Heldinnen der Arbeiterklasse
Von ihrem Schriftstellerkollegen Paul Metcalf stammt einer der meistzitierten Kommentare zu Lucia Berlins Werk: „Auf dem Gebiet der Kurzprosa ist Lucia Berlin eines von Amerikas bestgehüteten Geheimnissen. (…) Ende der Rezension.“ Letzteres hat Metcalf natürlich scherzhaft gemeint, und auch diese Rezension soll hier nicht enden. Denn tatsächlich sollte man keine Chance ungenutzt lassen, um auf die hochkarätige Literatur der 2004 verstorbenen Autorin aufmerksam zu machen, die oft in so schnoddrigem Tonfall erzählt, dass es nicht gleich auffällt, wie sehr ihre Geschichten den Geist von Weltliteratur atmen. Berlins großes literarisches Vorbild ist niemand Geringeres als Tschechow, während sie selbst in den US-Feuilletons heute regelmäßig mit den ganz Großen der zeitgenössischen amerikanischen Literatur verglichen wird, vor allem mit den Meistern der Kurzform wie Alice Munro, Raymond Carver und Grace Paley.
Richtig aufmerksam auf die gebürtige Alaskanerin wurde man in ihrem Heimatland erst, als vergangenes Jahr eine Sammlung mit Kurzgeschichten erschien, die in den 60ern bis 80ern entstanden waren und deren Erstpublikation in Zeitschriften und Erzählbänden ihr eine treue, wenn auch bescheidene Fangemeinde sicherte. Dieser von Berlins altem Freund Stephen Emerson zusammengestellte Band trägt im Original den Titel „A Manual for Cleaning Women“. Antje Rávic Strubel fertigte eine treffsichere Übersetzung ins Deutsche an, nur der Verzicht auf den griffigen Titel „Handbuch für Putzfrauen“ zugunsten des etwas Nichtssagenden „Was ich sonst noch verpasst habe“ ist schade – liefert der Originaltitel doch ein schönes Bild dafür, worauf man sich bei der Lektüre einzulassen hat.
Berlins Kurzgeschichten spielen in Reha- und Abtreibungskliniken, in Ferienresorts, Waschsalons und Arbeitervierteln. Kein soziales Milieu, kein menschliches Schicksal ist ihr fremd. Ihre Ich-Erzählerinnen sind fast durch die Bank tragische Gestalten, mit ihren todkranken Verwandten, ihren Süchten, den Missbrauchserfahrungen. Berlins verlorene Figuren kommen bisweilen auch aus der Welt der Besserverdiener und Opernbesucher, wie in der leicht bösartigen, aber wunderbar tragikomischen Geschichte „Eine Liebesaffäre“. Der englische Titel des Bandes lässt schließlich auch einen großartigen subtilen Humor erahnen, der Berlins Protagonistinnen noch in der größten Trostlosigkeit am Leben zu erhalten scheint.
Stöbert man ein wenig in ihrer Biografie, wird schnell klar, dass es sich bei ihren Kurzgeschichten mit den wiederkehrenden Figuren und den Plot-Versatzstücken zumindest in Teilen um Autofiktion handelt. Wohl nicht ganz zufällig tragen ihre Hauptfiguren oft Namen wie Lou, Lu oder Lucille, Kurzformen ihres eigenen Vornamens. Wie das Mädchen aus der Geschichte „Sterne und Heilige“ musste auch Lucia Berlin wegen ihrer Skoliose als Kind ein Metallkorsett tragen, wie einige ihrer Figuren war auch sie alleinerziehende Mutter von vier Jungs, hatte auch sie als Lehrerin, Krankenschwester und Telefonistin gearbeitet. Dass auch die Geschichten von den misshandelnden Familienmitgliedern und der krebskranken Schwester auf wahren Begebenheiten beruhen, möchte man nicht wahrhaben, und doch: Berlins persönliche Erfahrung macht die Texte ungemein zugänglich, weil sie sich nie anmaßt, Deutungshoheit über die fiktionalisierten Anekdoten des eigenen Lebens zu besitzen. Da bleibt viel Raum für eigene Interpretation. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Berlin ihre Geschichten in Orten ansiedelt, an denen sie selbst gelebt hat. Wir reisen mit den Figuren nach Chile, ins mexikanische Grenzgebiet, in den Südwesten der Vereinigten Staaten. Berlins Beschreibungen urbaner Landschaften sind nie wirklich ästhetisch, aber durchaus sehr sinnlich; Gerüche spielen eine große Rolle.
