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Kritik

Unter Freunden

Olivier Guezʼ Roman über den Kriegsverbrecher Josef Mengele ist eine unglaubliche Geschichte, die leider wahr ist.
Hamburg

„Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und die Menschen säen wieder das Böse.“

Der Satz steht ganz am Ende, auf Seite 214 der deutschen Ausgabe des neuen Romans von Olivier Guez, der in der Übersetzung von Nicola Denis beim Aufbau Verlag erschienen ist. Nicola Denis hat kürzlich auch Éric Vuillards „Die Tagesordnung“ (Matthes & Seitz) ins Deutsche übertragen. Die beiden Bücher ähneln einander in Inhalt und Stil; und fügen sich ein in eine Reihe von Romanen, die in den vergangenen Jahren in Frankreich erschienen sind, und die verbindet, sich besonders realitätsnah mit der Zeit des Nationalsozialismus zu befassen.  

Dazu zählt auch das fulminante Epos „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell (2006, deutsch 2008). Der Roman schildert das – fiktive – Leben und Agieren des SS-Offiziers und kaltblütigen Karrieristen Max Aue, der seine Erinnerungen an die Einsätze hinter den Linien der Ostfront und im Konzentrationslager Auschwitz zu Papier bringt. Das Buch sorgte für kontroverse Diskussionen, zum einen wegen der Drastik der Gewaltdarstellungen, zum anderen, weil darin etliche Größen des nationalsozialistischen Führungsapparats von ihrer privaten, also menschlichen Seite präsentiert wurden. Allerdings vermochte keiner der Kritiker die Frage überzeugend zu beantworten, wie anders als in drastischen Worten ein Massenmord wie das Massaker an den Juden in der Schlucht von Babyn Jar nahe Kiew im Jahr 1941, bei dem binnen zwei Tagen rund 33.000 Menschen ermordet wurden, hätte beschrieben werden können.

2010 (deutsch 2011) erschien der Debütroman von Laurent Binet, „HHhH (Himmlers Hirn heißt Heydrich), eine Art Doku-Fiktion über das Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich im Mai 1942 in Prag. Wie die Phantasiefigur Aue galt auch Heydrich als effizient-skrupelloser Nazi-Technokrat, der sich mehr als Manager denn als Ideologe verstand und in erster Linie sein persönliches Vorankommen im Sinn hatte. Minutiös schildert Binet Vorbereitung und Verlauf des Attentats und verknüpft geschickt die Biografien der Attentäter, Jozef Gabcik und Jan Kubis, mit dem Leben Heydrichs. Der dokumentarische Charakter des Werks kommt bei Binet deutlich stärker zum Tragen als bei Littell oder auch Guez und Vuillard. Wiederholt tritt er hinter seine eigene Erzählung zurück, um das Geschilderte zu hinterfragen. Der Sachlichkeit des Buches mag dieses Vorgehen dienen, für den Lesefluss ist es eher störend.

Schließlich 2017 – deutsch 2018 –, Éric Vuillards „Die Tagesordnung“: Eine historisch-literarische Montage auf nur knapp 130 Seiten, über den historischen Augenblick, der im Moment des Geschehens bisweilen skurril erscheint, und dessen wahre Bedeutung sich erst in der Rückschau erschließt. Eindrucksvolles Beispiel, das Andienen der deutschen Unternehmerschaft an die Naziregierung im Frühjahr 1933, ein Zusammentreffen, das aufgrund der Banalität der Akteure und des dort Gesprochenen eigentlich keine Erwähnung verdient, dessen Folgen sich jedoch als gravierend erwiesen.

Nun also Olivier Guezʼ Roman über den Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele. In Frankreich wurde das Buch im vergangenen Jahr mit dem Prix Renaudot prämiert, der neben dem Prix Goncourt, der an Vuillard ging, wichtigsten Auszeichnung für Literatur. Und auch hierzulande, oder besser, gerade hierzulande, muss man hoffen, dass „Das Verschwinden des Josef Mengele“ breit rezipiert wird. Denn das Buch ist großartig, beklemmend, verstörend und schockierend zugleich.

