Jenseits der Grenzen: die Schönheit lohnender Gespräche
Manche Bücher sind Herausforderungen, andere Ergänzungen und einige betrachte ich in erster Linie als Geschenk. Derartige Bücher vorzustellen, entspricht der Formulierung eines Dankeschöns.
Bei der Anthologie „Über den Dächern das Licht“ trifft letztgenanntes in besonderer Weise zu. Weil diese Anthologie in vielerlei Hinsicht einen sehr gelungenen Dialog darstellt. Einen Dialog zwischen Tschechien und Deutschland, den beiden Ländern, in denen Klara Hurková mittlerweile zu Hause ist und ein Zwiegespräch der Dichter dieser Länder. Seit 1991 lebt Hurková in Aachen, ohne die Verbindung zu ihrer Heimat verloren zu haben. Bereits 2007 legte sie die erste deutsch-tschechische Anthologie vor. Jetzt, sieben Jahre später, hat sie 22 Dichter aus Deutschland und 22 tschechische Kollegen zur Mitarbeit eingeladen und alle Gedichte und Kurzgeschichten in die jeweils andere Sprache übersetzt.
Vor allem aber hat Klara Hurková mit der Auswahl und der Aufteilung in zehn sinngebende Kapitel einen Dialog des Lebens mit sich selbst vorgelegt, einen Dialog von den Anfängen bis zum Ende.
Was diese Anthologie für mich so besonders macht, ist die Tatsache, dass die Texte aufeinander eingestimmt zu sein scheinen, sie antworten einander, ergänzen sich. Das liegt ganz sicher auch an der klugen inhaltlichen Einteilung in Kapitel, die den Rahmen einer Lebensgeschichte vorgeben, aber es geht doch darüber hinaus.
Vielleicht liegt einer der Gründe auch in Hurkovás Bekenntnis zu einer subjektiven Auswahl. Im Vorwort schreibt sie: „Trotz dieses Umfangs erhebt die Anthologie jedoch wieder keinen Anspruch darauf, einen repräsentativen Querschnitt des gegenwärtigen literarischen Schaffens in Deutschland und Tschechien darzustellen, sondern bekennt sich zum subjektiven Auswahlverfahren.“
Das Gedicht von Katerina Bolechová, mit dem die Anthologie beginnt, kann man durchaus als Leitsatz verstehen, als Motto, oder besser gesagt, als übergeordnete Haltung, unter denen die vertretenen Gedichte ausgewählt wurden:
Die Poesie befindet sich
in der Phase
des Turbo-Staubsaugers
Es ist nötig
zum Besen zurückzukehren
sich Splitter einzuziehen
Brotkrümel zu kehren
in den Ecken
Das erste der zehn Kapitel trägt die Überschrift „Zwischen uns“. In den meisten Fällen ist dieses dazwischen eine unüberbrückbare Distanz, eine Sehnsucht nach Nähe, deren Nichterfüllung dem anderen zur Last gelegt wird, aber trotz allem gibt es magische Momente, und zuweilen wird daraus etwas Drittes: ein Kind, ein Wesen auf der Schwelle zur Welt, wovon das zweite Kapitel handelt. Hier hat Hurková Raum geschaffen für die Auseinandersetzung mit Vaterschaft und Mutterschaft, sowie mit der eigenen Kindheit. Sehr eindrücklich finde ich in diesem Themenkomplex das Gedicht von Ludwig Steinherr, der sich in „Der Tochter den ersten Apfel schneidend“ fragt, wie seine Rolle als Vater beschaffen ist:
Stück um Stück
halte ich ihr hinohne Kern und Schale
das nackte
FruchtfleischStück um Stück
nimmt sie gläubig
aus meiner HandStück um Stück
verlocke ich sie
zu dieser Weltund weiß nicht
sieht sie in mirGottvater
oder
Schlange?
Die Anordnung der Gedichte beschreibt einen Weg von den Reflexionen der eigenen Elternrolle zurück zum Blick auf die Rolle, die die eigenen Eltern gespielt haben, auch hier bleibt der Kern eines unüberwindbaren Zwischenraums bestehen, dieser Lücke, die nur Liebe füllen kann, oder Poesie.
Mächte, die dafür sorgen, dass es immer noch etwas Unzerstörtes gibt. Um dieses Unzerstörte geht es im dritten Kapitel, in dem Marcus Roloff und Christoph Leisten lyrische Blicke auf Prag werfen, während die tschechischen Autoren näher heranzoomen, ihre Gedichte erzählen vom Prager Jesulein, von Kirchen und Synagogen.
