Krieg ist niemals ein Ende aber immer verloren (Gertrude Stein)
Über die Situation von Frauen während des 2. Weltkriegs gibt es eine Fülle an Dokumentationsmaterial in Form von Sachbüchern, wissenschaftlichen Publikationen, Filmen und auch Anverwandlungen in fiktionales Geschehen. Und man bemüht sich heute, die lebensgeschichtlichen Erinnerungen der letzten Zeitzeuginnen und -zeugen in Audio- und Videointerviews aufzuzeichnen, um möglichst viele Informationen für die Nachwelt bewahren zu können.
Ganz anders sieht es mit dem 1. Weltkrieg aus. Aus dieser Zeit gibt es keine Überlebenden mehr, die wir befragen und die uns Auskunft geben können. In diesem ersten großen Krieg der Geschichte waren 40 Staaten beteiligt, rund 17 Millionen Menschen starben. Die Geschichtsschreibung zu dieser Zeit ist männlich dominiert und es wundert daher kaum, dass 2014 aus Anlass des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs erneut vor allem die Schicksale von Männern in den Mittelpunkt gerückt wurden, ihre anfängliche Begeisterung für den Krieg, ihr Leid, Gräuel und Tod. Auch auf Fixpoetry wurde 2014/2015 in der Reihe „Lost Voices“ erinnert: Frank Milautzcki stellte 24 Dichterstimmen vor, „die im 1. Weltkrieg fielen oder aufgrund des Kriegs starben/sterben mussten ... und die man im weitesten Sinne im literarischen Expressionismus ansiedeln kann“. Viele davon befanden sich erst am Anfang ihres schriftstellerischen Schaffens, das gewaltsam endete.
Doch wie sah es damals eigentlich mit den Frauen aus? In keinem der 40 im großen Krieg involvierten Staaten waren Frauen berechtigt, über Politik mitzuentscheiden. Doch vieles war Anfang des 20. Jahrhunderts im Umbruch. Frauen in zahlreichen europäischen Ländern kämpften für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung. Was dachten, wie fühlten und handelten Frauen in jener Zeit, in der sie wenige Rechte hatten und die Emanzipation noch in den sprichwörtlichen Kinderschuhen steckte?
Nie werde ich den unseligen Tag des Kriegsausbruchs vergessen! ... Die ersten Augusttage bedeuteten für alle, die glaubten, dass der Krieg unter den sogenannten Kulturvölkern eine überwundene Sache sei, einen völligen Zusammenbruch alles dessen, was Menschlichkeit, Vernunft, Güte und Schönheit umschlossen. (Lida Gustava Heymann)
Die Schauspielerin und Regisseurin Barbara Englert hat sich auf Spurensuche nach den weiblichen Perspektiven auf die Zeit des 1.Weltkriegs begeben. Eine Auswahl ihrer Recherche wurde 2015 im Rahmen der multimedialen Theaterinstallation „Der große Krieg und die Frauen 1914-1918“ in Frankfurt/Main gezeigt. Das nun vorliegende Buch ist aus dieser Produktion entstanden. Es enthält darüber hinaus Material, das in den Aufführungen keinen Platz fand, zum Teil ist dieses auch erst danach hinzugekommen.
Englert hat für dieses Werk Texte von 36 berühmten Zeitgenossinnen aus Wissenschaft, Kunst und Kultur aus sieben verschiedenen Ländern ausgewählt, die sich damals zum Krieg geäußert haben.
Alle haben hochgesteckte Hoffnungen und glauben, dass der Kampf zwar rau sein, aber gut enden werde. Doch welch ein Massaker werden wir erleben und welcher Irrsinn, es geschehen zu lassen. (Marie Curie)
Zu lesen sind Zitate aus Briefen, Tagebucheinträgen und literarischen Werken, ergänzt durch Auszüge aus Interviews mit heute 80-90 Jahre alten Frauen. Sie, die erst nach dem Ende des 1. Weltkriegs geboren wurden, erinnern sich, bewundernswert wach und rege, an ihre Mütter und Großmütter und deren Erzählungen, Erlebnisse und Eindrücke.
