Eine Chance Shklar zu lesen
Ein wenig muss ich ausholen, um meiner Verwunderung Raum zu verschaffen, dass hierzulande erst jetzt mit einer zaghaften Rezeption von Judith Shklars Werk begonnen wird. Sicher, der Liberalismus hatte es an den deutschen Lehreinrichtungen nie einfach und außerhalb dieser wurde er auf einen einfältigen Wirtschaftsliberalismus zurückgestutzt. Hegel und Nietzsche sahen ihn mit Skepsis und seitens der Linken wurde er zur Herrschaftsideologie des Kapitalismus erklärt. Insofern tut ein Buch wie dieses Not, dass den Begriff des Liberalismus über die Wirtschaft hinaus erweitert und nach den politischen Bedingungen von Freiheit fragt.
Ich studierte Anfang der Neunzigerjahre in Frankfurt am Main Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft. Aufgrund der Tradition, die das Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität beschert hatte, waren die Grenzen zwischen den Disziplinen durchlässig und Professoren wie Jürgen Habermas hatten Doppellehrstühle inne. Es ging um nichts anderes, als die Gesellschaft in ihrer Komplexität zu erfassen und zu verstehen. Also zogen wir zwischen dem inzwischen aufgegebenen Philosophischen Seminar in der Dantestraße und dem mittlerweile gesprengten AfE Turm, in dem sich SoziologInnen und PolitikwissenschaftlerInnen eingenistet hatten, hin und her. Auf halbem Wege, unmittelbar hinter der sogenannten Adornoampel, die uns die sichere Überquerung der Senckenberg Anlage ermöglichte, befand sich das Institut für Sozialforschung.
Dort besuchte ich ein Seminar, das von Iring Fetscher und Andrea Maihofer geleitet wurde und sich mit John Rawls Theorie der Gerechtigkeit auseinandersetzte. Das scheint mir erwähnenswert, weil Rawls und Judith Shklar in den sechziger und siebziger Jahren eng zusammenarbeiteten. Der Name Shklar ist während des Semesters aber nicht ein einziges Mal gefallen war. Auch im Register der Suhrkamp Ausgabe ist er nicht zu finden. Weil ich einmal am Suchen war, zog ich die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas aus dem Regal und fand auch in deren Register nichts.
Es hat definitiv in Deutschland bis heute keine Shklarrezeption stattgefunden. Das mag zumindest bis Mitte der Neunzigerjahre daran gelegen haben, dass sich das Blockdenken auch in den Sozialwissenschaften nach und nach verlieren musste und darüber hinaus ist der unvollendete Prozess, Frauen als gleichberechtigte Wissenschaftlerinnen anzuerkennen, eine Bedingung für deren Rezeption.
Zumindest legt der Verlag Matthes und Seitz langsam die textliche Grundlage. Nachdem er im letzten Jahr die Schrift Liberalismus der Furcht herausbrachte, folgte nun die Essaysammlung Ganz normale Laster.
Shklar selbst räumt ein, dass sie sich mit diesen Texten gewissermaßen noch im vorphilosophischen oder vortheoretischen Raum aufhält. Sie begründet hier noch keine politische Theorie, auch keine Theorie des Lasters, sondern tastet die Bedingungen ab, unter denen eben eine solche Theorie erst denkbar wäre. Darum ist es ihr auch so wichtig, die Grausamkeit an die erste Stelle ihrer Überlegungen zu setzen. Dass das Ziel liberaler staatlicher und nichtstaatlicher Politik, die Vermeidung und Verhinderung von physischer Grausamkeit sein müsse, um den Gesellschaftsmitgliedern ein angstfreies Leben und mithin eine angstfreie Artikulation zu ermöglichen, hatte Shklar schon im Liberalismus der Furcht grundlegend begründet.
Im ersten Essay des vorliegenden Bandes erweitert sie diese Begründung, um auf andere Laster einzugehen. Sie kommt auf Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie zu sprechen und analysiert diese Laster angesichts sowohl philosophischer als auch künstlerischer Lektüren. Gerade der Essay über Verrat scheint mir angesichts des Falles Snowden von enormer Bedeutung, auch Shklars kurzer historischer Abriss über den Paragraphen und seine Handhabung in der amerikanischen Verfassung scheint mir von enormer Aktualität.
So stolz die überwältigende Mehrheit der Amerikaner auch auf ihren Rechtsstaat ist, zwingen sie ihre Prinzipien, eine enorme Vielfalt an Überzeugungen und Loyalitäten hinzunehmen.
Die Frage ist, wie man mit verschiedenen, sich zuweilen entgegenstehenden Loyalitätsansprüchen umgeht.
Neben Montaigne, Machiavelli und Montesquieu kommt sie auch immer wieder auf Shakespeare und Hawthorne zurück, nicht weil sie z.B. in künstlerischen Texten die reale Historie abgebildet sieht, sondern weil in derlei Produkten gesellschaftlich Strukturen und Geisteshaltungen zum Ausdruck kommen. Hannes Bajohr, der den Text hervorragend übersetzt hat, geht in seinem Nachwort unter anderem auf dieses Verhältnis ein. Es ist äußerst interessant über den theoretischen Gehalt künstlerischer Produktionen nachzudenken, über ihren Wahrheits- und Zeitwert. Hier befinden wir uns auf eine Weise ganz in der Nähe zu Walter Benjamin, auch wenn dessen Position sehr weit vom politischen Liberalismus entfernt war.
Bajohr nennt sein Nachwort werkbiografische Skizze. Er berichtet über Shklars Leben und ihre akademische Karriere, ohne einen reduktionistischen Zusammenhang herzustellen, wie es derzeit in biografischen Erzählungen mit wissenschaftlichem Anstrich in Mode gekommen ist.
Shklar 1928 geboren entstammt aus einer zu Wohlstand gekommenen jüdisch-baltischen Familie, die vor der Okkupation des Baltikums durch deutsche und sowjetische Truppen auf eher hohem Niveau lebt. Das äußert sich auch darin, dass die Kinder eine ausgezeichnete Schulbildung genießen und verschiedene Fremdsprachen sprechen. Aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes wird die Lage für die Familie allerdings bedrohlich. Ein häuslicher Unfall kostet Judiths älterer Schwester das Leben. Nur das beherzte Eingreifen eines Onkels bringt die durch das Unglück paralysierten Eltern dazu, nach Schweden zu gehen. Später fliehen sie unter abenteuerlichen Umständen über die Sowjetunion nach Kanada.
Sicherlich prägen diese frühen Leiderfahrungen das Denken Shklars, aber genauso gut wird es geprägt von den universitären Erfahrungen während des Studiums und den Kontakten z.B. zu den Kollegen Berlin und Rawls, und vor allem auch den Erfahrungen als Frau in der Männerdomäne Universität. Zuweilen unterrichtet Shklar Auditorien, die ausschließlich männlich besetzt sind, und immer wieder finden sich bittere Sätze dazu auch im Text.
Aber alle diese Einflüsse schmälern nicht die originäre intellektuelle Leistung ihres Denkens für eine liberale Theorie, deren Rezeption hierzulande dringend ansteht. Und ich hoffe dringend, dass auch die weiteren Werke der Autorin, die im Nachwort erwähnt werden, ihren Weg in den deutschen Sprachraum finden.
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