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Kritik

„Alle Eulen“ von Filip Florian

„Zunächst fiel, nach Neujahr, das Glück vom Himmel.“ ...
Hamburg

... mit diesem zauberhaften Satz eröffnet der rumänische Autor Filip Florian den Reigen.

Das Glück ist in diesem Fall Schnee, tagelanger alles überdeckender Schneefall, und so lässt er seinen jungen Helden Lucian (genannt „Luci“) gleich eingangs auf die List eines Nachbarmädchens hereinfallen, die ihm vorschlägt, gemeinsam einen Tunnel aufeinander zu zu graben. Der Einzige, der gräbt ist schließlich Luci, während sie ihm am anderen Ende eine Nase dreht. Und doch bleibt es für ihn Glück.

Filip Florian hat mit „Alle Eulen“ einen solch schönen Roman geschrieben, dass ich ihn hier nur über die Maßen loben kann. Es ist ein Roman jener seltenen Art, die witzig und zugleich klug sind. Er ist ein intelligenter Erzähler, der seine ernsten Themen mit verschmitztem Humor spickt und genau das richtige Maß dabei findet. In der Tat könnte man die Geschichte um den Jungen Luci als einen Schelmenroman bezeichnen, gleichzeitig ist es ein Bildungsroman und, es mag kitschig klingen, eine große Hommage an die Freundschaft.

Luci, ein aufgeweckter Junge, am Anfang des Romans 11 Jahre alt, lebt in einer kleinen rumänischen Stadt in den Karpaten. Er verbringt die Zeit mit seinen Freunden auf der Suche nach Abenteuern und ist keinem Streich abgeneigt. Durch die Begegnung mit Emil, einem älteren Herrn, der aus Bukarest in die Ortschaft zieht, verändert sich einiges. Nach einem von Lucis Streichen schützt Emil den Jungen vor der Strafe eines aufgebrachten Nachbarn. Damit ist der Grundstein zu einer besonderen Freundschaft gelegt. Emil lädt Luci zu sich ein, sie reden, Luci plaudert am meisten, gern auch über den aktuellen Dorfklatsch. Emil führt ihn im Laufe der Zeit in die Literatur und die Musik ein, spielt ihm Mozart oder Janis Joplin vor und leiht ihm Romane von Gogol oder Vian, und so eröffnen sich für Luci neue Welten. Und Emil kann mit Eulen kommunizieren. Auf ihren Streifzügen durch die Wälder lernt Luci alles über die Sprache der Eulen, und das sind ganz besondere Momente im Roman.

Emil ließ ihn nicht aus den Augen, er war sehr bleich, ständig änderte er den Klang und den Rhythmus jener merkwürdigen Schreie, die Eule wiederum starrte aus der Blätterkrone auf ihn herab, reglos, den Kopf zur Seite geneigt, und antwortete stets anders. Sie hatten sich gewiss wichtige Dinge zu sagen, von denen ich nichts verstand, ich saß da wie gelähmt, atemlos, und wurde gewahr, wie auch die Gesichtszüge des Mannes neben mir einen beredten Ausdruck annahmen.

In der weiteren Handlung entdeckt Luci auf Emils Schreibtisch ein in gelbes Leinen gebundenes Notizheft. Emil schreibt darin über die schicksalshaften Ereignisse seines Lebens, was dem Roman auch eine melancholisch-tragische Note verleiht. So erinnert er sich im Laufe der Geschichte immer wieder an die schlimme Zeit seiner Kindheit, als der Vater von der Securitate abgeholt wurde und auch der Großvater inhaftiert war, die Mutter mit der Großmutter und den beiden Söhnen auf sich selbst gestellt waren. Es ist die Zeit der Verstaatlichung des Privateigentums, die Familie verliert Haus, Geschäft und das geliebte Reitpferd. Der Großvater, ein stadtbekannter Juwelier in Bukarest, wird nach einem Jahr vorzeitig aus der Haft entlassen, muss jedoch als Gegenleistung für gewisse Damen aus den Kreisen der Machthaber feinsten Schmuck anfertigen. Der Vater, ein Lehrer, kommt erst nach vier Jahren unter Zwangsarbeit zurück.

Eigentlich sah Großvater, wenn er arbeitete, las oder in die Stadt ging, nicht aus wie ein Vogel, aber ich nehme an, sooft er neue Ziele erreichte, wuchsen ihm Flügel, wenigstens für einen oder gar mehrere Augenblicke. Gesehen habe ich sie nie, aber mir kam es hin und wieder in einem der Zimmer oder in der Werkstatt vor, als hörte ich sie rauschen.

