Wahn oder Wirklichkeit
Dieser Roman beeindruckt durch seine unerbittliche innere Dynamik, mit welcher er den Leser in seinen Bann schlägt. Es leuchtet unmittelbar ein, daß der 1903 in Sankt Petersburg geborene Autor die dargestellte Szenerie, das Paris der 1920er und 1930er Jahre, aus eigener Anschauung kannte. Wie der namenlose Ich-Erzähler im Roman hatte sich auch Gaito Gasdanow als junger Exilant im Milieu der russischen Emigranten bewegt.
Der vorliegende Roman beginnt mit einem tödlichen Absturz in den Bergen. Zugleich lebt der Akteur weiter. Eine Absurdität, der bald weitere folgen sollten. Den Ich-Erzähler plagt eine Art von Geisteskrankheit, die ihn in verschiedene Lebensumstände versetzt und denen er gnadenlos ausgeliefert scheint. Es sind Phantomwelten der eigenen Art: „Ich konnte für meine Handlungen nicht voll und ganz verantwortlich sein, konnte mir der Realität des Geschehenden nicht sicher sein, es fiel mir oft schwer zu bestimmen, wo die Wirklichkeit endete und wo der Wahn begann“.
Und dann wiederum zieht sich das Schicksal des jungen Ich-Erzählers wie ein roter Faden durch die dargestellten Spiegelwelten. In besonderer Weise bedeutungsvoll sollte sich eine zufällige Begegnung mit einem verwahrlosten Pennbruder auf das weitere Leben des Erzählers auswirken. Einige Jahre später laufen sich beide zufällig wieder über den Weg. Aus dem Penner war ein kultivierter älterer Herr namens Pawel Alexandrowitsch Schtscherbakow geworden, den eine Erbschaft unvermittelt reich gemacht hat. Fast jede Woche besuchte der junge Student fortan seinen weit älteren Bekannten in dessen Appartement, das Behaglichkeit und Ruhe ausstrahlte. Er genießt den Kosmos der Themen und ganze Abende unterhielten sie sich „über den Buddhismus, über die Malerei Dürers, über Russland, über Literatur und Musik, über die Jagd, darüber, wie Schnee bei Frost klingt, wie ein Streifen Mondlicht auf der Meeresoberfläche bebt, darüber, wie Bettler auf den Straßen sterben und wie Krüppel leben, über die städtische Zivilisation Amerikas und über den Gestank in Versailles, darüber, dass manchmal ungebildete und verbrecherische Tyrannen die Welt regieren und dass auf Erden das apokalyptische Grauen, welches eine jede Epoche der menschlichen Geschichte kennzeichnet, anscheinend so unvermeidlich ist wie abscheulich“.
Im weiteren Verlauf des Romans finden zwei Morde statt, ein realer und einer, der nicht vollzogen wurde. Eine goldene Buddha-Statuette, die auf Pawel Alexandrowitsch Schtscherbakows Bücherregal stand, sollte fortan eine entscheidende Bedeutung einnehmen. Genauer – die fast nicht sichtbaren Umrisse des Quadrats, die in einer dünnen Staubschicht erhalten geblieben waren. Als hätten Albert Camus und Franz Kafka Paten gestanden, kommt auch in diesem Roman alles ganz anders. Das überraschende Ende bildet zugleich einen unerwarteten Anfang.
Die suggestive Kraft dieses Textes wird neben der packenden Handlung in der sprachlichen Verarbeitung begründet. An keiner Stelle kommt dieser Roman geschwätzig daher. Nüchtern werden Handlungsstränge entfaltet, klar sind Dialoge dargelegt und innere Monologe psychologisch ausdifferenziert. Die artistische Stilistik berückt mit ihrer Sprachkraft, die zum Glück für Autor und Leser von der verdienstvollen Rosemarie Tietze kongenial in das Deutsche übertragen wurde.
Da Gaito Gasdanow, anders als Vladimir Nabokov, mit dem er bereits früh in der Emigrantenszene verglichen worden war, seiner Sprache treu geblieben war, blieb sein Bekanntheitsgrad auf die kleinen russischen Zirkel beschränkt. Dort wurde er allerdings bald schon als Geheimtipp gehandelt, was sich nach der Aufhebung der sowjetischen Zensur in Gorbatschows Reformjahren in seiner russischen Heimat wiederholen sollte. Mittlerweile ist Gasdanow in Russland angekommen und mit einer kommentierten Gesamtausgabe gewürdigt.
Von 1953 bis zu seinem Tod im Jahr 1971 hatte Gaito Gasdanow in München gelebt, wo er als Redakteur für »Radio Freies Europa« arbeitete. Es ist längst überfällig, daß Gaito Gasdanow auch in seiner letzten Heimat dem interessierten Lesepublikum zugänglich gemacht wird. Dem Hanser Verlag und der renommierten Übersetzerin Rosemarie Tietze ist es zu verdanken, daß sich die deutschen Leser bei einem weiteren Roman von dem geheimnisvollen Sog überzeugen können, den diese russische Stimme so meisterhaft in Szene zu setzen vermag.
Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren, hatte nach seiner abenteuerlichen Flucht über die Türkei während der 1920er und 1930er Jahre in Paris gelebt. Er verdingte sich als Hilfsarbeiter und Taxifahrer, während er zugleich sein Studium absolvierte. Vor allem aber hatte er über die Jahre hinweg etliche Erzählungen, Kurzgeschichten, Kritiken und auch Romane geschrieben.
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