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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Der Gawinski-Sound

Hamburg

Es wird wahrscheinlich der letzte neu erschienene Band der Lyrikedition 2000 sein, den ich lesen werde. Und gerade Jonas Gawinskis Debüt „Die Nacht wächst schnell nach“ eignet sich hervorragend, um traurig darüber zu sein, dass der Allitera-Verlag die Reihe einstellen wird, um zu merken, welch toller Experimental- und Proberaum für lyrische Debüts und Folgebände diese Edition für lange Zeit gewesen ist. Gawinski ist 1995 geboren und ich habe großen Respekt vor dem Mut, der sicherlich aufzubringen ist, um in diesem Alter einen ersten Band rauszukloppen. Freilich lässt sich, wenn man es darauf anlegt, sicherlich einiges finden, das man auf den flüchtigen Blick vielleicht pubertär nennen oder dem man Unreife zusprechen könnte (aber wer ist schon völlig von Reife erfüllt, jemals?), die Texte tragen auch den Furor ihrer Entstehung noch in sich – der Ton aber wirkt klar, kohärent und gefunden, das Geschluderte, als würde es dazugehören, so dass für mich scheint: der Band kommt zur richtigen Zeit (überhaupt finde ich es spannend, dass ich meine, das Alter gleich zu Beginn erwähnen und den Zeitpunkt bewerten zu müssen - warum eigentlich?).

Einen den Band strukturierenden Aufbau oder eine Gliederung der 48 Gedichte konnte ich für mich nicht erkennen (sie sind auch nicht in Kapitel eingeteilt, das erste Gedicht heißt jedoch ziemlich selbstüberzeugt „Offengelegtes Geheimnis“), als ginge es hier eher um die Präsentation einer neuen Stimme und Methode, nicht aber um ihre zu einem Ende gedachte Durchführung: eher Arbeitsmappe und Skizzenblock als Portfolio. Aber genau das hat einen unglaublichen Reiz, das fast selbstherrliche Auflaufenlassen meiner Konzepterwartung (und ich liebe sonst Konzepttexte, sehr). Das Wortmaterial scheint mir erstaunlich konventionell zu sein: viel Gewässer, viel Himmel, Beziehung, Körperteile und Jahreszeiten auf der einen Seite, einige französische Hotels, amerikanische Wüsten, Hochhäuser und Filzboden auf der anderen Seite, Alltagsmarker zudem, oft auch die abgestandene Instantsuppe der Beatpoesie. In vielen Texten finden sich Populär- und hochkulturelle Verweise (Musik: Tom Waits; Kunst: Baselitz, Kokoschka; Film: Vera Cruz), die im Assoziieren auf beschriebene Eindrücke ansetzen.

Um die Poetik Gawinskis zu umkreisen, fielen mir mehrere Anknüpfungspunkte ein: die Kulissen und die Ausstattung mancher Beatniktexte; die dunklen und kühnen Adjektivmetaphern sowie die an ihrer eigenen Symbolik scheiternde Erlösungshoffnung des späteren Bob Dylan (oder die eher ironisch-religiöse Variation bei Leonard Cohen); die weit ausholenden, Abwegiges einbringenden wie-Vergleiche, etwa bei Serhiy Zhadan; ordentlich deutsche Romantik, viel Hämmern an deren poetischen Versatzstücken; die Gewissheit, Mittler eines Fließens kosmischer Liebe zu sein, wie bei Walt Whitman; der plötzliche Wechsel der Stimmungslagen und Zielrichtungen, zusammengebunden in einem kontinuierlich kräftigen Ton, sowie das unvermittelte Neueinsetzen von Ich-Aussagen wie bei Thomas Kunst; das melancholische Konstatieren der alltäglichen Situation  wie bei Nicolas Born; das Abschwingen davon in einen surrealen Bildraum, die umher sammelnde Assoziationsbewegung und ihre markigen Brüche, wie etwa beim Serben Oskar Davičo: an all das habe ich während des Lesens verschiedentlich denken müssen, aber all das kommt dem doch nicht nahe genug oder bezeichnet genau, was sich in mir abspielte bei der Auseinandersetzung mit diesen Gedichten: der Gawinski-Sound!

