wenn Bäume sich lieben
ich strebe eine vage
Vollständigkeit an
die ohne Ordnung auskommt
an deren Rändern
die Gedanken aufschäumen
und übergehen
in ein wucherndes Wurzeln
Es geht weiter. Und immer weiter. Das ist das Besondere am inzwischen sechs Bände umfassenden Endlosgedicht von Franz Dodel. Ja, es gibt ein erstes Wort und einen ersten Band. Und irgendwann wird es auch ein letztes Wort und einen letzten Band geben. Aber Anfang und Ende spielen eine vergleichsweise nebensächliche Rolle im unaufhörlichen Fluss der Worte des literarischen Groß- bzw. Lebensprojekts Nicht bei Trost. Jeder veröffentlichte Band trägt neben dem Titel Nicht bei Trost auch noch zusätzlich einen Untertitel. Capricci lautet der des zuletzt erschienenen Teiles, den ich hiermit vorstellen möchte.
beim Hören Sehen und auch
beim Gehen will ich
langsamer werden sodass
das Erinnern das
mir hinterrücks folgt sich staut
und die Gegenwart
vorwärts zu stolpern beginnt
Schreiben als Perpetuum Mobile, in einer Endlosschleife, einem Möbiusband ohne Anfang und Ende, oder wie ein Bild von M.C. Escher – die sich selbst malenden Hände beispielsweise oder die permanent im Kreis aufwärts- bzw. abwärts gehenden Stiegensteiger, das alles ist Nicht bei Trost. Der Weg ist das Ziel.
heute Herbstahnung
auf dem Gehsteig zertreten
Kornelkirschen rot
wie kleine Vogelherzen
die sommersatt sich
nicht mehr festhalten wollten
an ihren harten
schweren Ästen aus deren
Holz früher Lanzen
Werkzeuggriffe und Räder
hergestellt wurden
Der Rhythmus, der uns durch die inzwischen insgesamt 36000 veröffentlichte Verszeilen trägt, ist das Silbenmaß fünf-sieben-fünf-sieben in einer endlos fortlaufenden Kolonne. Franz Dodel schreibt seit 2002 beständig weiter, also täglich und mit Freude, an seinem einen, immer weiterlaufenden Kettengedicht. In Buchform erschien der erste Band davon bereits 2004 und von da an folgten die weiteren Bände fortlaufend im Abstand von jeweils einigen wenigen Jahren. Und sollten einem die sechs inzwischen veröffentlichten Bände noch nicht genug sein, so kann man „die Fortführung des stetig wachsenden Kettengedichts“ online auf www.franzdodel.ch mitverfolgen. Das Buch endet mit der Verszeile Nummer 36000, online geht es aber schon wieder weiter mit Verszeile Nummer 36001 und weiteren:
vermutlich stimmt es
dass nur das Ganze einen
Sinn ergibt trotzdem
versuchen die Teile stets
Bedeutungen an
Wörter Sätze zu knüpfen
Stetig wachsend ist dabei wortwörtlich gemeint, da Franz Dodel wirklich laufend online weitere Verszeilen ergänzt und veröffentlicht. Heute, am 24.9.2019, sind es bereits 39266, also gibt es inzwischen schon 3266 neue Verszeilen. Aber bleiben wir einmal bei den bereits in Buchform vorliegenden 36000 Verszeilen: Wo soll man da denn anfangen? Das schiere Ausmaß von Nicht bei Trost kann einen schon einschüchtern, doch, das sei an dieser Stelle verraten: Angst braucht man keine zu haben davor. Denn hineinspringen und sich ein Stück weit weitertreiben lassen kann man an jeder beliebigen Stelle der 36000 Verszeilen. Man muss keineswegs mit dem ersten Band anfangen. Und es ist auch nicht notwendig, alle Bände zu lesen. Franz Dodel hierzu:
