Macher ohne Eigenschaften
Einen Roman von Haruki Murakami zu lesen ist wie einen alten Bekannten zu treffen. Einen Schulfreund vielleicht, vor zehn Jahren zuletzt gesehen. Über zwei, drei Bier erzählt er von all dem, was nach dem Abschluss passiert ist. Es ist eine merkwürdig bekannte und trotzdem neue Geschichte. Der eigenen nicht unähnlich und gleichzeitig fremd. Voller Tragik, Melancholie und zerschlagenen Hoffnungen – das Übliche also, und doch wieder nicht. Murakamis Bücher sind so, machen Welten auf, die sonderbar vertraut scheinen und deren Karte für uns doch voller weißer Flecken ist.
So auch Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Es ist Murakamis erster Roman seit dem engagierten Mammutprojekt, dem Dreiteiler 1Q84. Schon auf den ersten Seiten finden sich die typischen Elemente: Ein desparater junger Student verzweifelt am Leben, trinkt Whisky, liest Bücher, hört ab und zu Jazz. Das volle Adoleszenzprogramm, für sich genommen eine alte Leier. In den Details von den Klischees der westlichen Literatur, die Murakami sorgsam studiert hat, abweichend und durch die kulturellen Differenzen für eine westliche Leserschaft mit einem gewissen Exotismus belegt.
Tazaki heißt der junge Japaner, der dort ins Bodenlose fällt und nicht einmal genau weiß, warum. Das heißt, er weiß schon warum. Aber nicht wieso ihn seine vier besten Freunde auf der Welt ver- und damit in dieses tiefe Loch gestoßen haben. Etwa, weil er, im Gegensatz zu ihnen, keine Farbe im Namen trägt? Akamatsu – die Rotkiefer- Oumi – das blaue Meer. Shirane – die weiße Wurzel. Kurono – das schwarze Feld. Er aber: Tsukuru – Machen.
Er ist auch ein Macher, baut sechzehn Jahre später Bahnhöfe und lebt ein einfaches Leben. Ohne viele Interessen, sparsam und rational. Freundet hat er keine. Mit Haida war er zu Unizeiten noch befreundet, kurz nach seiner großen Depression. Aber auch der, Herr Grau heißt er auch, verlässt ihn auch kommentarlos, verschwindet eines Tages, ohne ein Wort. Er kommt nicht wieder, um mit Tazaki über Descartes zu sinnieren oder mit ihm Liszt zu hören. Tazaki, dieser Macher ohne Eigenschaften, er scheint die Menschen um ihn herum abzustoßen und kann sich nicht erklären, warum.
Nur Sara ist anders. Sie mag ihn und er sie. Sie treffen sich, verbringen schöne Abende miteinander, haben Sex. Er kann sich ihr gegenüber öffnen, erzählt von damals, von vor sechzehn Jahren. Als er, der er als einziger nach Tōkyō gezogen war nach dem Schulabschluss, zurück in die Heimat Nagoya fahren und die engsten Vertrauen wiedersehen wollte. Und wie die sich nicht meldeten und ihm, als er zu einem von ihnen durchkommt, deutlich zu verstehen geben, dass ihre Freundschaft beendet ist. Gründe bekommt er keine geliefert.
Sara hört ihm zu, macht sich Gedanken über die tragische, für Tazaki unerklärliche Geschichte, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Mit ihren ruhigen, ausgesucht höflichen Worten gibt sie ihm zu verstehen, dass seine Wunde von damals sich immer noch zeigt. Obwohl er nach der großen Depression, seinem geistigen Tod wiederauferstanden ist. Sich sogar bedeutungslosen, aber langjährigen Beziehungen hingeben konnte. Nein, eines weiß Sara: Den plötzlichen Einschnitt hat er immer noch nicht verkraftet. Er muss die Vergangenheit aufarbeiten. Sonst, so ist sie sich sicher, kann sie auch nicht mit ihm zusammen sein.
So beginnen also Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Jahre werden es eigentlich nicht, sondern höchstens ein paar Wochen, in denen er umherreist, um die vier Freunde aus Jugendtagen zur Rede zu stellen. Zwei von ihnen sieht er in Nagoya wieder, muss aber auch nach Finnland reisen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Die verwischt zunehmend, mischt sich mit seinen Träumen von damals und Erzählungen von anderen. Tazaki beginnt zu zweifeln, an sich und der Realität. Hat er eine Frau vergewaltigt? Sie sogar ermordet, Jahre später? Er weiß es nicht, er weiß gar nichts mehr. Und je mehr er herausfindet, desto größer wird die Unsicherheit.
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki weist alle Elemente eines typischen, so unvertraut-vertrauten Murakami-Romans: Er ist von Traurigkeit durchzogen, voller Metaphorik und Dialogen, die ihrer höflichen Distanziertheit und metaphorischen Aufladung zum Trotz große Fragen stellen. Antworten gibt es, wie so häufig bei Murakami, der von manchen ein magischer Realist genannt wird, kaum welche. Oder höchstens unbefriedigende. Sein Schreiben lebt von Anspielungen und undurchschaubarem Symbolismus. Er benutzt vertraute Topoi, recycelt das eigene Werk und schafft Anhaltspunkte für seine Leserschaft – lässt sie aber nur mit verschwommenen Eindrücken zurück.
Was ihm an anderer Stelle auf diese Art meisterhaft gelingt, das zieht sich in Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki zäh dahin. In der ungemein dichten Atmosphäre des Romans verheddern sich die Fäden, die ihn lose durchziehen. Ganz so, als wüsste Murakami ebenso wenig wie sein Protagonist, die Frage nach dem Warum zu beantworten. Die Wahllosigkeit scheint sich breit zu machen, der Symbolismus nimmt überhand, macht sich selbstständig. Das Vertraute, das Murakamis Erzählwerk zu eigen ist, es wird von einer Schwammigkeit abgelöst, hinter der seine erzählerischen Fähigkeiten verblassen.
Am Ende des Romans hat sich, und das ist bei Murakami ebenfalls häufig der Fall, kaum etwas gelöst. Tazaki steht zwar nicht mehr mit leeren Händen da, ob sich seine Wunde jedoch geschlossen hat, das bleibt zu bezweifeln. Sara, die erste Frau in seinem Leben, die er womöglich liebt, ist zum Greifen nah. Trotzdem wirkt alles so, als habe der eigenschafts- und farblose Herr Tazaki erneut kein Glück. Ungefähr so, als hätten die Opfer, die er im Laufe seines Leben gebracht hat, die Götter, welche sie besänftigten sollten, nicht erreicht. Ein trostloses Ende? Vielleicht insofern, als dass es, wie sonst bei Murakami der Fall, nicht dazu anregt, die Geschichte selbst weiterzuspinnen, den alten Bekannten von damals zum Freund von Heute zu machen.
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