Was da passiert, ist so merkwürdig wie neuartig und führte bei mir dazu, dass mir eigene ästhetische Annahmen plötzlich weniger schlüssig erschienen, was sehr toll ist. Beim ersten Lesen eines Bandes lasse ich die Texte einfach wirken, schaue, was phänomenal da erscheint, dann überlege ich: was will der Text, auf was weist mich die Stimme hin, was überträgt sich (und soll es das überhaupt). Beim zweiten Lesen gucke ich aufs Handwerkliche, strukturalistisch herangehend, frage mich, ob die Werkzeuge und Mittel tauglich sind. So fetzig im vorliegenden Fall der Eindruck nach dem ersten Lesen war –  im zweiten Durchgang hat Gawinskis Band meine ästhetischen Annahmen ziemlich beben und wackeln lassen. Denn: bliebe ich nur im Modus des analytischen Lesens und dem Fragen nach dem Wie-und-mit-was-ist-es-gemacht, müsste ich für mich antworten: oft fürchterlich und mit schlimmen Mitteln. Zum Beispiel beginnt das Gedicht „Das Gewicht –“ (S. 11) folgendermaßen:

Auf den Fischerbooten, die weinenden Architekten.
Taschentücher liegen wie schmutzige Sonntage
auf dem Steg, aufgewärmtes Holz, Trost umwuchert,
Salz und Silbe verschmelzen,
Zeitung und Wind, doch wir reden im Schlaf
mit den Bauten, die wir nie zähmen konnten.

Außer den „weinenden Architekten“ und dem „aufgewärmten Holz“ (festgrundige Architekten auf wankgrundigen Booten, Weite und Kompaktheit, dieser Raum ist toll, auch weil er den sonstigen Bildbereich irritiert), finde ich in diesen Versen auf den ersten Blick fast alles schrecklich: Weinen, Taschentücher, „Trost umwuchert“ drückt schon arg sentimental auf die Drüse; das Adjektivmetaphorisieren von Wochentagen (auch wenn das „schmutzig“ hier komplett sitzt, noch das Rotzige mit herüber trägt) ist auch Quell unendlicher Wendungen, mit denen sich sicherlich jeder Leser schnell zu identifizieren weiß; der Vers „Salz und Silbe verschmelzen“ könnte auch von Alfred Mombert oder so sein; und ob „zähmen“ für die Bauten unbedingt das beste Wort ist, weiß ich auch nicht so recht. Solche Wendungen finden sich zahlreiche in dem Band, daneben stehen aber Verfahren wie diejenigen, mit denen „Das Gewicht –“ weiterzieht:

Mittelmeer, Ghettos, dein Albtraum baut
den Tag auf, mit schrumpligen Pianistenhänden.
[…]
Die Dämmerung friert ein unter ihrer Norah Jones Stimme.
Nichts mehr zu erbauen, nichts mehr für das man
jetzt noch lebt. Ein Architekt,
küsst das siedende Wasser, Wanderschatten, seine
fliehenden Linien, die wie Taunusglühen
in den verschwommenen Morgen mäandern, vorbei an
Bierbüchsen und heimlich
knisternden Versprechen und länger
werdenden Hundeschatten – –

Der maritime und architektonische Bildbereich wird nicht aufgegeben, aber in eine Übersteigerungsästhetik gebracht, nicht gekonnt ineinander geblendet, sondern gecrasht. Mit Norah Jones kommt der Schatten und brechen auch alle Versuche zusammen, den Bildraum kohärent zu bespielen. Stattdessen: konsequentes Überdrehen des Prätentiösen: fliehende Linien sind wie Taunusglühen, die in einen Morgen mäandern, der auch noch verschwommen sein muss. Uff, aber es funktioniert: ich bin mir sicher, dass das nicht ironisch gemeint ist, aber es wirkt für mich auch nicht ernst gemeint im Sinne eines völligen Vertrauens auf die verwendeten Mittel. Vielmehr: ein Vertrauen darauf, dass alle Mittel, führt man sie nur eng genug zusammen, sich aneinander reiben, überborden und gegenseitig überquirlen, und damit einen befreienden Raum für die Aussprache der innerlich verspürten Liebe öffnen. Denn wenn Menschen in hilfloser Weise sentimental-befindlichkeitssimulierende Klischees für den Ausdruck ihrer Empfindungen benutzen, steht dahinter doch meist ein ehrlicher und schöner Wille, ihre Gefühle herauszulassen, mit jemandem zu teilen. Und hilflos ist die Verwendung von Klischees deshalb, weil sie diesen Versuch eher hemmt oder gar hindert als ihn zu fördern. Gawinskis Texte wirken bei mir, als zielte dieser Wille mit seiner Schönheit direkt durch. Und ich glaube, dass sie das deshalb leisten können, weil sie höchst unterschiedliche Formen für die Selbstaussprache nutzen, und die Stimme in keiner davon völlig aufgeht, sich immer neu erprobt und zurückgeworfen wird auf diesen einen alles verbindenden Willen.
Vermutlich, zumindest glaube ich das, funktioniert auch einer meiner liebsten Gedichte im Band so: „it’s all over now“ (S. 37): V. 1-7 kitschig, die Monotonie von Eintagsfliegen ist „bittersüß“, die Tage sind wie ein „zu oft gespieltes Lied“ in einem Klavier, das darüber hinaus auch noch ausgebrannt ist, Prophezeihungen, die natürlich falsch sind, befinden sich im Haar, das nicht weiß ist, sondern „weißend“ (das Gedicht gruppiert sich um den zentralen Begriff „Hospiz“). Aber die letzten neun Verse rocken, und dann aber richtig (vielleicht das „Ticket in die Hölle“ ausgenommen):