Die Handlung des Romans wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Der Autor lässt den Leser zwischen den beiden Geschichten Emils und Lucis hin und her pendeln, so dass letztlich beides ineinanderfließt, Zeiten und Ereignisse nicht mehr deutlich zuordenbar sind.

Sobald aus der Sicht des Jungen erzählt wird, erkennt man das allerdings sofort am flotten Sprachgebrauch. Wechselt die Erzählperspektive, verändert sich auch der Ton. Man spürt die Fabulierfreude des Autors und seine Lust an der Sprache in jedem Satz. Besonders stark kommt dies in den bilderreichen Schilderungen von Lucis Eskapaden mit den Freunden zur Geltung:

[…] aber nichts hinderte mich daran, den Champagnerflaschen das Fliegen beizubringen. Ich nahm sie in beide Hände wie Taubenküken, erklärte ihnen den Flügelschlag, hielt sie aus dem Fenster und gab eine nach der anderen frei, damit sie aufflogen. Sie flogen nicht auf.

Ich habe immer wieder schmunzeln müssen über die Erlebnisse des Jungen, ja, ich habe ihn geradezu ins Herz geschlossen. Und das lag ganz sicher an der Ausdruckskunst des Autors – er hat eine sehr eigene Art, durch seinen Humor tiefere Schichten im Leser zu erreichen. Aus der Kinderbande wird schließlich eine Clique von Jugendlichen, die Interessen verlagern sich. Plötzlich stehen Mädchen im Blickpunkt. Luci macht diesbezüglich seine ersten sinnlichen Erfahrungen. Alles scheint sich zu verändern. Doch von Bestand bleibt die Verbindung Lucis zu Emil.

Oft nur andeutungsweise und wie nebenbei erfährt der Leser etwas über die Repressalien unter der Militärdiktatur Ceaușescus und wie sich das Leben nach der Zerschlagung des Regimes wandelt. „Alle Eulen“ ist kein politischer Roman. Im Mittelpunkt steht letztlich die Natur und ein kleiner Ort in den Karpaten, wo die Uhren ganz anders schlagen als in der großen Stadt Bukarest. Es wird von der starken Anziehungskraft und der Wildheit der Berge und Wälder erzählt, der Nähe und Verbundenheit zwischen Mensch und Tier.

Ich mutmaße Folgendes: Wildtiere haben in ihren Krallen und Hufen einen kleinen Knopf, den die Zoologen noch nicht entdeckt haben, und den betätigen sie mit jedem Schritt, wobei sie eitel Freude verbreiten. Anders kann ich mir nicht erklären, was mich plötzlich packt, wenn die Rute eines Fuchses kupfern aufleuchtet, wenn das Geweih eines Hirsche durch den Mittagsglast oder den Morgennebel stößt […]

Eines Tages trennen sich dann doch die Wege. Lucian arbeitet mittlerweile zurückgezogen auf einer Wetterstation im Gebirge. Emil lässt dem Freund jedoch sein Notizheft zukommen, in dem er auch von seiner großen Liebe Lia erzählt, von ihrer beider Beziehung, die tragisch endete und von der Tochter Irina, die ihm immer fremd geblieben war, weil er als Ingenieur überall im Land umherzog, dahin, wo es gerade Arbeit gab. Viel später, als sie ihm zu einer notwendigen Herzoperation in Paris verhilft, wo sie mit ihrem Sohn lebt, begegnen sie sich wieder. Doch der Enkel lässt ihn nicht an sich heran. So entsteht eine Ahnung, weshalb die Freundschaft mit Luci so wichtig und innig ist. Emil legt seinen Aufzeichnungen ein weiteres Notizbuch bei, ein leeres ... Und Lucian beginnt zu schreiben.

Doch Filip Florian will auch Verwirrung stiften. Anfangs gibt es klar getrennte Erzählstränge. Je weiter jedoch die Handlung fortschreitet, desto unsicherer wird das Terrain, was die beiden Protagonisten angeht. Irgendwann schleicht sich schließlich die Idee ein, das Emil und Luci womöglich identisch sein könnten. Hat sich hier der Autor mit diesem Roman aus zwei Figuren ein Alter Ego erschaffen?

Alles in allem verbreitet Filip Florians Roman bei der Lektüre eine ganze Menge „eitel Freude“ (O-Ton Luci).

 

Filip Florian
Alle Eulen
Übersetzung:
Georg Aescht
Matthes & Seitz
2016 · 213 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-95757-221-9

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