Alles in Mexiko hatte einen Geschmack. Stark nach Knoblauch, Koriander, Limette. Die Gerüche waren intensiv. Nicht die Blumen, sie dufteten überhaupt nicht. Aber das Meer, der angenehme Geruch von moderndem Dschungel. Ranziges Odeur von schweinsledernen Stühlen, mit Kerosin eingeriebenen Kacheln, Kerzen.
Berlin ist brutal ehrlich, das ja, aber ihre Brutalität ist befreiend. Mit körperlichen und seelischen Extremsituationen geht sie literarisch in etwa so um, wie eine ihrer Protagonistinnen die Zähne ihres Großvaters behandelt: Radikal werden sie alle gezogen, auch wenn kein wirklicher Bedarf besteht und alles im Blutbad endet. Lucia Berlin setzt ihn meisterhaft ein, diesen Effekt, den man als eine Art Anti-Katharsis beschreiben könnte. Nach Schreckmomenten enden die Stories oft unvermittelt, ohne Pointe oder befriedigenden Abschluss. Der Leser bleibt in einem Schwebezustand zurück, im Fegefeuer einer von semifiktiven Figuren bevölkerten Prosawelt; Figuren, die weder eindeutig gut noch böse sind und ihm womöglich öfter den Spiegel vorhalten, als ihm lieb ist.
Berlins Stories mit ihrer eigentümlichen Dynamik merkt man an, dass sie „on the road“ entstanden sind, zumindest gedanklich. Wie die Beatniks hat auch Berlin viel vom amerikanischen Kontinent gesehen. Und wie die Beatniks hat sie ein Händchen für kantige Figuren und ungewöhnlich schmucklose Erzählungen, für die das Attribut „unkonventionell“ viel zu kurz greift, da sie vor kaum einem Tabuthema zurückschreckt, darunter Abtreibung, Alkoholismus, Krankheit und Tod. Nicht nur um Tabus, auch um politische Korrektheit und Fassaden moralischer Integrität schert sich die Autorin herzlich wenig. In „Notaufnahme-Notizbuch 1977“ schreibt sie, wie der Notfallcode „Blau“ den Mitarbeitern einer Notaufnahme einen Kick gibt: wie schön, endlich wieder Reanimationen, ein bisschen Leben in der Bude. An anderer Stelle merkt sie lakonisch an: „Roma, das sind gute Todesfälle“. Harte Worte, gemeint ist aber: Die Erzählerin schätzt an den Roma den familiären Zusammenhalt, den unbefangenen Umgang mit dem Tod.
Eine der schönsten, am längsten nachhallenden Stories ist „Stille“. Die Ich-Erzählerin, zu Hause und in der Schule nur Schikanen ausgesetzt, findet in der syrischen Nachbarfamilie Geborgenheit und knüpft vorsichtig eine Freundschaft mit einem der Kinder. Dass diese am Ende zerbricht, ist nicht der kulturelle Unterschied schuld, sondern ein Vertrauensbruch. Berlins beunruhigende, heiter-melancholische Stories haben nicht zuletzt auch eine wichtige Botschaft an eine zunehmend xenophobe Welt im Jahr 2016: Welcher Gesellschaftsschicht, Ethnie oder Generation wir auch angehören: Wenn es um Gefühle geht, sind wir uns alle erschreckend ähnlich.
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