wie unerträglich Müdigkeit
in Strohhüten und Zylindern zu suchen,
stehengebliebene Uhren, Knopfaugen oder
Münzen, die niemals reichen werden,
um ein Ticket in die Hölle zu lösen, ein Ticket in dich.
deine Alte säuft sich voll. Erst trinkt sie deine Selbstgespräche,
dann trinkst du sie. Die Selbstgespräche an verregneten Nachmittagen
oder die Alte?
Ja.

Die gedrängte und überfordernde Türmung bildlicher Verfahren erzeugt irgendwie dieses Rauschen, diesen Sound. Oft: ein adjektivmetaphorisiertes Abstraktum, personifiziert und dynamisiert, das auch noch einen wie-Vergleich bekommt (meist Konkretum), wird mittels einer Verbmetapher mit einem anderen Abstraktum oder einem wiederum adjektivmetaphorisierten Konkretum verbunden, alles mit harten Bildbrüchen:

Versuche verblühte Tage,
wie Taubenfedern ins Unerklärliche zu stopfen
(S: 48)

in den Tulpenkelchen
flockt die temperamentvolle Melancholie, wie
Spanische Dramen
(S. 41)

weidet sich
die lautlose Ungewissheit der Beichtkammer
an meinen Gebeten
(S. 31)

Oder ein Agens in einer Szenerie wird mit weiterem Material in einem Relativsatz angereichert:

Ameisen auf dem Betonhirn, die das weinrote Gras
wachsen hören.
(S. 49)

Es ist  immer diese eine präzise gesetzte Metapher zu viel, die bei mir dieses Schwanken, dieses Unsicherwerden, dieses Kippspiel in Gang setzt, das fasziniert, hier: „weinrot“. Als würde die Stimme ihre Bildfindung immer neu tarieren müssen, mit jedem neuen Vers ein Scheitern wieder möglich sein. Durch diese Unwägbarkeit lösen sich in meinem Lesevorgang auch meine Erwartungen: ich konnte mich einfach nie darauf einstellen, was der nächste Vers bringt.

Das Nebeneinander von Gelingen und Nicht-Gelingen, von blitzender Überraschung und Klischee weist die Bedingungen des poetischen Sprechens selbst im Text aus. Ich war beim Lesen mit dem im Gedicht Sprechenden zusammen auf der Suche nach Ausdruck; allerdings weder verwirrt, wild auf wahllose Gegenstände zeigend, noch mit fest zu erreichendem Ziel: als sei ich in Begleitung gewesen von jemandem, der*die weiß, dass die Suche sinnlos ist, der/die mich aber mit unerschütterlichen und präzisen Zeigegesten in alle Richtungen verweist, Sprechakte, die den Raum des Sagbaren und seine Grenzen durchlaufen.
Vielleicht ist es das, was für mich den Gawinski-Sound ausmacht, der eigentlich bei mir eine körperliche Stimmung ist: dieses Gefühl, dass die Sprache, um sich greifend, punktuell und selten gleichartig, sich in alle Richtungen weitet, als würde sie sich gegen einen Widerstand stemmen, in einem durch Druck von außen immer enger werdenden Raum (ein ähnliches Gefühl habe ich beim Sehen des White Cell Project der aktionistisch-feministischen Wiener Künstlerin Margot Pilz).

Klar gibt es auch viel, was mich schlicht nervt an diesen Texten: diese sich wiederholende Nouvelle-Vague-Szenerie (ein Mann, der spricht und die Perspektive bereitstellt, eine Frau als Femme Fatale, Hure oder Heilige, Zigaretten, Schnaps, Musik und Geraunze über's Vögeln); die leer gekauften Künstler- und Außenseiterposen; das ausgestellt unakademische Authentizitätsgemunkel; das offenkundig Hingeschlonzte mancher Texte, dieses irritierende Selbstbewusstsein, vielleicht sogar Sendungs- oder Geltungsbewusstsein, das ich damit verbinde; der gelutschte Drop der baudelaireschen metaphysischen Spiegelung (das Himmlische in der dreckigen Straßenpfütze); auch:

Weiblichkeit, die lavendelweich
meilenweit ins unberührte Land wächst
(S. 50)

weit weg fahren, Whitmans Grabstein zu streicheln
(S. 43)

Die lyrische Stimme greift völlig unironisch und unüberheblich so oft in die olle Handwerkerkiste für Schmerzens- und Einsamkeitslyrik, bis die Werkzeuge komplett abgenutzt sind, ihre Untüchtigkeit zur Genüge bewiesen haben. Akzelerationistische Postironie oder so. Auch wenn ich keineswegs der Meinung bin, dass so etwas wie eine eigene Stimme, ein selbständiger Ton, oder neuartige poetische Mittel und Verfahren relevante ästhetische Kategorien sein müssen –  was aber in Gawinskis Texten entstehtund gefertigt bleibt, ist etwas Unerhörtes: der unbedingte Wille, diese Schmerzen, diese Liebe, diese Wut und diese Einsamkeit auszudrücken, das Verzagen an der Unmöglichkeit einer Rettung, selbst in der Sprache, und damit auch: absolute Aufrichtigkeit, totale Offenheit hin zum Leser (der Wille der Stimme, ihr Sehnen, sich auszudrücken, ist intuitiv verständlich auch dann, wenn die einzelnen Bilder und Szenen sicher dunkel sind, manchmal hermetisch). Selten wirkt es so, als würden die Trickmittel verwendet, um etwas wie Innerlichkeit mit Hilfe ihrer Klischees zu simulieren, oft aber, als würde das lyrische Ich mit ihnen beginnen, sie dann durchbrechen und seine eigene kulturell bereitgelegte Sprache so weit übertreiben, bis es an den abgelegenen surrealen Grenzen seiner Einbildungskraft ankommt, um auch dort zu begreifen, dass es für seine Regungen, sein Verzweifeln und Sehnen keine originäre Aussprache gibt. Aber der Sprechende geht den Weg, immer wieder, Sisyphos fällt zurück in die bereitliegenden Sprachformen für Emotionen, schiebt seine Bilder immer weiter, sprengt sie wieder im Einsetzen der Stimme, ächzt sich zwischen stimmigen und wackligen Metaphern hindurch, um den felsigen Sprachblock wieder fast bis an den Gipfel zu wälzen.

Ich bin unheimlich gespannt, was darauf noch folgt, welche weiteren Texte kommen werden, glaube, diese Poesie könnte sehr bedeutend werden. Und ich bin süchtig: nach dem Gawinski-Sound (S. 48):

aufgeblühte Melancholie wächst jetzt
bei leichtem Wind, wie Summen, Bienenschatten, ein
nylonschwarzes Gerinnsel ins Nachtwerk, ölig,
Zahnräder, Verse, Versuche verblühte Tage,
wie Taubenfedern ins Unerklärliche zu stopfen,
ein Wunder im Wachschlaf, es träumt von mir und
spiegelt sich so gern in der Alufolie
Schweizer Bergseen, sieh zu, sagt eine Spiegelung,
wie Gewitterwolken Baselitz in deinen Schatten
malen, eine Ahnung vom Kanon alter Menschen,
die in Hundeträumen schwimmen, doch
wer dreht mich, wie die fehlende Schraube
ins Land, ein Pfauenauge, ein
bläuliches Wimmern in Lehndorf.

 

Jonas Gawinski
Die Nacht wächst schnell nach
Lyrikedition 2000
2016 · 60 Seiten · 9,50 Euro
ISBN:
978-3-86906-840-4

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