Philosophie der Unschärfe
Parallel zum Menzius Band hat Henrik Jäger auch dessen „Konkurrenten“ Zhuangzi in einer umfassend aufbereiteten Ausgabe bei Matthes und Seitz als Lesebuch herausgebracht. Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße widmet sich einem Text-Phänomen, das bisweilen nur Zhuangzi geheißen wird, mal Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Ein Besonderes an diesem Buch ist, dass es nur bruchstückhaft überliefert wurde, wie viele antike Klassiker – dies allerdings mutwillig. Denn ein ganzer Haufen „Kommentatoren“ redigierte eigenmächtig und -willig alles Mögliche Passende oder Unpassende heraus, sodass ein fragmentarisches Palimpsest entstanden ist, das auf einige wenige, dafür sprichwörtliche Texte reduziert worden ist, wie der Traum des Schmetterlings/ Zhuangzi voneinander. Dies ist eine typische nicht auflösbare Gedankensituation, die sich als Schlüssel zum Denken und Schreiben des Zhuangzi verhält.
Der Philosoph und Dichter spricht von „dem kleinem Leben und dem großen Leben, dem kleinen Wissen und dem großen Wissen“, „dem Tod als Heimat“, er spricht sich „gegen die Maschinenherzen“ aus, ist damit Menzius nicht unähnlich und implizit in seiner, ihrer beider, Kritik am herrschenden Konfuzianismus, dem es an vorderer Stelle um eine zu erlernende Disziplinarität ging. Zhuangzi allerdings beschäftigt sich zu großen Teilen mit dem Spekulativen des Träumens und einer prä-freudianischen Begriffsidee vom „Unterbewusstsein“, das sich gewiss noch aus dem zu seinen Lebzeiten vor-buddhistischen China und dessen weitverbreitetem schamanistischen Denken/ Handeln genährt hat.
So einflussreich Zhuangzi als Philosoph gewesen sein mag, das Erstaunliche ist seine literarische Bedeutung. Seine Texte und vor allem seine eigene Poetologie weist ihn als frühen Künstler aus, der jeglicher Ambiguität kompetent gegenüberstand, ob vorgefunden oder selbst verfasst. Jäger schreibt:
Zhuangzi zu lesen bedeutet, einer Stimme Gehör zu schenken, die nicht viel mehr sein will als ein „Piepsen“ oder ein „Sich-Räuspern“.
Und in puncto Mehrdeutigkeit, allgemein im Chinesischen und speziell zu Zhuangzi und dem „dreidimensionalen Netz an Bezügen“:
Die vielen Bedeutungsmöglichkeiten eines Zeichens oder eines Satzes werden bewusst eingesetzt; die Sprachkunst besteht nicht darin, möglichst exakt eine Bedeutung zu übermitteln, sondern mit möglichst wenig Worten möglichst viel zu sagen. Auch wenn (für den westlichen Sinologen) manche Bedeutungen tatsächlich unklar sein mögen: Die meisten Texte sind exakt vieldeutig; es werden – einem Vexierbild vergleichbar – klar beschreibbare Bedeutungen aufs höchste verdichtet, so dass sie in ihrem Verwobensein sich gegenseitig vertiefen und erhellen.
Ein Originaltext Zhuangzis, wie im Buch montiert mit allerlei Kommentaren, dem Original und Erläuterungen, geht so:
Denn die Festung der Seele (lingtai) hat einen Halt (chi), allerdings erkennt sie nicht, worin dieser Halt besteht, denn sie kann diesen nicht halten.
Oder so:
Der Einfüßler sagte zum Tausendfüßler: „Ich hüpfe und hüpfe auf meinem einen Bein und komme doch kaum weiter. Wenn Ihr nun tausende von Beinen in Bewegung setzt, wie schafft Ihr es, den Überblick zu behalten?“
„Ich mache nichts“, antwortete der Tausendfüßler. „Habt Ihr noch nie jemanden niesen sehen? Wenn er losprustet, sind die großen Tropfen wie kleine Perlen, die kleinen Tröpfchen wie feiner Nebel. Man prustet sie alle – miteinander vermischt – hinaus, und niemand ist in der Lage, sie zu zählen. Ich bringe einfach meine „Himmlische Triebfeder“ (tianji) in Bewegung, ich weiß nicht, warum ich mich so bewege.
In Zhuangzis Texten kommt wiederholt er selbst vor, als Autor/ Denker, von Fragen umgeben, aber genauso auch als Äußernder, der nicht verstanden wird wie ein krummer Baum, allerdings auch Konfuzius oder Laozi, über die sich die Parabeln oft mit einem leisen Humor hermachen. Es klingt beinahe wie ein „Drei-saßen-in-einer-Bar-Witz“, wenn „einer zu Konfuzius kommt“, um etwas zu lernen, im Endeffekt aber der Sophist Konfuzius düpiert wird, dieser wiederum aber die Größe besitzt, später seinen anwesenden Schülern sein mentales Versagen in der Situation zu deuten.
Eine schöne Einschätzung bieten die 1752 verfassten Kommentare Hu Wenyings aus Jinling, geschrieben im Pavillon der ankommenden Kraniche:
[...]
7. Will man Zhuangzi lesen, so muß man das Tiefe oberflächlich und das Oberflächliche tief verstehen. In den allereinfachsten Sätzen gibt es einen unendlichen Inhalt. Und in den allergeheimnisvollsten Sätzen ist nichts als der spielende Geist am Werk. Wenn man mit dieser Haltung an Zhuangzi herangeht, „kann die spielende Klinge alles leicht zerteilen.“
8. Wenn man Zhuangzi lesen will, ist es wie wenn man eine Oper aufführt und dafür sorgt, dass jede Rolle den ihr gemäßen lebendigen Ausdruck findet. Wenn der Leser den Text liest, dann schlüpft er in die einzelnen Rollen, aber er identifiziert sich nicht mit ihnen. Wenn der Leser ein Mensch mit Herzensbildung ist, dann schlüpft er nach und nach in den lebendigen Ausdruck, und man weiß nicht, „ob der Leser zu Zhuangzi wird, oder Zhuangzi zu diesem Leser wird.“
Im Sinne des Lesebuchs ist Jägers Unterfangen sehr ergiebig und er schreibt eher zu viel an Metatexten als zu wenig. Im Falle des Menzius ging dieses Verfahren sehr gut auf, doch da Zhuangzi eben hauptsächlich als Künstler zu lesen ist, dessen tiefes philosophisches Anliegen sich in einem spielerischen (und nicht maschinengetippten) Sprachgebrauch niederschlägt, würde es dem Textfluss gut getan haben, sich auf das Texterlebnis Zhuangzi einlassen zu können, sprich ohne permanente Geleitung herauszubekommen, wo die Magie für einen selbst in diesen komprimierten Parabelkunstwerken liegen könnte. Das Überkommentieren und Zerhacken des ohnehin fragmentierten Korpus hätte durchaus in 30 Seiten Reintext fließen können, egal ob zu Beginn oder gegen Ende. So ist dieses Buch zwar absolut lesenswert, aber die Herausgeberrolle etwas überpräsent. Das Zhuangzi würde man gerne in einer Übersetzung von Henrik Jäger lesen. Hier kommt es nur unter der Decke daher.
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