Kritik

Triebabfuhr

Hamburg

Thilo Sarrazin beschreibt im Vorwort dieses seines vorliegenden Islam-Buchs unter dem Titel "Feindliche Übernahme" sein Vorhaben so:

An [den] Anfang [des Buchs] stelle ich die Frage nach dem 'Wesen' des Islam. Meine Antwort suche ich im Text des Korans, so wie ich ihn als verständiger Laie ohne Kenntnisse des Arabischen (…) verstehe. Von daher versuche ich, das Spektrum der Deutungen des Islam aufzufächern …

und es fiele uns wesentlich leichter, dieses Ansinnen als einen zwar strukturell rechten, aber redlichen und daher respektablen Beitrag zur sogenannten "Integrationsdebatte" anzunehmen, wenn der Verfasser nicht in den wenigen einleitenden Absätzen, die diesem Zitat vorausgehen, gleich mehrere sich gewaschen habende Schenkelklopfer für die besonders feinsinnigen Freunde der rassistischen Implikation untergebracht hätte … und solchermaßen from the get-go klargemacht, dass er Religionssoziologie nur genau so weit bemühen wird, wie leider, leider unbedingt nötig, um es den doofen Gutmenschen mal so richtig reinzusagen.

Will sagen: dass wir es entgegen allem Vorschein eines Besseren (Fußnoten! Literaturapparat! Ganze Sätze!) mit xenophober Triebabfuhrlektüre für die bücherbesitzenden Stände zu tun haben, bemerken wir auf Seite +/- 16 von knapp 500, irgendwo zwischen Stilblüten wie den folgenden hier:

Der in Europa weit verbreitete Antisemitismus erklärte sich nicht nur aus der religiösen Sonderrolle der Juden, sondern auch aus ihren besonders großen Erfolgen in Wirtschaft und Wissenschaft. Das führte zu Neidreaktionen, die sich teilweise in Antisemitismus übersetzten.

Lies: Irgendwas muss ja dran gewesen sein an dem Gerücht von den Juden; ganz so umsonst hat da das deutsche Wir-Subjekt da keine "Reaktionen" gehabt.

Umgekehrt ist es auch nicht gut, wenn sichtbar abgegrenzte Minderheiten, wie die Schwarzen in den USA, bei Bildungserfolg, Einkommen und Lebenserwartung deutlich schlechter abschneiden. Die vernünftigste Lösung wäre eine Aufhebung der Unterschiede durch Vermischung der verschiedenen Ethnien. Dies widerstrebt aber offenbar den Wünschen der meisten Menschen: Schwarze, Weiße und Ostasiaten heiraten in den USA zumeist unter sich.

Das letztere ist so blöd, dass noch nicht einmal das Gegenteil stimmt. Während wir aber Ausschau nach einem Soziologie-Zweitsemester halten, der Sarrazin und seinen Eleven vordeklinieren könnte, wie man Statistiken interpretiert und wie nicht (Korrelation und Kausation und all that jazz), dürfen wir immerhin anerkennen, dass dem Manne die friedliche Vermischung als beste Lösung der jeweiligen Minderheitenfrage erscheint, und nicht (gibt's ja auch) ein Ethnopluralismus der rassenreinen Trutzburgen. Es handelt sich bei Sarrazin, dem ehemaligen Berliner Finanzsenator, eben immer noch um einen Sozialdemokraten, freilich einen, der fundamental rassistisch denkt, und noch nicht um einen richtigen Faschisten.1

In Europa gab es bis vor wenigen Jahrzehnten kaum nennenswerte Gruppen nichteuropäischen Ursprungs. Hier lebten europäische Weiße, und soweit sie eine Religion hatten, war diese christlich.