Es braucht schon ein bisschen Mut, hier einzusteigen. Aber ich will den Lesenden zumuten, dass sie das mal probieren und sie sich auf diese Fährte begeben, in diese Assoziationskette irgendwo hineinspringen. Man kann das auch nur für ein paar wenige Zeilen tun. (Literarisches Selbstgespräch von und mit Franz Dodel, 02.01.2015)
Nicht bei Trost wird damit zu einem großen Strom, der ruhig da ist und ungestört weiter fließt, egal, ob wir ihm nun dabei zusehen, oder nicht, ob wir hineinspringen und untertauchen, ob wir uns ein Floß bauen und uns mittreiben lassen, oder ob wir uns ein Motorboot ausborgen und gegen den Strom stromaufwärts fahren: das alles kümmert das Wasser herzlich wenig. Es fließt weiter, mal schneller, mal langsamer, mal gerade, mal mäandernd, aber es fließt immer weiter, das hat etwas sehr Beruhigendes. Betrachtet man Nicht bei Trost so, dann fällt jeglicher Druck – Wo anfangen? Muss ich das alles wirklich lesen? – sofort von einem ab und Nicht bei Trost zu lesen wird zu einer höchst meditativen Angelegenheit, als säße man ruhig am Flussufer und blickte gedankenversunken auf das vorüberströmende Wasser.
ich will Ruhe bewahren
und weitermachen
mit ungelenkter Weitsicht
ein Blinder auf dem
Rundblickbeobachtungsturm
der den Horizont
abtastet mit einem Stock
aus matt-weißem Glas
Nicht bei Trost lautet der Titel des nicht endenden Kettengedichts. Wenn jemand nicht ganz bei Trost ist, ist der- oder diejenige leicht verrückt. Auch Franz Dodel muss ohne jeden Zweifel nicht ganz bei Trost sein, wenn er sich auf so ein Wahnsinnsprojekt eingelassen hat. Doch es ist eine erfrischende Art der Verrücktheit. Eine verrückte Unmöglichkeit, das ist Nicht bei Trost. Denn Nicht bei Trost kann man nicht lesen, man kann nicht aufhören, Nicht bei Trost zu lesen. Und Franz Dodel kann nicht aufhören, Nicht bei Trost zu schreiben. Das ist ein großes Glück. Er selbst meint zur Endlosigkeit seines Unterfangens:
Heute scheint es mir ein eher unvernünftiger Gedanke zu sein, etwas zu beginnen, was nicht aufhören soll. […] Es spielt keine Rolle, wie weit ich komme, ich komme ohnehin an kein Ende. Das verschafft mir eine unglaubliche Freiheit. Es bleibt alles offen und das ist großartig. (Literarisches Selbstgespräch von und mit Franz Dodel, 02.01.2015)
Und diese seine „unglaubliche Freiheit“ teilt er großzügig mit uns Lesenden, wenn wir uns darauf einlassen wollen.
und sollte nichts mehr
zu hören sein werde ich
besser hinhören
geduldiger auf das was
hörbar sein könnte
Inhaltlich geht es um poetische Momentaufnahmen, die in Worte gefassten Stillleben gleichen – „[…] vier Quitten / die seit Wochen auf einer / Porzellanschale / vor sich hindämmern […]“ – und um ein philosophisch- theologisches Nachsinnen über das Leben. Natur und Jahreszeiten sind sehr präsent, Tagesaktualitäten werden aber ausgeklammert. Das Kettengedicht speist sich dabei aus eigener Lektüre und Anregungen aus der bildenden Kunst. Marcel Proust kommt dabei eine besondere Rolle zu, da es eine der Regeln des Kettengedichts ist, in regelmäßigen Abständen jeweils ein weiteres Zitat von Marcel Proust in den Text einzubauen. In Capricci sind das vorwiegend Zitate aus Briefen Marcel Prousts. Trotz der ungemeinen Offenheit des scheinbar ziellosen Schreibens spinnt Franz Dodel nahezu unbemerkt ein Netz an Motiven, Metaphern, Gedankengängen und Referenzen, das überaus stabil und tragfähig ist.
