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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ein Blick ins Schreibzimmer

Hamburg

Der Band Schreibzimmer von E.A. Richter, erschienen in der wunderbaren Edition Korrespondenzen, ist anders, als all das, was ich im letzten Jahr, in den letzten Jahren an Gedichtbänden gelesen habe. Zuerst einmal ist er umfangreicher als die meisten, aber das macht ihn noch nicht besonders. Die pure Anhäufung von Quantität erzeugt noch keinen Umschlag. Es muss schon noch etwas hinzutreten.

Die Sammlung ist in sich auch nicht strukturiert, wie ich es inzwischen von Gedichtbänden gewöhnt bin, ihr fehlt eine Unterteilung in Kapitel, und damit die lektürewegweisenden Zwischenüberschriften, von denen wir uns so gern leiten lassen. Aber sie fehlen der Sammlung nicht im Sinne einer Unzulänglichkeit. Sie sind einfach nicht da, weil man sie nicht braucht.

Man geht am besten an der Stelle in die Lektüre hinein, an der man das Buch aufschlägt. Mittig. Was da nämlich als monolithischer Block daherkommt, ist nicht, wie ich vor dem ersten Lesen befürchtete, ein mächtiger Stein, sondern vielmehr kleinteilig. Gekröse. ABER funkelnd zuweilen, und vor allem nicht in dem Sinne handhabbar, dass man die Texte durch eine Ordnung bezwingt. Das muss man schon aushalten können und man braucht Kraft bei der Lektüre. Aber diese Kraft entwickelt sich genau daran. Lesen ist ein körperlicher Akt, das wird nur allzu oft vergessen.

Im Gedicht Licht, Luft heißt es in der ersten Strophe: ich hätte auch im Zimmer bleiben können,/ ich war ja in Paris. Das wäre genug gewesen// …. Was hier so lakonisch daherkommt, zieht sich durch den ganzen Band. Das Abwägen zwischen Innen und Außen, das Verharren und Gehen und zwischen deren Verlockungen, die beide Seiten jeweils bereithalten.

Als solche macht es dem Titel des Bandes alle Ehre. Ein Arbeitszimmer, ein Schreibtisch voll mit beschriebenem Papier und ein Fenster, das sich öffnen lässt, und das ist das Wunderbare, das jedes Mal, wenn man es öffnet, sich eine andere Stadt oder Landschaft zeigt. Manchmal sogar zwei, die ineinander traumhaft verschmelzen, konkret Venedig und Berlin im Gedicht  FEUER AM DACH.

Wenn ich hier einzelne Texte herausgreife und damit heraushebe, dann nicht, weil sie das Ganze repräsentieren würden, sondern ich betrachte sie als Fundstücke einer anhaltenden Lektüre. Als eher zufällige Spotlights. Jeder Text des Buches will im Grunde für sich entdeckt werden. Für das Ganze, gestehe ich, fehlt mir der Überblick. Aber dazu ist das angehäufte Material auch im wahrsten Sinne des Wortes zu vielschichtig. Der Titel des Bandes bringt es schon auf den Punkt, es ist ein Blick ins Schreibzimmer.

E.A. Richter wurde 1941 geboren und lebt in Wien. Von 1970 bis 1986 war er Redakteur der sicher legendär zu nennenden Zeitschrift Wespennest. Er war als bildender Künstler unterwegs, schuf Videoinstallationen, Gedichte und Romane. Und natürlich spielt das Alter im vorliegenden Band auch eine Rolle. Altern sei nichts für Schwächlinge, habe ich kürzlich irgendwo gelesen oder gehört. Wenn dieser Prozess, dem wir alle nicht entgehen werden, durchschossen wird von humorvollen Gedichten, werden wir das Unvermeidliche schon aushalten.

Gegen Ende des Bandes finden sich denn auch einige Texte, die eben jenes mit uns alternde Ich relativieren. Die es gewissermaßen als Reflexionsmaschine in die Dingwelt stellen. Das ist etwas, was wir Nichtwiener von den Wienern lernen können und sollten, dass man, wenn man sich selber weniger ernst nimmt, im morbiden Humor entwickeln kann, ja muss. Das letzte Gedicht des Bandes sei hier vollständig wiedergegeben, denn es bringt so einiges auf den Punkt:

KEIN ICH

heute kein Ich, das Ich gelöscht
Das falsche Ich, das sich ausbreitend
immer noch Ich sagt, ein großartiges
weithin hallendes Ich. Ich über den
Wipfeln und Gipfeln, wohin
keine Autos fahren, auch
nicht im Traum. Ich im nächtlichen
Aufschrei von Vögeln, in Möbeln,
Werkzeugen, Papieren – ich
auf Festplatten, Massenspeichern.
Ich, dieses unwissentlich geräuberte und
adaptierte Ich, auch in den Büchern
im Koffer, der sich ganz von selbst öffnet.

E.A. Richter
Schreibzimmer
Edition Korrespondenzen
2012 · 160 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-902113948

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