Kolumne

[Olga Tokarczuk] My white male bookshelf #18

Vor etwa eineinhalb Jahren hat Tillmann Severin alle Bücher männlicher Autoren in seinem Bücherregal umgedreht. Man sah statt bunter Buchrücken fast nur noch die Seiten. Sein Regal war weiß geworden. Seitdem liest er nur noch weibliche Autorinnen und schreibt in der Kolumne über Entdeckungen. Für die aktuelle Ausgabe hat er mit Rebecka Kärde ein Gespräch über Olga Tokarczuk geführt.

Letzten Sommer saßen Rebecka Kärde und ich auf dem Tempelhofer Feld, sahen der Sonne beim Untergehen zu und sprachen nicht über Olga Tokarczuk. Wir hatten eine Flasche Wein, keinen Korkenzieher und Rebecka hatte ein Buch dabei, das vielleicht von Tokarczuk war, vielleicht aber auch nicht – es trug einen Umschlag, der sein Cover verdeckte, und einen Stempel von der Schwedischen Akademie – was auch immer sie las, es war geheim. Und nobelpreisverdächtig. Denn Rebecka ist Teil des vorläufigen Literaturnobelpreiskomitees, das in Folge des Missbrauchs- und Korruptionsskandals anteilig mit Externen besetzt wurde.

Rebecka Kärde, Lyrikerin und Kritikerin vor ihrem my white male bookshelf Ein halbes Jahr später sitzen wir wieder zusammen an Rebeckas Wohnzimmertisch, zwischen uns liegen deutsche und schwedische Tokarczuk-Ausgaben, draußen regnet es, der Himmel ist grau. Ich stelle mir vor, dass wir dieses Gespräch im Sommer auf dem Tempelhofer Feld geführt hätten – nicht nur, weil es kalt ist und regnet, sondern vor allem weil Rebecka und ich immer wieder auf den Blick zu sprechen kommen, mit dem Tokarczuk die Welt betrachtet und der so viel besser zu dem großen Flugfeld mitten in Berlin mit seinem Gewimmel an Menschen passt als zu  einem regnerischen Wintertag.

In Tokarczuks Roman »Unrast«, der Rebeckas und mein Lieblingsroman der Autorin ist, gibt es passend dazu eine kurze Passage mit dem Titel »Frosch und Vogel«:

»Es gibt zwei Sichtweisen der Welt: die Froschperspektive und die Vogelperspektive. Jeder dazwischenliegende Punkt trägt nur zum Chaos bei«

Die beiden Sätze lesen sich wie die Pointe unseres Gesprächs, bei dem wir immer wieder versuchen zu fassen, was die Bücher von Tokarczuk einerseits so komplex und andererseits so zugänglich macht. Es ist eine Perspektive, die Rebecka mit der in Gemälden Pieter Bruegels vergleicht: Man sieht ein Gewirr von Menschen, die alle in einem Gemälde zusammengefasst sind, aber einer individuellen und teilweise unverständlichen Tätigkeit nachgehen. Der Blick wird aber weder aus der Vogel-, noch aus der Froschperspektive auf das Gewimmel geworfen – deshalb das Chaos, könnte man mit Tokarczuk sagen.

Aber es ist eben, wie in den Gemälden auch, kein Chaos, sondern eigentlich sehr klar strukturiert. Nur nicht auf die Weise wie etwa ein barocker Garten, bei dem es die eine Sichtachse gibt, die eine Idee, durch die man alles erfassen kann. Stattdessen gibt es ein detailverliebtes Wimmelbild. Die Perspektive ist schräg gewählt, queer, sagt Rebecka auf Englisch, und wir sind uns einig, dass das nicht nur auf eine Beschreibung der Perspektive auf die Welt zutrifft, sondern auch auf viele Figuren selbst, die queer und schräg zugleich sind.

Rebecka erzählt von einer Figur aus »Taghaus Nachthaus«, einem Buch, das ich nicht gelesen habe, das sie mir aber mit dem Hinweis ans Herz legt, es sei ähnlich wie »Unrast« strukturiert – mit vielen größeren und kleineren ineinander verwobenen Geschichten und Beobachtungen. Während Rebecka von einem Mönch aus »Taghaus Nachthaus« spricht, der die Geschichte eines lokalen Heiligen erzählt, fangen wir beide an zu lachen: »Das passt sowas von zu Tokarczuk.«

Typisch für Tokarczuks Werk sind aber nicht nur Figuren wie ein lokaler Heiliger. Typisch ist auch, dass hier jemand die Geschichte von jemand anderem aufzeichnet und sich bei beiden eine Persönlichkeit entwickelt, die, genau wie das gesamte Personal in ihren Büchern, irgendwo schräg zwischen Vogel- und Froschperspektive sichtbar wird. Man lernt ihre Figuren aus unmittelbarer Nähe kennen, bekommt aber nie einen Gesamteindruck. Denn die Perspektive ist schräg – und in diesem Fall queer zugleich: Von beiden Figuren aus »Taghaus Nachthaus« erzählt Rebecka, dass ihnen kein eindeutiges Geschlecht zugeordnet wird. Gleichzeitig ist die Geschichte aber in einem mittelalterlichen Kloster situiert. Genderfluidität wird auf eine Weise nahe gebracht, die auch Leute verstehen, die das Konzept entweder nicht kennen oder die Idee für Blödsinn halten. Genau das macht Tokarczuk wahrscheinlich so anschlussfähig, denn sie wird sogar von polnischen Konservativen gefeiert – obwohl ihre Texte alles andere als Konservatismus verkörpern.

