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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Unendliches, aber rasch! · Nancy · Was tun?

Hamburg

Es gab schon übersichtlichere Zeiten; oder nein, es gab schon Zeiten, worin die Unübersichtlichkeit nicht so augenscheinlich war – und es gab schon Zeiten, da war, was unübersichtlich war, auch irrelevant, wenn man nicht einer „Fernsten-Liebe” nachhing, die Nietzsche mit einem, wie man gerne vergißt, ironischen Komparativ formulierte: „Rate ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rate ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!”

Also nochmals: Wir leben in unübersichtlichen Zeiten, worin aber Vorgänge zu bemerken sind, die zu besagen scheinen, daß diese folgenreich mindestens so sehr wie in ihrer Komplexität undurchsichtig sind – und selbst da, wo man sie versteht, ist es schwierig, sie so zu lenken, wie es angezeigt wäre.

Denn das Perpetuum mobile von Waffen- und Kriegsexport für billiges Öl aus den zerrütteten Gebieten ist leicht zu verstehen, aber wieso es sich perpetuiert, wenn es gegen jeden Konsens der zivilisierten Welt ist, das versteht man weniger, oder: Verstünde man, daß noch immer Wohlstand (transformierte oder outgesourcte) Sklaverei verlangt, wie könnte man dann angesichts der Abwägung, der die Klimaanlage im Reihenhäuschen wichtiger ist, als das Elend jener, die erst, wenn sie als Flüchtende nebenan untergebracht werden, von Interesse zu sein scheinen, (1.) zeigen, daß die Abwägung schon an sich da obszön ist, um (2.) dann wenigstens das Resultat der Abwägung zu ändern?

Und auch die nachhaltige Zerrüttung der Erde versteht man – daß da wenige erheblich verdienen; aber versteht man, daß diese so leben, als gäbe es eine Arche, die sie vor der Verwüstung letztlich rettete, die längst nicht lokales Elend ist, neben souveräner Ortswahl derer, die man darum Jet Set nannte..? – Wenn man verstünde, daß Donald Trump sein Vermögen nur erbte und sein Beitrag dazu sein Unvermögen war und ist, daß er in Zeiten des Neofeudalismus der Globalvertrottelung ein Gesicht gibt, wie könnte man dann aber reagieren, wie eine Bildungspolitik begünstigen, die einen vitalen demos hervorbringen kann?

Kurzum: Was tun? – Und eben dies ist der Titel des Bandes von Jean-Luc Nancy, Que faire? heißt er, er erschien 2016 und liegt nun auch übersetzt vor.

Erstens: Man könne an weniger anknüpfen, als es scheint. Arbeitslosigkeit ist vor allem dann, wenn man „Vollbeschäftigung” fetischisiert, ein Problem, beispielsweise, wir sind schon mit unseren Begriffen, die die Probleme benennen, mitten in den Problemen, „technische Katastrophen und Naturkatastrophen” sind nicht mehr zu unterscheiden, eine „wiedergefundene” Demokratie wird es auch nicht geben, wir hatten sie nie, hatten den demos nur als Impetus zu dem, was er sei… „Die »radikalsten« […] Revolten sind auch die idealistischsten und unrealistischsten”, weil sie Gegenmodelle inszenieren, deren Existenz schlimmstenfalls sediert und narkotisiert, was an Unbehagen gegenüber der Alternativlosigkeit besteht.

Zweitens: Es wird der Dekonstruktion, der Gerechtigkeit bedürfen, endlich, aber natürlich: „unendlich” – statt der Exekution der Beunruhigung, des Aufwachens, des Gesprächs mit denen, die sonst schon als noch Privilegierte marginalisiert werden.

Drittens: „Die Zeit drängt, weil die Aufgabe so langwierig ist…” – Unendliches, aber rasch!

Die Kontinuität, die zu unterbrechen ist, ist eine des Staates und der Kirche; und ihrer „zwielichtigen Bündnisse”, die unter anderem daraus erwachsen, daß beide nicht etwa sich problematisieren, Kirche vielmehr ihren Glauben gebraucht, um einen anderen, der wahrlich ihr Glaube ist, nämlich den an ihre Macht, zu verwirklichen: zwei Liturgien… Und der Staat? – „Der souveräne Staat beruht […] auf einem Missbrauch. Er besetzt eine Stellung, die kein Sterblicher beanspruchen darf. Deshalb kann das Ungeheuer […] im Souverän stets wieder auftauchen”…

Statt Politik also polis und demos, mit Marx, mit Nietzsche, … die „souveräne[n] Insubordination” kurzum, die den souveränen Staat ergänzt, ihn dem annähert, was er sei. Sie als Erkenntnis der „exponentielle(n) […] Aneignung, die anfängt, sich als sinnlos und gefährlich zu erkennen”, zumal, wenn sie, wie es scheint, „kein wirkliches »Subjekt« für ihre Erbeutungen und Erschleichungen” hätte. – Was aber tun? Die Geisteswissenschaften, marginalisiert, wüßte sie es..? Wüßte es die „gefällige” Philosophie? Ist es die Unterbrechung, es nicht zu wissen, zu zeigen, daß man es nicht wissen kann, „das Tun zu tun”, darin sich verbreitende „Vakanzen”..?

Nancy beantwortet dies nicht; man ist ratlos, man bleibt es – aber auf höherer Ebene.

Jean-Luc Nancy
Was tun?
Trans. Martine Hénissart & Thomas Laugstien
Diaphanes
2017 · 108 Seiten · 16,95 Euro
ISBN:
978-3037349212

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