Gegen-Prägungen und Gegen-Bewegung
"Der dreitorige Bogen - Zögere nicht! Obwohl ein Fremder, tritt rechtmäßig durch den höchsten Bogen ein! Seit langer Zeit hat er nur dem Staub Durchgang gewährt & dem Wind von Nord nach Süd, den er verrät ... Aber welch neuen Klang Deine Ankunft, hier, bringt!"
Begeistert geht der Besucher des chinesischen Monuments durch die Räume, den Pavillon, die "Schlucht". Alles spricht zu ihm:
"Du suchst die Brücke, die mich überquerte? Sie ist nicht mehr ... Eile herab & steige wieder hinauf ... Du bist mit rotem Ton bedeckt? Er sei das kaiserliche Siegel auf Dir."
Er sieht "die reglose Parade der Tiere", aufgereihte Statuen von Einhörnern, Kamelen, Elefanten, Pferden. Die sitzenden Löwen sagen: "Auf! Geh zwischen uns hindurch ... Du weißt, dass wir zahmer noch als Hunde sind!" Die stehenden: "Wir sehen einander an, ohne zu lachen."
1908 begann der junge Arzt Victor Segalen (geboren 1878 in Brest, er starb schon 1919), Chinesisch zu studieren, machte ein Jahr später sein Examen und fuhr im gleichen Jahr nach China, um seine Sprachkenntnisse zu perfektionieren. Mit seinem Freund Auguste Gilbert de Voisins reiste er zehn Monate lang von Peking Richtung Süden bis Chengdu, von dort ostwärts bis zur Mündung des Yangtse bei Schanghai und fuhr dann noch zehn Tage nach Japan. Auf dieser Reise entstanden die Tagebuchaufzeichnungen Ziegel & Schindeln.
Segalen, damals schon Autor und Theoretiker, der vor allem für seine Werke zum Exotismus bekannt wurde, hat einen anderen Blick als die meisten Ostasienreisenden. China (oder auch Japan), das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein so fremdes Land, dass die Reisenden meist nur das sahen, was sie wollten, wovon sie schon gelesen hatten. Sie sahen nur die Exotik, ein unverständliches buntes Durcheinander, das oft putzig war, jedenfalls Anlass gab zu impressionistischen Darstellungen.
Segalen dagegen reflektiert auch seine Anwesenheit in dieser exotischen Welt. Er versucht einzufangen, wie die Dinge auf ihn reagieren, statt nur einen vorgeprägten Blick nach außen zu schildern. "Gegen-Prägungen" hat er das genannt, "Gegen-Proben", wie bei einem Stück bedruckten Papier, das man umdreht und den Druck von der anderen Seite sieht, die Veränderung und das Original gleichzeitig.
Bei ihm beginnen die Dinge zu sprechen, sie zeigen sich von einer anderen Seite, sie geben ein Echo auf den Betrachter und hallen wider. Wie beim Besuch des Monuments, wo die Gegenstände ihm Anweisungen geben, lebendig werden, ihn beruhigen oder von ihrer Geschichte erzählen . Die stehenden Kamele ihn fragen: "Wer wird uns erlauben, uns ein wenig hinzulegen?"
Es spricht eine große Offenheit aus Segalens Hinwendung zu dem, was er sieht. Seine "Extraversion", die "Gegen-Bewegung", wie er sie nennt, hat neben dem dialogischen noch eine weitere Ebene: Sie vermeidet den festen Standpunkt, von dem aus er die Dinge sieht. Immer in Bewegung, sieht er die Xiling-Gräber im Juli 1909, indem er in sie eindringt und von allen Seiten und immer wieder neu betrachtet:
"Und der Marsch beginnt. Denn alles hier Erbaute kommt nur zur Geltung, wenn Schritte im Spiel sind, Bewegung, mit Gefolge & durch eine Art langsamer Dynamik ... Mann muss die Blickpunkte nach & nach entdecken ... Es kann sich hier um eine Orchestrik von Stein, Ziegel, bemaltem chinesischen Holz handeln. Beständigkeit? Gewollte Unbeweglichkeit? Schwere & schweres Lasten der Bauten auf dem Boden? Keineswegs! Keineswegs!"
Stilistisch nimmt Segalen die Dynamik der massiven Bauten auf und spielt damit:
"welche der Zeit als solcher gegenläufige Verachtung: sie verschlingt? Man gebe ihr etwas zu verschlingen. Sie nagt, krumpft, verkürzt, zerlegt, zerschleißt & ersetzt? Man gebe ihr etwas zu zerstören, man stille ihren Hunger: nicht mit harter & unverdaulicher Nahrung ... Diorit ... Chalcedon ... Rosengranite & polierte Marmore ... Hier die geeigneteren Speisen ... duftende Hölzer ... in die sie trotz der Aromen wird beißen können mit ihren tausenden von Insekten ... (ihren Zähnen) - gelb glasierte Schindeln, die der Regen auflösen wird, die als Schutt vom eingestürzten Dachgebälk auf den Boden rieseln werden ... Hier ist die Zeit zufriedengestellt ... Hier ist das Bauwerk undauerhaft & leicht."
Und gleichzeitig verändert sich auch ständig seine Wahrnehmung, denn sie beinhaltet auch das Hören, das Quietschen des Bodens in einem Kloster, das Rascheln von Laub, das Abrollen von Kieseln, die Lieder der Ruderer auf den Flüssen. Oder wenn er durch die Hallen der Tempel geht: "Wie reich die Schritte des einsamen Wanderers widerhallen von den rotgoldenen schimmernden Schultern". Sie geht sofort über zur Reflexion, die stets selbstkritisch bleibt: "Und wie wenig dies an die vollkommene Schönheit der Vision heranreicht, die ich davon hatte!" Und schwingt zurück zum Sehen.
Auch die Natur beschreibt Segalen beseelt und von innen heraus lebend:
"Ebenen erheben sich kaum merklich zu Anhöhen und Bergkuppen, zu protzigen Felsen & Hängen & Bergspitzen ... der Ackerboden bedeckt sie spärlich & entblößt plötzlich das Skelett, aus dem sie gemacht sind! - Schauerlicher Anblick? Nein! Rotweiße Wellen, schimmernde Schlieren & harte Grate ... feste Vorgebirge mit silbernen Spiegelungen?" Sehen wird so zu einem aktiven, sich ständig verändernden Prozess, dem man nachgeben muss. Der von allein geschieht, wenn man ihn nicht blockiert, weil man auf einem Standpunkt beharrt. Es kann viele Konsequenzen haben, wenn man diesen eurozentristischen oder narzisstischen Blickwinkel verlässt, sogar dass man den eigenen Geburtstag nicht mehr weiß. An seine Frau schreibt er am 14. Januar: "Ich glaube an diesem Tag geboren zu sein, liebe Mavone, mein chinesischer Kalender sagt mir nur, dass wir den 4. des zwölften Mondes haben, was eine andere Art ist, die Dinge zu sehen."
Seine Aufzeichnungen aus China und Japan, deren lose Blätter er selbst in drei Bänden in China hat binden lassen, zeigen übrigens keine Korrekturen, sie sind spontan geschrieben worden und zeugen von seiner enorm hohen literarischen Qualität, die man auch hierzulande immer wieder (neu) entdecken kann. Inzwischen wird er in Frankreich mit Saint-John Perse, André Malraux und Henri Michaux verglichen, mit Paul Claudel, André Gide und Paul Valéry gleichgestellt. Dennoch ist Segalen, der mit Paul Gauguin und Claude Debussy befreundet war, nicht einmal in Frankreich so richtig bekannt.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben