Reise durchs vergangene Europa
Immer mal wieder erscheint ein Buch mit Erzählungen, Prosaminiaturen oder ein Roman, in dem der Alltag der Menschen zwischen Jahrhundertwende und einbrechendem Faschismus die Hauptrolle spielt, der Alltag also, der, wie es scheint, durch die Barbareien des vergangenen Jahrhunderts nur noch als eine Erinnerung durch die Brille eines Erzählers wahrgenommen oder rekonstruiert werden kann. Zu viele Traditionen sind zu einem Ende gekommen oder wurden auf martialische Weise abgewürgt. Ein Zivilisationsbruch hat stattgefunden, und wir stehen auf der anderen Seite der eingestürzten Brücke und versuchen, ein wenig von dem zu vergegenwärtigen, was an sich für immer verloren ist. Eine Vergeblichkeit, aber eben auch nicht.
Dass die Hinwendung zu einer verlorenen Vergangenheit mit einer gewissen Sentimentalität verbunden ist, scheint mir allzu natürlich. Das Grundgefühl der Verlorenheit durchzieht die besten literarischen Erinnerungsbücher, von Franz Hesses „Kramladen des Glücks“ über Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“ bis zu Canettis Autobiografie, deren erster Band fast programmatisch „Die gerettete Zunge“ heißt. Allerdings sind die genannten Bücher alles andere als sentimentale Erinnerungen an eine unschuldige oder heroische Zeit wie es die Memoirenschriften ehemaliger Politiker und Militärs darstellen, denn sie wurden eben nicht von alten Herren im Lehnstuhl diktiert, sind keine Alterswerke, sondern allesamt einem Selbst- und Zeitverständnis gewidmet, dem Versuch einer historischen Selbstaufklärung gewissermaßen , oder eben subjektive Geschichtsschreibung, wie Benjamin es einmal formulierte, und sie sind dabei Zeugnisse hoher Kunstfertigkeit, auch wenn sie nicht in einer ebenen Oberfläche aufgehen. Diese Produkte sind immer und unmittelbar von den Realien der Geschichte durchgeschüttelt und bewegen sich in einem Irgendwo zwischen Erzählung, Roman und Essay. Hier reiht sich für mich nun auch Francois Fejtös Roman „Die Reise nach Gestern ein“.
Fejtö selbst wurde 1909 als Ferenc Fischel in einer ungarisch-jüdischen Familie geboren, die nach dem Zerfall der KuK Monarchie sich in die verschiedensten Nationalitäten aufspaltete. In Pecs studierte er Geisteswissenschaften, organisierte einen marxistischen Studienkreis und wurde deshalb mit einer einjährigen Haftstrafe belegt. Er wurde Sozialdemokrat und engagierte sich gegen faschistische Tendenzen in Ungarn. 1938 musste er emigrieren, um einer erneuten Inhaftierung zu entgehen.
Quelle: Matthes und Seitz
Er ging nach Frankreich und schloss sich dort während der deutschen Besatzung der Résistance an. Nach der Befreiung arbeitete er für die Ungarische Botschaft in Paris.
Während stalinistischer Schauprozesse wurde sein Jugendfreund Rajk zum Tode verurteilt, und nach der Niederschlagung der Ungarischen Regierung unter Imre Nagy und dessen Ermordung brach er mit Ungarn und kehrte erst nach Nagys Rehabilitierung besuchsweise nach Ungarn zurück.
Fejtö verfasste ein umstrittenes Standardwerk zur Geschichte der osteuropäischen Nationaldemokratien und war bis zu seinem Tod 2008 als Historiker und Publizist tätig.
Die Entstehung des vorliegenden Buches selbst ist eine interessante Geschichte, die Agnes Relle, die hervorragende Übersetzerin, in ihrem Vorwort kurz umreißt. In der inzwischen legendären Budapester Zeitschrift Nyugat (Westen) erschienen Fejtös Reiseimpressionen unter dem Titel „Zagreber Tagebuch“. (1989 veröffentlichte der Leipziger Reclamverlag übrigens unter dem Titel „Nyugat und sein Kreis“ eine äußerst spannende und lesenswerte Ausgabe mit ausgewählten Texten dieser Zeitschrift.) Aufgrund der Veröffentlichung in Nyugat wurde der Verleger László Dormándi auf Fejtö aufmerksam und bewegte ihn zur Niederschrift des Buches.
Und in dem Maße, wie das Buch sich entwickelte, gesellte sich zu den familiengeschichtlichen Entdeckungen, zum Genuss der Landschaft an der Adria und der Erleichterung über die Befreiung aus der Haft auch die Freude über eine andere Befreiung, die Befreiung aus den ideologischen Fesseln, der sektiererischen Gruppierung, der ich mich schon vor meiner Verhaftung entfremdet hatte... schreibt Fejtö über seine Arbeit an diesem Buch.
Der Icherzähler in Fejtös „Reise nach Gestern“ begibt sich zunächst an die Orte seiner Kindheit. Er ist mittlerweile Mitte zwanzig und Schriftsteller. Er entstammt einer Ungarisch-Kroatischen Familie aus Zagreb. Die Sprachen, in denen man sich unterhält, sind Ungarisch, Kroatisch, das der Erzähler wenig oder schlecht versteht, und Deutsch.
Anlässlich einer Begegnung mit einem Bauarbeiter wird der Sprachengpass eindringlich vorgeführt. Der Erzähler fragt nach dem Weg und bekommt zur Antwort ein politisches Statement und ein Bekenntnis zu Macek. Es ist die Zwischenkriegszeit, in Kroatien schickt sich die Bauernpartei unter seiner Führung an, die Regierung zu übernehmen. Macek vertrat eine nationale Politik jenseits von Kommunismus und Faschismus, also der beiden Strömungen zwischen denen Europa bald aufgerieben werden sollte.
Diese ganze Bewegung ist ein Spiel, sie hat etwas Naives, Kindliches, etwas Romantisches und unerklärlich Ergreifendes, ein imposantes Spiel, es passt zu einem jungen Volk, und anscheinend ist es weder sehr schädlich noch gefährlich. Aber sie spielen mit dem Feuer, diese Iren Mitteleuropas. So heißt es an anderer Stelle, nachdem der Erzähler eine Demonstration jugendlicher Anhänger der Bauernpartei beobachtet hat.
Geschickt lässt Fejtö politische und gesellschaftliche Entwicklungen in seinen Text einfließen, indem er uns nach und nach die einzelnen Mitglieder seiner Familie vorstellt: den ledigen Onkel Otto zum Beispiel, der kroatischer Nationalist ist und gleichzeitig so etwas wie das Oberhaupt der Sippe. Schrullig und liebenswert. Oder die Schauspielerin, Opern- und Operettenprimadonna Erika Druzovic, wahrscheinlich eine Cousine, die von einem dicklichen Herren gestalkt wird und ihren Abschied vom Zagreber Theater groß in Szene setzt, obwohl sie am Morgen erfahren hat, dass das Theater in Danzig, das sie engagierte, pleite gegangen ist und ihre Zukunft als Künstlerin alles andere als sicher.
Dem Leser wird klar, dass er sich in einer Zwischenzeit befindet, in der sich die Jungen europäischen Nationalstaaten nach dem Zusammenbruch der KuK Monarchie konstituieren. Sie werden nicht zur Entfaltung kommen, jedenfalls nicht zu einer freien. Gleichzeitig werden wir Zeuge der Entwicklung des politischen Selbstverständnisses des Protagonisten jenseits von Religion und Nationalismus. Dass auch deren Ergebnis nur ein vorläufiges sein kann, wissen wir aus dem Fortgang der Geschichte.
Seine Reise durch Jugoslawien wird zu einer Reise zu sich selbst. Und es ist letztlich unsere Geschichte, aus der wir lernen können, wie ein Europa der Zukunft beschaffen sein soll, wie wir Nationalismen und Dogmen hinter uns lassen können, damit Europa zu dem wird, was wir Heimat nennen, und von dem Ernst Bloch am Schluss des Prinzip Hoffnung sagt, es sei das Land, in das jeder zurück wolle, in dem aber noch nie einer gewesen ist.
Am Ende des Buches findet sich ein Fotoalbum mit Lichtbildern der Protagonisten, zum Teil in ihren Volkstrachten oder nationalen Uniformen. Eine spannende und zuweilen rührende Zugabe.
Fixpoetry 2012
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