In unserer Familie stammen die Erzählungen aus dem ersten Weltkrieg fast nur von Frauen. ... Eigentlich bin ich nur mit starken Frauen aufgewachsen. Das gilt für meine Mutter und für meine beiden Großmütter. (Elisabeth Abendroth)
Englerts Gestaltungsprinzip ist das der Collage. Sie hat die Quellen ausgewählt und stellt die Ausschnitte im Buch thematisch passend nebeneinander, ohne sie zu kommentieren. Nur am Ende des Buchs hat sie kurze Erläuterungen über ihre Vorgehensweise angefügt. So sprechen zu uns allein die Texte und sie sprechen durch die Art ihrer Anordnung auch miteinander, ergänzen sich, zeigen verschiedene, manchmal auch ähnliche Perspektiven auf den Krieg, das Leben und Leiden in jener Zeit. Von der an anderen Stellen immer wieder behaupteten Kriegseuphorie ist in diesem Buch nichts zu merken, im Gegenteil:
Wo immer wir während der Kriegsjahre mit Frauen aus dem Volk zusammenkamen, ..., spürten wir nichts von dem in allen Tageszeitungen und sonstigen Schriften gepriesenen frenetischen Kriegsjubel deutscher Frauen. Überall banges Entsetzen, gequältes Stöhnen geängstigter Mütter. (Lida Gustava Heymann)
Eine der besonderen Stärken des Buchs ist, dass Stimmen aus unterschiedlichen Milieus vorkommen, eine Ausgewogenheit, die in üblichen Geschichtsbüchern selten wahrzunehmen ist und uns nachvollziehen lässt, wie es einfachen Bürgerinnen im Krieg erging, etwa wenn wir vom Hunger während des Rübenwinters 1917 in Berlin lesen, der vielen Frauen und Kindern das Leben kostete (Edda Destouches), oder von der Zurichtung junger Mädchen zur Kriegsnützlichkeit.
Meine Mutter wurde 1908 geboren. Damals erschien eine ganze Reihe von Jugend- und Mädchenbüchern, in denen die jungen Frauen und Mädchen aufgefordert wurden, sich irgendwie auf weibliche Weise am Weltkriegsgeschehen zu beteiligen, entweder als Schwestern im Lazarett oder ... durch Briefe und Handarbeiten für die Soldaten im Feld. (Susanne Mittag)
Doch wurden Frauen auch anderswo in diesem „lange(n) und mörderische(n) Krieg“ gebraucht, der sie plötzlich an die Plätze der kämpfenden oder gefallenen Männer stellte.
Seither dachten die Frauen nicht daran, ... dass ein Tag kommen könnte, wo man von ihnen verlangen würde, ihre ganze Größe wieder im Schoß eines kleinen Heims zu suchen. (Colette)
In vielen Beiträgen wird das Sterben und der Tod angesprochen und vom Umgehen von Müttern, Schwestern, Geliebten und Ehefrauen mit dem Schmerz durch den Verlust Angehöriger berichtet. Zu lesen sind berührende Zeugnisse des Aushaltens. Da ist die Frau, die mit mehreren kleinen Kindern allein zurückbleibt, weil ihr Mann im Krieg fiel, eine andere, die zwei Geliebte im Krieg verliert und immer wieder wird die Trauer der Mütter thematisiert, die ihre Söhne nie wieder sehen werden:
Peter ist gefallen. Vaterland ist etwas Schönes, aber ich würde keins haben wollen ohne meine Lieben. (Käthe Kollwitz)
Nicht zuletzt kommen politisch tätige Frauen im Buch zu Wort, etwa Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin. Bereits im März 1915 organisierte Zetkin in Bern die erste „Internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg“. In Den Haag fand im April 1915 ein Internationaler Frauenfriedenskongress statt mit 1136 Teilnehmerinnen aus 12 Nationen – die Resolutionen beider Kongresse sind ebenfalls in diesem Buch nachzulesen.
Ergänzt werden die Texte durch zahlreiche Abbildungen der zitierten Frauen, in deren Gesichter Schönheit, Mut und Entschlossenheit, aber auch Angst und Trauer eingeschrieben sind. Im Anhang können schließlich die Biographien all dieser Frauen nachgelesen werden.
Angesichts heute zunehmender nationalistischer Tendenzen, lokaler kriegerischer Auseinandersetzungen, vor allem aber angesichts des unsäglichen Imponiergehabes einiger heutiger Alphamänner, die die Keule des atomaren Vernichtungsschlags schwingen, kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, was Krieg bedeutet. Dieses lesenswerte Buch gibt einen kleinen Einblick in das Leben und Leiden während des 1. großen Kriegs vor 100 Jahren aus der Perspektive von Frauen, die diesen Krieg entweder selbst erlebten oder aus Erzählungen Betroffener für uns nachvollziehbar machen. Es sind bloße Worte, die damals wie heute keinen Krieg aufhalten werden, aber vielleicht jene Menschen, die zu lesen gewillt sind, für einen Moment innehalten lassen, wenn von erlebter Ausweglosigkeit, Gewalt und Vernichtung erzählt wird oder einer (zeitlosen) Versehrtheit, wie in diesem Gedicht von Ricarda Huch:
Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen
Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
Und während Tage und Jahre verstreichen,
Werden sie Stein.Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,
Sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
Bis in den Traum.Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.
Fixpoetry 2017
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