„Bäume aus Rauch geblasen; das Dunsttrapez eines Daches”.
„Die Wolken im Südosten knurrten und machten träge Buckel gegen den Wind, der sie von hinten stieß. Das Wasser ergraute. (…) Binsen faßten sich an den Rispen und ringelreihten kurz ums Boot: ‚Neenee. Komm mit!‘ / Die Bäume hupten und gebärdeten sich, als wollten sie in Staub aufgehen, Wind machte Kopfsprünge, und die Büsche jazzten verzerrter in ihren Mauerecken. Ein plumper Wolkensack schleifte quer übern Himmel”. Das ist das Naturschauspiel am Dümmer, wie ihn Joachim erlebt. Andere hätten vielleicht geschrieben: Ein Gewitter kommt auf.
Von Kastel an der Saar ist Joachim nach Diepholz gefahren, trifft sich dort, mit einem alten Kriegskameraden, Erich. Die beiden fahren per Motorrad an den Dümmer, mieten sich in einen Dorfgasthof ein und treffen zwei junge Frauen aus Osnabrück, die hier ihren Urlaub verbringen. Machen sich an sie heran, schlafen mit ihnen. Und dann verlieben sich Joachim und Selma. Und trennen sich.
Viel passiert nicht in dieser kleinen Liebesgeschichte von 1953: Joachim und Selma gehen miteinander schwimmen, fahren mit dem Boot. Er erzählt ihr Geschichten, nennt sie Pocahontas, nach der Indianerprinzessin. Dann ziehen die beiden neuen Pärchen im Gasthof heimlich zusammen – in der Adenauerzeit war das nicht erlaubt.
Aber die paar Tage mit Glück und viel Sex gehen doch schnell vorbei, die Frauen müssen abreisen. Die Männer bringen sie frühmorgens zum Bus: „Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes krochen langsam auf die blutigen Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch:
‚Na, da wolln wer erssma …..‘ und wir marschierten zurück, ‚weiter penn‘: verdammte Fützen!‘ Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.”
Dass diese Liebesgeschichte, eine der schönsten der Nachkriegsliteratur, so unbekannt ist, ist schon seltsam. Oder auch wieder nicht. Denn Arno Schmidt war damals, als er „Seelandschaft mit Pocahontas” schrieb, Avantgarde, und er ist es auch heute noch: Er benutzt selten lange Satzperioden, bricht oft ab, springt von einem Gedanken, von einem Bild zum anderen, wirft Assoziationen in seinen Text und hofft darauf, dass der Leser sie entweder entschlüsseln kann oder sich seine eigenen Bilder dazu macht.
Vor allem seine Naturbeschreibungen sind aufgeladen mit Gedankenverbindungen und Konnotationen, oft vermenschlichen sie die Natur, geben ihnen einen eigenen Willen und machen sie zur bestimmenden Kraft der Atmosphäre im Buch. So sind die Wolken beim Abschied gelbbeulige Maden, das Essen am Abend zuvor ist „Totgeschlagenes und Abgerissenes”. Vorher war es ein grandioses Schauspiel: ein „Wolkenkolosseum (das überall goldene Risse kriegte)”, und vom See aus sahen sie es flimmern „wie Gestade: Bäume aus Rauch geblasen; das Dunsttrapez eines Daches; Schatten wollten unter Gasfontänen: aus heißer Grauluft die Idee einer Küste.”
Ungewöhnlich für die Zeit war auch die poetische, aber dennoch explizite Schilderung von Sex: Im Boot liegend kam sie, ihren Kopf in seinem Schoß, „mit der Schläfe auf etwas Härteres zu liegen (Augen sofort zu!)”, am späten Abend musste er „Fingergezweige zurückbiegen, ehe ich die Tomate mit den Lippen am dünnen kurzen Stiel faßte, daß sie sehr meuterte, vil michel ungebäre, und verschluckte sie dann ganz (…) dann klemmt wieder die mächtige Schenkelzange, (…) Säfte perlten, abwechselnd, oben und unten).” Oder: „Ich trieb, Brust auf Brust, in ihrem rötlichen Teich”.
Seelandschaft mit Pocahontas, illustriert von Felix Scheinberger
Schon das ist unerhört für die bigotten Fünfziger Jahre. Dazu kommen Schmidts Angriffe auf Religion und Politik: „Der ‚Herr‘, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt oder 10 Millionen im KZ vergast werden: das müßte schon ne merkwürdige Type sein – wenn‘s ihn jetzt gäbe!”, heißt es ganz am Anfang. Unter anderem vom Oberstaatsanwalt in Trier wurden Schmidt sein Verleger und sein Herausgeber wegen Gotteslästerung und Pornografie angezeigt: Schmidt zog 1955 nach Darmstadt, wo ein anderes Gericht zuständig war. Das Verfahren wurde 1956 eingestellt.
Es gibt inzwischen viele Ausgaben dieses schönen Buchs, in der Officina Ludi ist jetzt eines mit Illustrationen von Felix Scheinberger erschienen. Scheinberger hat nicht versucht, die vielen hintergründigen Suberzählungen zu zeigen oder die literarischen Anspielungen, die bei Schmidt immer mitlaufen, oder die oft surrealistischen und neologistischen Assoziationen nachzuverfolgen. Scheinberger hat sich ganz an der Oberflächenhandlung orientiert: Er zeigt in brillanten Aquarellen, die manchmal zwei Seiten einnehmen, vor allem die flache Landschaft, den See, die Bäume, den Wind und die Wolken, den Steg bei Nacht mit den Sternen, ein paar Häuser, den Hund „Tell”. Und vor allem immer wieder die Hauptperson, Selma, die Indianerprinzessin. Manchmal mit Joachim, wie sie durch den Abend spazieren, meistens aber allein, und dann fast immer als Akt. Mit ihrer knochigen Figur, den kleinen Brüsten und dem pfiffigen, spitzen, oft nachdenklichen, häufig lächelnden, ruhigen Gesicht, das Scheinberger ihr gibt. Dreht und streckt sich kokett im Wasser, räkelt sich in der Sonne, sitzt im Boot, baumelt mit einem Bein.
Und so wird „Seelandschaft mit Pocahontas” wieder, wie der Titel sagt, eine sanfte, atmosphärisch dichte Liebesgeschichte, mit von innen leuchtenden Farben, einem glücklichen Paar, bis zum Schluss, als der Abschied naht und Scheinberger zwei einzelne Gestalten aus ihnen macht, die sich in Bäume verwandeln, das Herz offen und sehr verletzlich. Aber auch das steht im Text: Die „Hände schnitzelten sorgsam an Spanigem” und „ungefüge Tränen” fließen: „Der Regen machte manchmal Grotten um uns; jeder wandte sich verwirrt in seine ab”.
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