Natürlich ist bekannt, dass man es nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Verfolgung der einstiegen Nazis nicht allzu genau genommen hatte, weder in Deutschland noch anderswo. Die Gründe dafür waren mannigfaltig: Man wollte sich gegenseitig schützen, einen Schlussstrich ziehen, nicht zurück, sondern nach vorne blicken, die Kommunisten fernhalten, ein funktionierendes Staatswesen errichten; kurzum, es gab zahlreiche Gründe, mit alledem, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war, nichts mehr zu tun haben zu wollen. Erst elf Jahre nach Kriegsende gelang es dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer einen Haftbefehl gegen einen gewissen Adolf Eichmann zu erwirken. Dessen Vollstreckung überließ man dann bekanntlich lieber den Israelis.

Dennoch ertappt man sich bei der Lektüre von Guezʼ Buch immer wieder dabei, wie man parallel anfängt, das Geschilderte ungläubig zu recherchieren. Mit dem Ergebnis, dass man keine Anhaltspunkte findet, am Wahrheitsgehalt der Erzählung zu zweifeln. Beispiel: Otmar von Verschuer, Doktorvater Mengeles, Hitler-Bewunderer, von 1942 bis 1948 (!) Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie. Zu „Forschungszwecken“ versorgte Mengele ihn regelmäßig mit menschlichen Proben aus dem Konzentrationslager. In der jungen Bundesrepublik wurde Verschuer zunächst Professor für Humangenetik in Münster und anschließend Dekan der medizinischen Fakultät, wo er das größte Genforschungszentrum des Landes leitete. Ab 1952 fungierte er als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie.   

Und wie schon bei Vuillards „Die Tagesordnung“ frappieren auch hier die Verstrickungen der deutschen Unternehmen, die bereits kurz nach dem Krieg die Nazi-Netzwerke in Südamerika geschickt dafür nutzten, ihre Geschäfte voranzutreiben. Mengele selbst bereiste ab den frühen 1950ern für die im Günzburger Familienbetrieb produzierten Landwirtschaftsmaschinen ungehindert Argentinien und Paraguay, teilweise sogar begleitet von seinem Vater und Onkel. Siemens beschäftigte ab 1953 Constantin von Neurath, Sohn des einstigen Reichsprotektors von Böhmen und Mähren und selbst hochrangiger Nazi-Diplomat, als Unternehmensverantwortlichen für Argentinien, nicht zuletzt der engen Kontakte wegen, die er in die politisch exzellent vernetzte deutsche Community vor Ort unterhielt.

In diesem Dunstkreis überrascht es nicht, dass auch Mengele zügig wieder zu Wohlstand und einem, wie er es empfand, standesgemäßen Leben gelangte. Das Netzwerk aus gleichgesinnten Unterstützern war eng gespannt, und politisch brauchte man sich – zumindest in den ersten Jahren – keine Sorgen zu machen. Der Perón-Regierung waren die deutschen und sonstigen Faschisten als Experten mehr als willkommen, zumal man absehbar mit einem großen Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion rechnete, aus dem, so das Fantasiekalkül des Präsidenten, Argentinien als neue Weltmacht hervorgehen sollte. Dass das nicht ohne ausländische Wissenschaftler, Techniker, und Technokraten vonstattengehen konnte, davon waren alle Beteiligten überzeugt. Bis es soweit war, versuchte man sich das Leben in den Tropen so angenehm wie möglich zu gestalten und an bewährten Ansichten und Überzeugungen festzuhalten; dass dazu mitunter auch eine Hitler-Büste im Wohnzimmer, ein Hakenkreuz auf dem Grund des heimischen Pools, und sogar erneute politische Agitationsversuche in Deutschland gehörten, störte niemand.   

