Begegnung in voller Fahrt
Neulich schien es aus meinem Antlitz auf die Erde und wärmte jene Stadt, deren Vertreter mich zum Stadtschreiber von Halle ernannt hatten. Autorenfreude, und nicht immer ist dieses Wort ein Widerspruch in sich, waren zu dem Behufe geladen worden, mich zu loben. Im Grunde eine leichte Aufgabe, ich hätte die Sache auch selbst übernommen, aber Simone Trieder und André Schinkel würden ihren wunderbaren Geist und Witz in Laudatio und Moderation einfließen lassen. Klar, auch die Familie würde in Form meiner Eltern anwesend sein, doch nichts sprach dafür, daß Mutter den Stadtoberen und allen, die es nicht wissen wollen, zu erzählen einfiele, ich sei mit drei immer noch nicht selbstständig aufs Töpfchen gegangen, und nun, obwohl es ja anfangs gar nicht danach aussah, sogar Stadtschreiber geworden. Das wird nicht passieren. Vielleicht noch vor ein paar Jahren, aber nicht heute. „Heute wird es nicht auf meiner Parade regnen, ich werde auf der Sonnenseite der Straße nur netten Leuten begegnen“, summte ich die Zeilen von Kinderzimmer Productions (bester Deutschrap ever). Meine katholische Freundin war sehr schön gekleidet, auch die Tochter meiner katholischen Freundin. Beide ermahnten mich sanft, vielleicht in einer anderen Hose als jener, die schon seit Wochen so bequem um meine Extremitäten geschlenkert hatte, zu erscheinen. Warum sich dagegen wehren? Und so erschienen wir frohgemut und sogar halbwegs und völlig gegen meine sonstigen Gewohnheiten pünktlich am Literaturhaus, wo meine Amtseinführung als Stadtschreiber stattfinden sollte. Nun aber erstmal schnell rein und die Eltern begrüßt. Ob sie auch einen guten Parkplatz gefunden haben? Sie wollten nämlich mit dem Auto aus meinem Heimatort Bernburg anreisen und hatten sich geistig schon wochenlang mit der Parkplatzfrage beschäftigt. Gab es einen Parkplatz und wenn ja, war er frei? Der Mensch muß einen Parkplatz haben.
Als wir oben ankamen, sah ich Mutter mit einer wichtigen Kulturbeauftragten der Stadt reden. Nicht etwa doch noch über die Sache mit dem Töpfchen. Mutters Gesichtsausdruck glich dem großer tragischer Frauengestalten der Weltliteratur, nachdem ihnen das vom Autor zugewiesene Schicksal widerfahren ist. Was war los? Gab es keinen Parkplatz mehr? Oder war mein Erscheinen fünfzehn Minuten vor Veranstaltungsbeginn bereits zu spät für Mutter, die mich nun mahnend in Empfang nehmen würde, weil ich meine Gäste nicht gebührend begrüßt hätte? Sie trat auf mich zu und sagte, „es gab einen Unfall, wir sind mit der Straßenbahn zusammengestoßen“. Nach diesen Worten baute sie erstmal eine dramatische Pause ein, damit mir genügend Zeit blieb, eine Vorstellung von dem Ausmaß zu bekommen. Geteilter Schock ist doppelter Schock. Wo war Vater eigentlich? Was mich zu der grundsätzlichen Frage verleitete:
„Wo ist Vater?“
„Er ist unten“, antwortete sie.
Wie, unten? Geht einem da blitzartig durch den Kopf. Unten im Krankenwagen. Unten unterm Rad. Unten bereits aufgebahrt. Sprich Mutter, sprich!
Andere Mütter, mit weniger Sinn für Spannungsbögen, wären vermutlich auf mich zugekommen und hätten plump gespoilert: „Wir hatten einen Blechschaden, Vater regelt die Sache mit der Polizei.“ Das ist natürlich der Mutter eines Schriftstellers nicht würdig. Vater ist also unten. Auf meine folgende Nachfrage, ob es ihnen beiden denn gut ginge, sagte sie, mit leichtem Wehklang in der Stimme: „Ja, vermutlich, aber so genau läßt sich das nicht sagen.“ Irgendwie hatte ich mir den Tag anders vorgestellt. Meine Freunde finden ja meine Eltern total easy, und fragen sich, was ich immer nur habe. Ich solle umgekehrt mal ihre Eltern kennenlernen. Ich bin mir sicher, deren Eltern sind großartig. Denn es gibt auch ganz unkomplizierte Eltern. Mit denen ist man nur nie verwandt.
