Mit offenen Augen und leichtem Sinn unterwegs.
„Das erste Mal fuhr ich nach Zagreb, um eine Gruppe trauriger Gelehrter zu besuchen und ein Auge zu verspeisen.“ Die Gelehrten erwarteten den damals jungen Literaturwissenschaftler Karl-Markus Gauß, weil sie hofften, dass er ihnen helfen könnten, den Kroaten Miroslav Krleza, den bei ihnen berühmten Autoren, auch in Westeuropa bekannt zu machen. Gauß hatte hymnische Artikel über ihn geschrieben, hielt ihn für den "Goethe des 20. Jahrhunderts", und wurde offiziell von ihnen eingeladen. Und zu seinen Ehren gab es ein Festessen, als Höhepunkt wurde ein ganzes, gebratenes Lamm hereingetragen. Der Vorsitzende der illustren Runde "beugte sich vorsichtig, als wolle er ihn tätscheln, über den Kopf des Tieres, näherte seine weichen Finger langsam dessen rechtem Auge, griff zu und drehte es sachte aus seiner Höhle heraus. Wir saßen in schierem Entsetzen, ich spürte, wie die Ausweglosigkeit wild in meiner Kehle pochte, und doch war das Schlimmste noch nicht ausgestanden: dass Professor Enes Cengic die höchste Ehre des Gastes mir erwies und das Auge vorsichtig auf meinen porzellanenen Teller legte. So viel war klar, das Auge, das mir gereicht wurde, würde ich verzehren, ich würde es zerkauen und hinunterschlucken müssen", und auch seine Begleiter, ein österreichischer Verleger und ein Autor, konnten ihn nicht retten. Und so schluckte er denn. Und dann stießen sie an und aßen das Tier, dessen "Augen zerbissen in meinem Magen lag und bis heute in meinem vegetativen Gedächtnis rumort."
Karl-Markus Gauß, Literaturwissenschaftler aus Salzburg, ist ein begnadeter Reisender. Vor allem den Osten Europas erkundet er nun seit einigen Jahrzehnten, seit es möglich ist, sich dort ungehindert bewegen zu können. Anders als sein Landsmann Handke aber stilisiert er sich nicht zum großen Seher oder kokettiert mit dem Nationalismus mancher Ex-Jugoslawen. Gauß bleibt bescheiden, ist neugierig, sieht genau hin, lässt sich Zeit. Streift durch die Länder mit den offenen Augen eines, der es wirklich wissen will. Der sich auch in der Fremde niederlässt, wenn es auch nur für kurze Zeit ist: "Überall kann man nicht heimisch werden," schreibt er, "dafür sind viele Regionen der Welt zu elend. Doch wenn ich mit offenen Augen und leichten Sinnes unterwegs bin, fühle ich eine Art von Welt-Fröhlichkeit in mir wachsen – ein Gefühl, dass ich auch hier zu Hause bin, unter fremden Menschen, umgeben von anderen Sprachen, anderen Häusern, Landschaften".
In seinem neuen Buch mit dem etwas zu reißerischen Titel "Zwanzig Lewa oder tot" fährt er nach Zagreb, Sofia und Novi Sad, in die Republik Moldau, nach Serbien, Kroatien, Bulgarien und in die Wojwodina, wo vor fast 100 Jahren seine donauschwäbische Mutter geboren wurde und aufwuchs. Still und ruhig schaut er sich die Städte an und erzählt von dem, was ihm begegnet, wer ihm begegnet. Mischt Alltagsbeobachtungen klug und einfühlsam mit Exkursen in die Geschichte dieser Länder, in denen seit ein paar Jahren "das jahrhundertelange Ineinander der Nationen und Nationalitäten zerschlagen wurde". Die Vergangenheit ist da immer gegenwärtig, und die Zukunft ist ungewiss, aber die Gegenwart ist gefüllt mit aufschlussreichen und überraschenden Geschichten.
Etwa die vom Übersetzer Boris Peric, der Ludwig Wittgenstein ins Kroatische übersetzt hat und Zagreber Vorstadt-Rapper für einen Sprechgesang des "Tractatus logico-philosophicus" anstiften konnte. Oder von jenem moldauischen Offizier, der an einem brütend heißen Augusttag alle zwölf Minuten zu den Wachsoldaten am sowjetischen Ehrenmal ging, die unter ihren Stahlhelmen schier vergingen, und ihnen höchstselbst und zärtlich nasse Tücher auf den Kopf legte. Gauß trifft einen Kellner in Elias Canettis bulgarischem Geburtsort Russe, der seine Jahre in Osnabrück mit den Worten zusammenfasst: "Mein Deutsch ist schlecht, aber mein Opel ist gut." Oder den Taxifahrer, der in Pforzheim geboren wurde und in Zagreb jetzt Taxi fahren muss, während seine Eltern aus Zagreb nach Pforzheim gegangen waren und dort auch ihren Lebensabend verbringen.
Als er nach Gagausien fuhr, einem autonomen Gebiet innerhalb Moldawiens, "wurde die Straße immer schlechter, das Land immer schöner. Weit zogen sich die sanft abfallenden Weinberge dahin, die Teiche mit ihrem hellblauen Wasser glitzerten im Vormittagslicht, und am Rand der Dörfer lagen die Fußballfelder, auf denen beim einen Tor die Dorfjugend spielte, beim anderen die Schafe grasten." Von Comrat, der Hauptstadt Gagausiens, sagt er, sie sei "nur für jene Besucher die Reise wert, die ein Gefühl für die Schönheit hässlicher Städte haben."
Gauß erzählt von den vielen Sprachen, die in diesen Ländern gesprochen wurden und nur noch teilweise gesprochen werden, Russisch, Rumänisch, Gagausisch, von den irrwitzigen Ideen, auf die der Nationalismus kommt, nämlich Sprachen und Identitäten zu verbieten, während doch grade die Vielfalt dem Land den inneren Reichtum beschert. Er erzählt auch von den wenigen überlebenden Juden, die in manchen Städten wieder ein reiches kulturelles und religiöses Leben beginnen. Aber Gauß klagt nicht an, er stellt nur fest, etwas melancholisch manchmal, aber dennoch witzig und gewitzt. Er erzählt von der Geschichte der vielen Völker, die in ihren kleinen Enklaven ein wenig verloren aussehen gegenüber der mächtigen Europäischen Union. Die sich dennoch behaupten, grade weil sie so klein sind.
In seinen schönen Reiseberichten vermischen sich persönliche Geschichten mit der politischen und Sprachgeschichte Osteuropas. Sprachlich elegant, in manches Detail verliebt, das er liebevoll ausführt, genau und sehr atmosphärisch zeugen sie von der großen Hoffnung des Autors, dass auch diese vernachlässigten Gegenden eine Menschlichkeit aufweisen, trotz aller Zerrissenheit, den politischen Wechselfällen, den Brutalitäten der Nationalisten. Gauß nimmt den Leser behutsam mit, durch alle Irrungen und Wirrungen, durch alle Mäander des Erzählflusses, zu den geglückten, stillen Momenten seiner Entdeckungen.
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