"auf der Wiese die Blumen im Licht"
Es sind 2520 (zweitausendfünfhundertundzwanzig) nummerierte Verse, aus denen Nikolai Vogels Band "fragmente zu einem langgedicht" besteht – die Genrebezeichnung "Langgedicht" lügt also mitnichten. Wobei … der Titel verheißt uns "Fragmente", Plural, und die 2520 Verse weisen keine Anzeichen weiterer Untergliederung auf … hieße es da nicht richtiger "Fragment", Singular?
… oder bedeutet uns der Plural, es sei jede einzelne Zeile für sich als eines jener Fragmente zu lesen – und der Band insgesamt bilde diese Fragmente vollzählig ab, umfasse also bereits das ganze (und eben nicht mehr: fragmenthafte) Langgedicht? Entweder, dies letztere ist der Fall, oder mit den "Fragmente[n]" sind die einzelnen Szenen gemeint, die der uns vorliegende Text schildernd durchmisst – dann wäre er, dieser vorliegende Text, wiederum just nicht das im Titel verheißene Langgedicht, sondern ein anderes, eines, das in dem bei gutleut 2019 erschienenen Buch namenlos bleibt.
Nur auf den ersten Blick sieht also alles ziemlich einfach aus – irgendwas mit Langgedicht, und irgendwas ist Fragmenten; beides Indikatoren, einfach mal drauflos zu lesen – aber wenn wir (selbst nur den Titel) ein wenig genauer lesen, stellt sich sofort Unschärfe ein, die uns zwingt, zwischen mehreren gleichermaßen paradoxen Optionen zu wählen.
Wir dürfen darin das Programm des Verfassers erkennen. Vogel zwingt uns, unsere eigene Position als Leser*in mitzubeobachten, wenn wir seinen Gedichtband lesen – der seinerseits tendenziell die Totalität einer Lebenserfahrung wiedergibt, die vollständige Menge der konstituierenden Einzelbestandteile eines Lyrischen Ich. So legt der Text uns, bevor wir noch weiter sind als auf der ersten Seite, nahe, es gehe ums Eingemachte, nämlich uns-selbst; wir dürften uns getrost dem Prosaversfluss Nikolai Vogels anvertrauen, er spreche, je individuell, zu uns von uns, bzw. von uns zu uns.
Eine der Methoden, um den Effekt dieses solchen vertrauensvollen Ichverlusts beim Leser zu erzielen, mag zugleich als Schwäche von Vogels Herangehensweise erscheinen: je plausibler in den Ordnungen der zeitgenössischen Lyrik verankert die Sprache ist, kraft derer sich das Innenleben von Vogels Textsubjekt entfaltet, desto generischer erscheinen notwendigerweise die einzelnen Details der dazugehörigen Außenwelt – oder zumindest überzeugt uns Vogel versuchsweise davon, dass das Wirklichkeitssubstrat zu jeder seiner Erfahrungen und Beobachtungen recht allgemeinverständlicher, allseits unkontroversieller Natur wäre.
Spektakulär ist also eher der Text selbst als sein Inhalt, und das scheint im Sinne des Erfinders zu sein. In dem Maße, als die programmatisch unabgeschlossene Gesamtheit eines in Versen geführten Überblicks über alles in einer bestimmten Existenz uns überzeugt – "Ja, diese Stimme spricht glaubwürdig von einem tatsächlichen Menschen, und da sie von einem Menschen spricht, spricht sie vom Menschen insgesamt, usw." – kann das beobachtete, vom Menschen dann durchlebte Detail fast nur enttäuschen. Auch das ist freilich der jeweils "wirklich echten" Existenz angemessen, der bestimmten Sozialisation und ihren Depravierungen.
Der Schluss des Bandes mag für beide Seiten der Medaille als Beispiel (und, lustigerweise, zugleich als Erläuterungstext) dienen:
(…)
würden wir je fertig, was täten wir denn
bliebe das Warten, dass sich etwas ergibt
und die abgelaufenen Vorräte, ewig Reparaturen
nicht pingelig sein, das Große und Ganze
aber da ist überall und immer Detail
das ist es doch, das macht es aus, sonst wäre es leer
ich schwebe und falle, wo halte ich mich
eine Madelaine, ein Spargel, ein Apfel
Pendelverkehr, die Intervalle schon wieder
Verspätung im Plan, ich hole dich ab
die Taschen gepackt, Aufbruch, alles erledigt
hinter uns vor uns
dieses Gedicht beenden, wieder beginnen
die Erde verlassen oder bleiben
neun
acht
sieben
sechs
fünf
vier
drei
zwei
eins
auf der Wiese die Blumen im Licht
Wir können uns als Sprecher solcher Zeilen in unserem Kopf die unaufgeregte Stimme des gealterten Ginsberg denken. Und können uns dann z. B. auch dran freuen, wie sich ein Gedicht über die Gleichrangigkeit und prinzipielle Unendlichkeit der Alltagserfahrungen, ja die, sagen wir, Transzendenz der Kleinigkeiten, in sich selbst zurück verschließt, verbeißt, wie die Schlange Ourouboros – wenn die erste Zeile nämlich wieder nahtlos auf die zitierte letzte draufpasst, und das Gedicht / das Leben / das Rad des Dharma so immer weiter geht (und immer weiter mit z. B. Ginsbergs Stimme):
[(…)
auf der Wiese die Blumen im Licht]eine Wiese wie mit Sommersprossen, lauter kleine gelbe Blüten darauf
der Arno-Schmidt-Sound, der Friederike-Mayröcker-Sound, der Peter-Kurzeck-Sound, der Thomas-Bernhard-Sound, der Rolf-Dieter-Brinkmann-Sound auf Kronkorken müsste man auch Pfand verlangen die Elstern im Hof bringen ihr Nest in Ordnung neues Jahr, wieder Frühling, wieder Brut (…)
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