Es ist bei Tokarczuk überhaupt brillant, wie sie Themen in ihre Texte einfließen lässt, die einem völlig zeitgenössisch erscheinen – wie etwa Gender –, die bei ihr aber nicht als besonders gegenwärtig ausgestellt werden, sondern alltäglich wirken. So taucht das Internet an vielen Stellen auf, allerdings auf eine völlig beiläufige Art. Ihren Figuren erscheint es nicht als eine neue, herauszustellende Technik, sondern als das, was es für uns im Alltag bedeutet: Ein Raum, der genauso intim erscheinen kann wie die Räume, in denen wir uns täglich bewegen und Freund*innen und Bekannte treffen.

So, erzählt Rebecka weiter, gibt es in »Taghaus Nachthaus« eine Figur, die Träume sammelt und sich in einem Forum mit anderen darüber austauscht. Das Internet ist bei Tokarczuk kein anonymer Raum, sondern eine Erweiterung der eigenen kleinen Welt, in der die Menschen ihren Alltäglichkeiten nachgehen. Und bei Tokarczuk sind es meistens Tätigkeiten, die man solchen Nachbar*innen zutraut, die man zwar grüßt, ein Gespräch mit ihnen aber vermeidet.

Tokarczuk, sind wir uns einig, ist eine der wenigen Autor*innen, von denen man sagen kann, dass sie das Internet thematisieren. Tokarczuks Texte  in ihrer verzweigten Struktur spiegeln das Internet sogar wider, ohne dass man sagen würde, dass es gewollt oder aufgesetzt wirkt. Die Struktur der Texte scheint sich vielmehr aus einem neugierigen und genauen Blick für Details und dem Willen zu ergeben, all diese Details in ihren Texten zu fassen. Rebecka, die Tokarczuk in Stockholm getroffen hat, spricht von einer Person, die neugierig auf die Welt schaut, die sie umgibt und dabei alles in sich aufnimmt. So wirken auch die Texte: Sie nehmen die Welt in ihrer Gesamtheit in sich auf, ohne dabei auf eine Idee festzuschreiben.

Das klingt fast schon ein wenig kitschig, die Welt in ihrer Gesamtheit aufnehmen, aber es passt zu ihren Texten: Tokarczuk spielt mit Kitsch und scheinbar einfachen Wahrheiten, wie der, dass es nur Chaos zwischen Frosch- und Vogelperspektive gibt. Die Stärke liegt darin, dass sie die Komplexität einlöst, die in Zitaten wie dem obigen eben auch liegen. Man findet sofort einen Zugang, die Texte sind aber uneindeutig, thematisieren immer wieder Grenz- und Übergangssituationen.

Auch ihre Figuren stehen nie nur auf einer Seite der Grenze, sind nie nur sympathisch oder unsympathisch, gut oder böse. So ist die Hauptfigur aus »Der Gesang der Fledermäuse« eine Mörderin, die man am liebsten aber nicht dafür halten würde, so angenehm verschroben kommt sie daher – man mag sie, auch wenn man sie nicht gerne treffen und schon gar kein Gespräch mit ihr führen würde.

Passend zu dieser Unentschiedenheit lebt die Figur in Schlesien an der polnisch-deutschen Grenze. Eine Grenze, die sich nicht als Mauer, Zaun oder Linie zeigt, sondern im Handyempfang, der immer wieder weg ist und entweder in Form eines deutschen oder polnischen Telefonanbieters wieder auftaucht. Denn die Funkzellen halten sich nicht an Staatsgrenzen. Und genau so, sagt Rebecka, halten sich Tokarczuks Texte nicht an ihre Grenzen: Immer scheint etwas zu fehlen, das das Bild komplettieren würde. Aber es ist im Text nicht auffindbar, die Figuren und die Handlungen werden nie ganz abgebildet, werden weder aus der Frosch- noch aus der Vogelperspektive sichtbar.

Nach einer Stunde am Wohnzimmertisch möchte ich mir immer noch vorstellen, wir hätten dieses Gespräch auf dem Tempelhofer Feld geführt, mit dem Blick auf die Start- und Landebahnen, mit denen man die Vogelperspektive immer mitdenkt und sich auf der riesigen Fläche gleichzeitig fühlt, als schaute man aus der Froschperspektive auf die Welt. Beides ist nicht wahr: Man ist genau dazwischen, mitten im Chaos.

Und genau da fanden wir einen Korkenzieher: Rebecka sagte, dass es im Umkreis von zwanzig Metern einen geben müsse. Wir standen auf und riefen. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sich jemand mit einem Schweizer Taschenmesser aus dem Chaos meldete.

Es ist genau das Chaos, aus dem Olga Tokarczuks Geschichten entstehen.

 

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Literaturliste

 

 

OLGA TOKARCZUK
Unrast
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Roman

Taghaus, Nachthaus
Originaltitel: Dom dzienny, dom nocny
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Roman

Gesang der Fledermäuse
Originaltitel: Prowadź swój pług przez kości umarłych
Aus dem Polnischen von Doreen Daume
Roman

Alle Bücher sind im Kampa Verlag erschienen.

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