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Kritik

Entschieden sanft

Hamburg

Marie Luise Lehners zweiter Roman „Im Blick“ erzählt von Weiblichkeit, Gewalt, von Schönheit und dem Erwachsenwerden. Zwei Erzählstränge führen durch die knapp 200 Seiten: Die Erzählerin wird gemeinsam mit ihrer besten Freundin Anja erwachsen. Sie sind gemeinsam zehn und werden gemeinsam einundzwanzig. Die Erzählerin ist abwechselnd dazu auch Liebende in der Beziehung zu einem Du (das auch immer als solches, angesprochenes und ohne Namen auftritt), die hin und her kippt und die liebewollende Hingabe sprachlich liebevoll und schmerzlich erfahrbar macht. Dabei hat der Roman Schlagwörter wie mee too, queer und feministisch nicht nötig und reiht sich doch unmissverständlich in diesen Diskurs ein.

Marie Luise Lehner erschreibt in ihrem zweiten Roman eine starke weibliche Perspektive: Auf der Suche nach einem möglichen Ausdruck für Weiblichkeit, für weibliche Gewalt- und Liebeserfahrungen sieht die Erzählerin es hier explizit keine andere Möglichkeit, als eben diese Perspektive einzunehmen und zu verstärken. Die Stimme betont, dass sie die Kategorien männlich – weiblich eigentlich nicht (mehr) denken und schreiben möchte und doch ist es ihr aufgrund der gemachten Erfahrungen, Zuschreibungen und Stigmatisierungen nicht anders möglich als ebenso zu schreiben.

Gewalterfahrungen werden dabei nicht nur in alltäglichen sexuellen Übergriffen beschrieben, die geballt über die gesamte Jugend der Protagonistin und ihrer Freundinnen erlebt werden. Auch strukturelle Gewalt gegen Frauen wird expliziert: Der männlich dominierte Blick in Filmen, aktuelle politische Entwicklungen in Österreich und Europa werden gekoppelt an die körpereigenen Erfahrungen. Dabei nimmt die Erzählerin betont keine Opferrolle ein und will unter keinen Umständen als solches wahrgenommen werden will. Die Erzählung steigert sich in der Beschreibung erlebter Gewalt und kulminiert am Ende in einer kraftvollen, von einem Wir getragenen Rede von Solidarität und Widerstand.

Diese Selbstbestärkung geht mit einer zuweilen problematischen Haltung einher: Erzählt werden unzählige negative Erfahrungen mit Männern. Was Lehner auf der sprachlichen Ebene gelingt, nämlich eine Ambivalenz von entschiedener Poetizität, die sich ihrer Verletzlichkeit bewusst ist, und trotzdem eine deutliche Stellung bezieht, bringt sie auf der inhaltlichen Ebene in ein schwieriges Gebiet: Wenn diese Ambivalenz nämlich in der Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht mehr erscheint, wenn die weiblich markierten Erfahrungen mit Männern ausschließlich durch Negativität gekennzeichnet sind, durch Gewalt und Unverständnis, geht die Möglichkeit einer Widersprüche zulassenden und diversitätsorientierten Perspektive verloren. Das ist trotz aller Schwierigkeit auch mutig.

„Im Blick“ ist ein entschieden sanfter Roman, der Ambivalenzen ausspricht und schmerzhaft erfahrbar macht. Er ist dabei Poem und Essay und sprachlich auf der Suche nach einem Ausdruck für Weiblichkeit, Körper und die Vermeidung von Kategorien. Diese bewusste Ambivalenz von Deutlichkeit und Hingabe, sprachlich geformter Poetizität und politisch unmissverständlicher Haltung macht den Roman unbedingt lesenswert, macht ihn diskussionsfähig und bietet Angriffspotenzial. Denn Entschiedenheit sanft zu sagen, eröffnet die Möglichkeit, politische und persönliche Erfahrungen zu verknüpfen, im Schreiben, als auch im Lesen.

Marie Luise Lehner
Im Blick
Kremayr & Scheriau
2018 · 192 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-218-01109-9

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