Was folgt ist die andere Seite, das, was zerbrechlich ist: Hoffnungen, Haltungen, Menschenleben. Und aus den Rissen hört man „Die Stimmen der Vergangenheit“ (so die Überschrift des vierten Kapitels)
Norbert Hummelt überschreibt eine Feldpostkarte aus dem Zweiten Weltkrieg mit der Gegenwart eines Gedichtes, insgesamt bilden die Gedichte dieser Gruppe einen Nachlass, der sich in der Notiz aus dem Gedicht „Der Fall Madonna“ von Jakub Zahradník zusammenfassen lässt:
„Nun gestaltet sich die Lebensgeschichte
als ein unendlich langes Warten,
um zu vergessen das Leben,
das war.“
Im fünften Kapitel werden die „Gespräche mit Gott und dem Teufel“ fortgesetzt. Mit Goyas Bildern und Gaponenkos Gutem Satan bis an den Rand dessen, was gesagt werden kann. Dann bleibt nur noch über die Sprachlosigkeit zu sprechen, über die Zeiten, in denen „Seit Tagen schon keine Zeile“ entstanden ist.
Wie schön man über diese manchmal notwendige Unfähigkeit sich auszudrücken schreiben kann, zeigt Katerina Bolchová:
Es gibt Dinge
über die man nicht
¡K ich nicht schreiben kann
es wäre nur
ein Schreien eines alten Esels
es wäre
einzig ein Klatschen
in einen Fliegenschwarm
Manchmal ist Stille nötig
sich hinsetzen
auf den Boden des Teichs
die Knie umarmen
und dem Wasser zuhören
wie damals
vor der Geburt
Wenn die Worte dann wieder fließen, Zeilen entstehen, brauchen sie manchmal den geschützten Raum „Zwischen den Wänden“.
„Im Licht der Bilder“ versammelt Gedichte, die sich mit Gemälden auseinandersetzen. Das Augenlicht des Betrachters erweckt die Bilder zum Leben. Wie Ludwig Steinherr das Bild der Lesenden am Fenster von Vermeer:
Vermeer
Es gibt das Licht
damit es die Dinge geben kann
Es gibt die Dinge damit es
das Licht geben kannDie Schwangere liest den Brief ohne Worte
Sie liest das Licht und kommt
an kein Ende
Jedes Land auf der gilbenden Karte
ist eben erst entdeckt und sucht
seine FarbeDie Perlen blicken dich an wie Augen
Ein rotes Knäuel Lichtgewirr
rutscht aus dem Klöppelkissen
Wie groß ist die Arbeit das Licht
in das Licht zu verknotenDie Hand ruht aus am halb
geöffneten Fenster
Das Licht ist von innen so stark
Dann erlöscht das Licht, mit Gedichten über den Tod von Van Gogh und Frida Kahlo. Was den Übergang zum letzten Kapitel vorbereitet, das wiederum die Überschrift „Auf der Schwelle“ trägt, diesmal ist die Schwelle zum Tod gemeint.
Die Texte, die sich mit diesem letzten Schritt auseinander setzen, sind allesamt sehr berührend, und lassen eine Art Liebe spüren, von der Clemens Schittkos langes Gedicht erzählt, von dem ich hier nur die letzten Zeilen zitiere:
Und du wirst mich einbetten...
in das Nicht-Gedicht deines Körpers -
eine Art Liebe,
die ich nicht
gekannt haben werde -
eine Art Liebe,
die mich nicht
gekannt haben wird.
Ich bilde mir mit diesem Buch auch ein wenig über Tschechien gelernt zu haben, über die Art, wie man dort lebt und spricht und mit welchem klitzekleinen Unterschied man über dieselben Dinge spricht. Klara Hurková hat mich mit dieser Anthologie teilhaben lassen, am Gespräch ihrer zwei Heimatländer über die Dinge des Lebens.
Mitwirkende: van Bartoš - Kerstin Becker - Margot Beierwaltes - Renata Bellingerová - Miroslav Boček - Birgit Bodden - Kateřina Bolechová - Jarmila Hannah Čermáková - Renatus Deckert - Sylva Fischerová - Manfred H. Freude - Marjana Michailowna Gaponenko - Marianne Glaßer - Ralf Harner - Katarína Hegyesy - Pavel Herot - Andrea Heuser, - Michal Horáček - Norbert Hummelt - Klára Hůrková - Vít Janota - Matthias Kehle - Sina Klein - Vojtěch Kučera - Pavel Kukal - Christoph Leisten - Anton G. Leitner - Janele z Liků - Petr Maděra - Marie T. Martin - Hartwig Mauritz - Lenka Mrázková - Marcela Pátková Linhartová - Marcus Roloff - Walle Sayer - Clemens Schittko - Gerd Sonntag - Ludwig Steinherr - Roman Szpuk - Zora Šimůnková - Irena Šťastná - Julia Weiteder-Varga - Jana Witthed - Jakub Zahradník
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