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Kritik

Kulinarik

Hamburg

Den Titel dieses Gedichtbands wird man sich, passenderweise, erst einmal auf der Zunge zergehen lassen müssen: "Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont". Wir könnten jetzt natürlich "Pfirsichsaucen" als poetisierte Körperflüssigkeiten lesen, und ihre "Reduktion im Ereignishorizont" sowohl als Ankündigung von Orgasmen1 als auch im Sinne von freudscher Triebsublimierung, Zivilisierung, Charakterstiftung – doch der Klappentext schlägt uns einen mehr gesellschaftlichen Interpretationsmodus zu Titel und Texten vor:

Das Gemachtsein durch die Welt verbindet Graeff mit Kulinarik – Sozialisation als aufwändiger Küchenakt.

Dem können wir dann folgen, wenn wir zu den "Küchenakten" auch das sinnliche Aufbereiten von bloß formal verknüpften, surrealen Satzhäppchen zählen (und also prinzipiell mit "kulinarischen" Lektüren einverstanden sind), wie hier im "Espuma an folgenschweren Sätzen III":

Beim panromantischen Abendessen erstickt ein tibetischer Mönch an einer Gräte
Der Wechsel Wahrheitswerte führt zu rückläufigen Bewegungen normalverteilter Lebensläufe
Zehn Quadratkilometer Zuckerwatte und Mandel-Eclairs lösen keine Probleme
Die rabattierten Poeme verhalten sich wieder mal wie Stechmücken
Fortschritt bleibt Frosch
(…)

Schwierig daran ist, dass zumindest ich auf das (soziale) "Gemachtsein" der (unserer) Welt hier erst durch seine zitierte Erwähnung auf der Klappe gebracht werden musste; das Foucault-Zitat als Motto des dritten Abschnitts half nichts, ebensowenig die coolen, comichaften Grafiken vom Mario Hamborg, (sagen wir:) Variationen auf den Begriff "Körperpanzer" nebst Schemata zum Zusammenschrauben archaischer Masken.

Das liegt vielleicht daran, dass die blank inhaltliche Dimension der Sätze dieses Bandes allzu Verschiedenes umfasst, oder anders gesagt: dass es uns die einzelnen Texte für sich schwer machen, ihre Innenausstattung an Orten, Figuren, Topoi auf einen je gemeinsamen Nenner zu bringen – möglicherweise, s. o., aufgrund einer überraschenden Häufung gänzlich abstrakter Begriffe, möglicherweise aber auch, weil kaum je ein distanziert-entspannter Plauderton verlassen würde: das lyrische Ich dieser Texte, nennen wir es "Graeffs Koch", steht über den Dingen, als wären diese alle auf seiner Küchenarbeitsplatte angeordnet.

Woran es nicht liegen kann, ist mangelnder Fokus aufs Kompositorische: auch, wenn wir sie nicht immer in einem unmittelbar semantischen Sinn "verstehen", ist doch die sorgfältige Komposition der einzelnen Texte ich sich, und das architektonische Voranschreiten der Gliederungselemente von Text zu Text, augenscheinlich.

Die sinnliche Dimension dieser Texte also, sie sitzt. Die Art, wie Graeff Bedeutung durch Metaphern setzt, ist gelegentlich etwas gar hemdsärmelig, und das ist natürlich Programm:

Am Fenster winkt ein Himmel ohne Schminke
Wie ein Horrorclown im Ruhestand

– schon klar: GOtt ist tot, und das sei gut so, war gruselig, der ALte … aber "Horrorclown"? Oder, anderes Beispiel: Ein Gedicht, in dem sich ansonsten "Birkenstock" auf "Buchenwald" sozusagen reimt, und

Touristen beim Schweinefleischverzehr

einem Museenleitsystem nach

Mordor, Gondor, Naziland.

folgen – es heißt "Warschau" und beinhaltet just die Zeile

Du trägst den Krieg im Namen

… also, kurz nachdenken, "War-Schau", "Krieg gucken", oder sehen, was früher "War (-)" … Solche Kalauer haben im Sinne des "kulinarischen" Programms ihren Platz in dem Band – ob man sie angesichts der thematischen Schwere z. B. des zitierten Beispiels goutieren wird, ist eine andere Frage.

Zusammengefasst: manche Zeilen stehen inhaltlich etwas disparat in Texten herum, in welche sie formal folgerichtig eingebunden sind; und manche Bedeutungsvolte scheint durchaus erzwungen – aber wir können "Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont" nicht vorwerfen, zu wenig abwechslungsreich zu sein, oder nicht zu bieten, was der Titel verspricht: es gibt einen (historischen, menschlichen) Ereignishorizont, der wird quasi-kulinarisch erfahrbar ("köstlich") gemacht.

  • 1. "Reduktion", erläutert auch der kulinarische Anhang von Alexander Graeffs Buch, "bezeichnet das lange Einkochen von Flüssigkeiten (…) um den Wassergehalt zu verringern und den Geschmack zu intensivieren."
Alexander Graeff
Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont
Illustration: Mario Hamborg
Verlagshaus Berlin
2019 · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-945832-30-1

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