Erst mit dem Sturz Peróns 1955 und dem zunehmenden internationalen Druck, sowohl in Deutschland als auch anderswo, Kriegsverbrecher nicht länger unbehelligt zu lassen, änderte sich das Klima. Für Mengele begann eine Phase der Flucht auf der Flucht, die bis zu seinem Tod 1979 in einem brasilianischen Küstenort andauerte. Getrieben von der permanenten Angst, verhaftet oder vom Mossad entführt oder liquidiert zu werden, schlich er von Versteck zu Versteck, angewiesen auf den opportunistischen Goodwill seiner Beschützer, die sich für ihre Dienste von Mengeles Günzburger Familie auskömmlich bezahlen ließen. Etliche Jahre verbrachte er auf einer paraguayischen Farm, wo er sich als Vorarbeiter verdingte und seinen Frust und Sadismus an den einheimischen Feldarbeitern austobte. Die einstiegen Netzwerke zerfielen zusehends, teils weil die früheren Kameraden um ihr eigenes Überleben bangten, teils weil sie nach Europa zurückgekehrt waren. Hinzu kam, dass das internationale Interesse an einer Verhaftung Mengeles zunahm. Das Bild vom „Engel des Todes“, der an der Rampe von Ausschwitz Tosca-Arien pfeifend Hunderttausende in den Tod geschickt hatte, kursierte durch die Weltpresse und drang bis in die entlegensten Regionen Lateinamerikas vor.

Erst gegen Ende seines Lebens nahm das öffentliche Interesse an seiner Person wieder ab, was Mengele aufgrund seiner Paranoia und der permanent angeschlagenen Gesundheit aber nicht mehr mitbekam. Er starb als ein an den Rand des Wahnsinns Getriebener, dessen Sohn sich letztlich auch noch von ihm abgewandt hatte – wenngleich ohne den Behörden das Versteck des Vater zu verraten. Wer möchte, kann in der permanenten Todesangst, in der Mengele das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte, eine höhere Form von Gerechtigkeit erblicken. Den unzähligen Opfern und deren Nachkommen wird dies rückblickend kaum Genugtuung verschaffen; sie hätten ihn sicher lieber vor Gericht gesehen.

Womöglich ist an dem eingangs zitierten Satz von Guez, demnach nach zwei oder drei Generationen das Gedächtnis für historische Ereignisse verkümmere, etwas dran. Womöglich nimmt mit der Zeit tatsächlich das Bewusstsein für die Schrecken der Ereignisse ab, nicht anders als bei einem Mord, der vor 500 Jahren begangene wurde, und der aufgrund der Distanz kaum mehr als das wahrgenommen wird, was er war, ein Verbrechen. Und womöglich hat sich der Publizist Johannes Gross ja geirrt, als er 1984 im Magazin der FAZ postulierte, je länger das Dritte Reich tot sei, desto größer werde der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.

Vielleicht ist gerade die zunehmende Historisierung der Verbrechen der Nazizeit der Grund dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr Romane mit Dokumentationscharakter über diese Ära erschienen sind. Weil damit das gelingen kann, was historische Sachbücher, so präzise und packend sie auch geschrieben sind, nicht mehr zu leisten vermögen, nämlich zu den Gefühlswelten der Leserinnen und Leser vorzudringen, an deren Empathie zu appellieren. Wobei die Frage hängen bleibt, warum es fast ausnahmslos Franzosen sind, die diese Bücher bisher geschrieben haben, während sich deutsche Autorinnen und Autoren, von Ausnahmen abgesehen, vor allem mit den Segnungen des Landlebens und – nicht selten im Verbund – den Tücken des globalen Kapitalismus befassen.

„Das Verschwinden des Josef Mengele“ gehört zu den wichtigsten Büchern, die in diesem Jahr in deutscher Sprache erschienen sind. Und auch aus der Reihe der Doku-Fiktionen, die die französische Literatur der vergangenen Jahre geprägt haben, sticht das Buch hervor. Anders als Vuillard vermag Guez fast gänzlich auf direkte moralische Appelle an seine Leser zu verzichten. Das ist auch gar nicht nötig, in dieser perfekt recherchierten Geschichte, die schon deswegen für sich spricht, weil die Wirklichkeit sie geschrieben hat, und aus der Guez nun einen grandios-bedrückenden Roman geformt hat.   

 

Olivier Guez
Das Verschwinden des Josef Mengele
Übersetzt von Nicola Denis
aufbau
2018 · 224 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-351-03728-4

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