Europa als Raum "weißer" Ethnien mit einem schön homogenen Spektrum an Religionen – da wird leider weder syn- noch diachron ein Schuh daraus: Den Europa erst begründenden ethnischen melting pot des römischen Reichs von Gaza bis Londinium müssen wir schon mal ignorieren; Sinti und Roma und Traveller gibt's; Juden unterschiedlicher Stränge der Diaspora; naturreligiöse Lappen und Samen, "altgläubige" Litauer noch im einundzwanzigsten Jahrhundert; muslimische Bosnier und Krimtataren; die Nachkommen von Einwanderern und Umsiedlern der diversen Weltreiche; noch ganz zu schweigen von der Frage, was "weiß" tatsächlich bedeuten würde … Aber wer unfähig ist, sich eine Welt ohne möglichst großräumige, klar abgegrenzte und vor allem tröstlich "natürliche" Kollektivsubjekte vorzustellen, der schreibt dann auch Sachen wie:

Viele säkulare Muslime in der westlichen Welt argumentieren wie Ayaan Hirsi Ali (…)

… und selbstverständlich gibt es so etwas wie einen säkularen Muslim nicht. Was der Autor meint – ca. "Kameltreiber, die gleichwohl nicht an den Mahomet glauben" – er traut es sich mit gutem Grund nicht hinzuschreiben. Es würde dann gar zu deutlich werden, dass es in all seinen weiteren Ausführungen v. a. um das zusehends bessere Verbrämen letztlich ethnifizierter Zuschreibungen durch "aufklärerische" Rhethorik geht – darum, rhethorische Zurüstung im Auftrag der "besorgten Bürger" zu betreiben, die endlich wieder sagen dürfen wollen, was sie ohnehin schon immer gewusst haben: Dass der Ali sich zum Teufel scheren soll.

Die restlichen fünfhundert Seiten sind dem gegenüber fast Makulatur. Das bißchen Zeug, das darin brauch- und haltbar ist – das übersichtliche Hervorarbeiten autoritärer Denkmuster und Alltagspraxen aus den Geboten und der Geschichte eines im Kern männerbündischen Weltbildes – das kann ich auch anderswo lesen, und zwar: in Texten lesen, die ihre Verfasser nicht unter der Hand als verdruckste Propagandisten einer konkurrierenden, ebenso männerbündisch-ethnischen Autorität denunzieren würden … Texten auch ohne die Beigabe geifernd-angstgeiler Paranoia.

Da sich schließlich der Verfasser von "Feindliche Übernahme" solche Sorgen um das Abendland macht, und um die Anfälligkeit dieses Abendlandes mit seinen humanistischen Werten gegen die feindliche Übernahme durch Demographie (vulgo Ali): so soll er mal durch Brandenburg fahren. Oder Kärnten. Und sich in die Schlüsseltexte jener dort demographisch fest verankerten Parallelgesellschaften einlesen: Kronen Zeitung. Franz Josef Strauß' Gesammelte Aschermittwochsreden. Den Hexenhammer. Was weiß ich. Ist jetzt, zugegeben, auch nicht schlechter als die vierte Sure des Koran ("Von den Weibern"). Viel besser aber halt auch nicht.

Und es hätten spätestens seit Erfindung des Kühlschranks beide Urtexte nichts mehr, aber auch wirklich gar nichts mit der sozialen Wirklichkeit der wirklichen Menschen da draußen zu tun, wenn sie nicht von irgendwelchen narzisstisch Gekränkten – in Ermangelung erfüllenderer, liebevollerer Tätigkeit – alle paar Jahrzehnte wieder mal zum Ausschlußkriterium du jour ausgerufen würde.

(P.S.: Das mit der mangelnden erfüllenderen Tätigkeit: Wäre das nicht mal was, worüber ein sozialdemokratischer Volkswirt zu forschen und zu schreiben hätte – so er halt nicht nur als der nützliche Depp der blanken Faschisten in Erinnerung bleiben möchte, die Deutschland aufs Neue unsicher machen?)

  • 1. Friedrich Torbergs Tante Jolesch dazu: "Möge Gott dem abhüten, was noch ein Glück ist!"
Thilo Sarrazin
Feindliche Übernahme
Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht
Finanzbuch Verlag
2018 · 496 Seiten · 24,99 Euro
ISBN:
978-3-95972-162-2

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