wenn Bäume sich lieben was
doch wohl sein kann so
geschieht dies ohne dass wir
davon viel merken
bei genauem Hinsehen
erkennt man eine
kaum wahrnehmbare Neigung
ein leichtes Biegen
der Stämme zueinander
höchstes Glück ist es
wenn sich bei Wind die Zweige
zärtlich berühren
Neben dem Konzept und Inhalt gilt es auch die Buchgestaltung eigens zu erwähnen, da sie ebenso edel wie gelungen ist: „feinstes Dünndruckpapier im geschmeidigen Lederfasereinband“, wie auf der Homepage des Verlages nachzulesen ist. Besonders ist auch, dass die Verszeilen jeweils auf der rechten Buchseite abgedruckt sind, während die linke Seite frei bleibt für ausführliche Anmerkungen, Kommentare, Quellenangaben und schwarz-weiß-Zeichnungen erwähnter Bilder und Fotografien von Serafine Frey.
Der Kommentarteil ist damit vom Platzangebot gleichwertig wie das Kettengedicht und das ist ganz im Sinne von Franz Dodel:
Ein anderes Anliegen ist, dass ich die Quellen, die ich verwende, ganz präzise und minutiös ausweise. Deshalb ist mir der Anmerkungs- und Bildteil wirklich äußerst wichtig. […] Der Kontext, in dem ich mich befinde, in dem wir uns alle befinden, soll so deutlich wie möglich aufgezeigt werden. (Literarisches Selbstgespräch von und mit Franz Dodel, 02.01.2015)
Es bleibt uns überlassen, ob wir das Kettengedicht zügig lesen und die Kommentare und Quellenangaben achtlos links liegen lassen. Oder ob wir uns immer wieder Ablenken lassen von Schmetterlingen am Wegesrand und stehen bleiben um sie genauer zu betrachten, wodurch wir vielleicht einen neuen Pfad entdecken, den wir bisher nicht bemerkt hatten und der uns wegführt vom eigentlichen Buch. Auch das wäre ganz im Sinne von Franz Dodel, dass wir sein Buch beiseitelegen und stattdessen eines zur Hand nehmen, aus dem er zitierte.
das Unmögliche
zeigt stets auch das Mögliche
auch wenn sich dieses
der Wahrscheinlichkeit entzieht
Und dann gibt es da auch Kommentarseiten, die leerbleiben, doch sind sie bei näherer Betrachtung gar nicht ganz leer, da die Schrift von der Rückseite etwas durchs feine Dünndruckpapier schimmert. Und es ist keine Leere, die uns von diesen Seiten entgegenblickt, sondern frei gelassener Raum – als wäre hier Platz für eigene Ergänzungen, Kommentare und Zeichnungen. Das alles macht Nicht bei Trost zu einem sehr offenen Buch, das uns als Lesende sehr ernst nimmt.
selbst das Erreichbare liegt
jenseits der Sprache
trotzdem davon zu sprechen
scheint mir sei wichtig
wie sonst käme Verstehen
zustande und wie
gelänge es einander
nahezukommen
Keines der inzwischen sechs Bände von Nicht bei Trost ist ein Buch, das man irgendwann gelesen hat und zuschlägt. Es sind Bücher, die einen begleiten. Ganz unvermutet tauchen dann im Alltag Motive, Bilder, Anekdoten als Erinnerung auf. Und man hält inne und denkt nach, wo das jetzt herkommt und die Spur führt zurück zu Nicht bei Trost, dem Kettengedicht, das selbst in so viele verschiedene Richtungen über sich selbst hinaus weist.
der scheinbar unbeschwerte
und ziellose Flug
der Falter unterscheidet
sich vielleicht nicht von
der trügerischen Ordnung
meiner Verse denn
beide möchten teilhaben
an einem Ganzen
ohne Anfang und Ende
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