Okay. Mutters Auskünfte sind vage, und ich bin Profi genug. Liebes Publikum, mein Vater wurde offenbar von der Straßenbahn überfahren. Aber das ist nicht weiter schlimm. Ich werde ihnen trotzdem wie geplant heute einen lustigen Text vorlesen.
Es kam nicht zu dieser Ansprache, Vater kam rechtzeitig von „unten“ nach oben, er sah aus, als wären alle Gliedmaßen noch dran. Als beide auf ihrem Platz saßen, zitterte nur etwas seine Hand beim Fotoschießen, und während ich meine Stadtschreiberlesung hielt, hörte ich sie leicht aggressiv miteinander tuscheln. Da war ich beruhigt. Sie waren offenbar gesund.
Einen Tag später hatten es meine Eltern, im Gegensatz zu mir, in die Nachrichten geschafft. Überschrift: „Straßenbahn und Auto krachen in der Bernburger Straße zusammen.“ Was der Reporter nicht wußte, im Auto saßen außerdem (haha) zwei Bernburger. Zwei Fotos gab es (Rückenansicht Vater neben seinem SUV, und Vaters SUV vor der Straßenbahn). Ich bot ihnen an, davon qualitativ hochwertige Abzüge machen zu lassen als Erinnerung an diesen Tag. Im Artikel stand, daß es zu erheblichen Verspätungen auf den Linien 1, 2, 3, 7, 8 und 12 gekommen sei. Man könnte auch sagen, für eine gute halbe Stunde legten meine Eltern den gesamten halleschen Straßenbahnverkehr lahm. Und Vater, der eigentlich nie einen Fehler begeht oder höchstens dann, wenn er von anderen dazu gezwungen worden ist, war schuld. Daran gab es nichts zu rütteln. Im Artikel hieß es, „Der SUV-Fahrer aus dem Salzlandkreis wollte trotz Sperrmarkierungen wenden.“ Aber Vater wäre nicht Vater, wenn es ihm nicht doch noch gelungen wäre, die Schuld am Unfall einer „vorlauten“ Äußerung meiner Mutter zuzuschreiben, die ihn abgelenkt habe, kurz bevor er das Steuer herumriß, um den auf der anderen Straßenseite adleraugenartig erspähten Parkplatz zu ergattern. Als Beweisführung zählte er die heikelsten Momente in seiner gesamten Autofahrerkarriere auf, die er alle überlebt habe, weil meine Mutter da zum Glück mal nicht anwesend war. Frei nach dem Motto „Frau am Steuer, Ungeheuer. Fährt sie mit, Todesritt.“ Bei uns Kreisens sind Rollenklischees nicht nur Klischees, sondern gelebte Wirklichkeit.
Wie Vater es jedoch gelungen ist, die nicht unbedingt winzige Straßenbahn zu übersehen, bleibt ein Rätsel. Das ist so wie Angler übersieht Flugzeugträger oder Segelflieger übersieht Zeppelin. Vielleicht rechnet man ja einfach nicht mit so etwas, wenn man aus einer Kleinstadt kommt. Schließlich würde auch unsere ganze moderne Verkehrswelt ziemlich unübersichtlich wirken auf einen Urmenschen. Mutter drückte sich so aus, „plötzlich stand dieses große grässliche Ding da“. Tja, die hallesche Straßenbahn, oder, wie man sie auch in den örtlichen Altenheimen nennt, der Tod auf leisen Rädern. Sie hat in Halle dieselbe Funktion wie der Wolf in Brandenburg. Alte und kranke Individuen müssen sich vor ihr in Acht nehmen. Und wer den Schaden hat, kriegt vom Sohn eine Kolumne.
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