Kolumne

hochroth [Leipzig]- ein achtteiliges Verlagsportrait

Vorwort lesen

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Teil 3: hochroth Leipzig

hochroth Leipzig gibt es ebenfalls seit 2012. Kurze Prosa und fremdsprachige Lyrik stehen hier im Fokus. Seit 2018 gibt es hier auch eine eigene Reihe für tschechische Lyrik, die „Edition OstroVers“ aus welcher ich gerne den Gedichtband Wenn das Wasser kocht von Marie Šťastná, übersetzt von Julia Miesenböck, vorstellen möchte. Über ihre Reihe „Edition OstroVers“ und die zeitgenössische tschechische Poesie schreiben die beiden Herausgeberinnen Martina Lisa und Tereza Semotamová folgendes:

Es gibt sie und es gibt sie nicht –
die zeitgenössische oder auch neue tschechische Poesie. Weder ost-
europäisch noch zwingend in Versen verfasst fließt sie vielmehr da-
hin und bildet viele ganz diverse Inseln, ostrovy auf Tschechisch.
Poetické ostrovy, wenn man so will – im Meer der Worte, der un-
terschiedlichen Strömungen, Stärken und Schnellen. […]

Rudern wir also zu auf eine der vielen Inseln im tschechischen Meer der Worte:

Marie Šťastná: Wenn das Wasser kocht. Edition OstroVers 02. Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck. hochroth Leipzig 2018.

Auch dieser Gedichtband ist zweisprachig. Die Gedichte von Marie Šťastná sind vorwiegend in Innenräumen verortet und richten den Blick auf scheinbare Nichtereignisse wie das vergebliche Warten auf ein Wunder vor der Grotte in Lourdes oder das tägliche Hinausblicken aus dem Fenster:

Sie steht am Fenster selbst bei Schönwetter
und hält Wache
Damit das Gartentor nicht zu laut klappert
Damit der Baum
der schief überm Zaun wächst
nicht umfällt […]

Ona stojí u okna i když je hezky
a hlídá
Aby neklapla branka moc nahlas
Aby ten strom
co je nakřivo přes plot
nespadl […]

Aber unter der vorgeblich ruhigen Oberfläche der Gedichte brodelt es, denn das Wasser kocht, der Titel könnte nicht treffender gewählt sein. Wut als aufkochender Emotion und Motor wird in einem Gedicht die Liebe zur Zerbrechlichkeit gegenüber gestellt:

[…] Wir hätten doch  ins Krankenhaus fahren sollen sagt D
und ich habe Wut
Wut die ich seit meiner Kindheit pflege
exakt von dem Moment an
als ich zum ersten Mal meine Lehrerin
mit einem angebissenen Brot bewerfen wollte
Wut dank der ich es immer schaffe
Wut die wie ein Motor
explodiert verbrennt
!!!

Am Ende kann man immer
zu so etwas zurückkehren
wie dem Bügeln von Blumen
man kann diese kleinen Destruktionen bewundern
und dabei die Liebe zur Zerbrechlichkeit pflegen
die Liebe zu dir

*

[…] Měli jsme jet radši do nemocnice říká D
a já mám vztek
vztek který si pěstuju od děství
přesně od té chvíle
kdy jsem poprvé toužila po učitelce hodit
nedojedený chleba
vztek díky kterému to vždycky zvládnu
který je jako motor
vybuchuje spaluje
!!!

Nakonec vždycky je možné
vrátit se k něčemu takovému
jako je žehlení květin
je možné obdivovat ty malé destrukce
a pěstovat si při nich lásku ke křehkosti
lásku k tobě

Es gibt nichts Ungewöhnlicheres als „alltägliche Alltäglichkeit / gewöhnliche Gewöhnlichkeit / geläufige Geläufigkeit“, das führt Marie Šťastná uns in ihren Gedichten vor Augen.

und scheinbar sorglos
berühre ich beim Sprechen
dein Knie

*

a na první pohled bezstarostně
se při řeči dotýkám
tvého kolena

Marie Šťastná gelingt es, dass wir uns in den Beschreibungen von Alltäglichem immer wieder in Sicherheit wähnen, nur um schon im nächsten Moment in einen tiefen, bodenlosen Schacht zu stürzen:

Um mir zu beweisen dass ich am Leben bin
esse ich heiße Suppe
und sauge dann Wasser aus den Blasen am Gaumen

*

Abych si dokázala že jsem živá
jím horkou polévku
a pak saju vodu z puchýřů na patře

Aus der Geborgenheit im Alltag heraus trifft die Härte des Lebens noch unvorbereiteter, gerade auch in den Gedichten in welchen es um das Ringen um das Leben eines Kindes im Krankenhaus geht:

Im Bauch festgesetzte Angst
Das leise Zischen des Ventilators
Ich beschwöre meinen Sohn damit er atmet
Ein
Aus

*

V břiše usazený strach
Tiché syčení ventilátoru
Zaříkám svého syna aby dýchal
Nádech
Výdech

Erträglich wird das Unerträgliche in den Gedichten gerade auch durch den erfrischenden Galgenhumor von Marie Šťastná, der einen lesend leicht aus dem Gleichgewicht werfen kann:

Mich wundert nicht wenn Mütter ihre Kinder aus dem Fenster werfen
Nicht wahr sagt die Krankenschwester
manchmal ist es schon schlimm
Einmal habe ich das vor der Schwiegermutter gesagt
Die Schwester verdreht die Augen und schaut zurück auf die Papiere

*

Vůbec se nedivím těm matkám co hází děti z okna
Viďte říká sestřička
někdy už je to zoufalství
Jednou jsem tohle řekla před tchýní
Protočí oči a vrátí se k papírům

Marie Šťastnás Gedichte, wie auch die darin vorkommenden Metaphern, sind gerade in ihrer Schlichtheit absolut überzeugend:

Damals war und heute ist
Nur die Zwischenzeit findet wie eine dicke Maus
kein Versteck vor den Katzen

Bylo tehdy a je dnes
Jen mezičas jako tlustá myš
se nemá kam schovat před kočkami

 

***
Marie Šťastná
Wenn das Wasser kocht
Edition OstroVers 02
aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck
Grafik: Karla Šťastná, Časový záznam 15183718, 2018
hochroth Leipzig 2018
ISBN: 978-3-903182-21-9
56 Seiten, 19×13 cm
8,00 €

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