einmal gesagt: »Ein Dichter muß alles erlebt haben«, und dann hat er wiederum gesagt: »Ein Dichter muß sein Leben zuwachsen lassen wie einen alten Weg.« Was stimmt?

PK  Beides stimmt natürlich. Ich glaube, daß ich alle Epochen in mei­nem Leben noch mal nachvollzogen habe. Ich hatte eine Zeit, ziemlich früh, wo ich Rimbaud auswendig kannte und natürlich versucht hab', mein Leben nach seinen Gedichten einzurichten. Das war sehr an­strengend, aber auch schön. Und ich hatte 'ne Zeit, wo ich die ameri­kanische Lyrik des 20. Jahrhunderts, dann die ganzen Beat-Poeten, den Ginsberg, den Kerouac, vorgezogen und versucht hab', jedes Wort von ihnen zu lesen. Ebenso gab es Zeiten, wo mir viel entlegenere Epochen näherstanden. Mittlerweile glaub' ich, daß ich mir leisten kann, ohne »Leben« auszukommen und in dieser Zeit ein sehr lebens­echtes, lebendiges Werk zustandezubringen.

Das Interview ist im Buch Autorengespräche, Seite 196, S.Fischer Frankfurt 1991 erschienen. Wir danken Mechthild Curtius und S. Fischer.

 

Mechthild Curtius über Peter Kurzeck

Den Kopf wie eine Eidechse schräggeneigt und zuvorderst, kommt er her­ auf, eine Hand greift in krausbraune Haarbüschel, bleibt dort während der ersten Sätze des Gesprächs, die besagen, besessen sei er davon, nichts ver­ gessen zu dürfen, Erinnerungskalender des eigenen langezeit ländlichen Lebens. Geboren ist er 1943 in Tachau im Böhmerwald, kriegsbedingt seit 1946 aufgewachsen in Staufenberg/Hessen, und wer vom 3. bis 34. Le­ bensjahr mit der Beobachtungsgabe und Sprachkraft Kurzecks in einem Dorf gelebt hat, verleiht den Wortkargen dort die eigene unverwechselbare Sprache.

Nach einigen Angestelltenberufen arbeitete Peter Kurzeck seit 1972 halb­ tags als Buchhändler. Er veröffentlichte bisher vier umfangreiche Romane, >Der Nußbaum gegenüber dem Laden in dem du dein Brot kaufst< (1979) ist die Geschichte von Umherstreunenden, die aus Not in einen Bankein­ bruch schlittern, >Das Schwarze Buch< (1982) der Roman vom Alkohol und der Rettung daraus; in beiden ist der Suff- Tiraden- Ton als Kunstmittel eingesetzt, so daß sie »Kultbücher« wurden. Kurzeck war der erste Fa­ brikschreiber der Romanfabrik Frankfurt 1985/86 und Literaturstipendiat im Künstlerhaus Edenkoben in der Pfalz 1989. Er erhielt im gleichen Jahr den Kunstpreis der Stadt Cloppenburg. Mit dem Roman >Kein Frühling< (1987) ist auch Kurzeck »nach Hause gegangen«; er spielt in Staufenberg zwischen 1946 und 1954. Am neuen Staufenberg-Roman der anschließen­ den Zeit bis 1970 arbeitet er. >Keiner stirbt< (1990) spielt an vier Tagen Ende Oktober 1959 zwischen Gießen und Frankfurt. Die Gemeinde hat die These widerlegt, daß der Prophet im eigenen Lande nichts gelte und Peter Kurzeck 1988 den Literaturpreis des Landkreises Gießen verliehen. 1991 erhielt Kurzeck den Alfred-Döblin-Preis für ein unveröffentlichtes und noch nicht fertiggestelltes Manuskript aus seinem Staufenberg-Zyklus.

 

 

 

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