Der Frost ist nah. Der letzte Vogel fern
Auf gerade einmal 35 Druckseiten zeichnet das traditionsreiche Poesiealbum in seiner neuesten Ausgabe die poetischen Lebenslinien des Lyrikers Manfred Streubel (1932-1992) nach, dessen Name heute nur noch den wenigsten Menschen geläufig sein dürfte.
In der DDR war Streubel bekannt als Autor des Liedes der jungen Naturforscher, eines viel gesungenen Kinderliedes, das er in seiner Jugend verfasst hatte. Motiviert wurde er dazu von der allgemeinen Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre, eines durchaus nicht nur staatlich verordneten Zukunftsoptimismus, der sich allerdings in Anbetracht der realpolitischen Entwicklungen innerhalb weniger Jahre bereits in sein Gegenteil, ein gesellschaftliches Klima von Regression und Resignation, verkehrte.
Im Rahmen einer Protestaktion hatte Streubel im Jahre 1956 gemeinsam mit anderen Schriftstellern und Intellektuellen eine Ausweitung ihrer künstlerischen Spielräume und war dadurch in offenen Konflikt zur Staatsmacht geraten. Eine traumatische Erfahrung, die dazu führte, dass sein weiteres Leben ganz im Zeichen persönlichen Rückzugs stand. Zwar gehörte Streubel nicht zu den öffentlich geächteten oder gar verbotenen Autoren, er stand jedoch gewissermaßen für den Rest seiner Tage unter Beobachtung. Nur unter Vorbehalt ließ man ihn an den Rändern des literarischen Lebens gewähren.
Dieser irreversible Vertrauensverlust von Seiten eines Staates, an den er als junger Mensch im Sinne seiner humanistischen Ideale geglaubt hatte, zerstörte seinen Lebensmut und machte ihn selbst misstrauisch und verwundbar.
Manfred Streubel war keine Kämpfernatur. Eine Zeitlang fand er eine Nische als Redakteur einer Kinderzeitschrift, später verlegte er seinen Wohnsitz von Berlin nach Dresden, wo er sich als freier Schriftsteller durchschlug: in zunehmend wachsender menschlicher und literarischer Distanz zu einer Gesellschaft, mit der er sich weder identifizieren konnte noch wollte.
Die tragische Entwicklung des Lyrikers vom jungen Idealisten zu einem zutiefst enttäuschten, von Depressionen gepeinigten Menschen, den der Verrat an der Menschlichkeit – nicht nur in der DDR! − am Ende in den Selbstmord trieb, kann man in dem ihm gewidmeten Poesiealbum 228, dessen Auswahl von Dorothea Oehme und dem Herausgeber der Dresdner Literaturzeitschrift Signum Norbert Weiß vorgenommen wurden, nun eindrucksvoll nachvollziehen.
Die spielerische Leichtigkeit und mitunter Naivität, die seine frühen Gedichte, namentlich seine Kindergedichte, auszeichnet, weicht innerhalb weniger Jahre einem melancholischen Grundton, der allerdings nicht nur seinen besonderen Lebensumständen geschuldet war, sondern seiner inneren Natur entsprach.
Es sind zeitlebens vor allem konkrete Alltagssituationen, die Streubels Gedichten zugrunde liegen und die er auf unaufdringliche Weise ins Existentiell- Paradigmatische wendet. Worum es ihm geht, ist die – um es mit einem Wort Cesare Paveses zu sagen Arbeit des Lebens und zwar nicht im Sinne individueller Selbstfindung, sondern als Frage nach der Möglichkeit ethischen Verhaltens und Handelns im Umgang miteinander. Wie der Mensch dem Menschen ein Mensch sein könnte (und allzu oft nicht ist oder sein kann) – das ist sein Lebensthema.
Seine Protagonisten – der Terminus ist hier gerechtfertigt, da seine Gedichte häufig kleine Geschichten erzählen – sind allesamt Suchende; sie mögen versagen, dennoch aber verraten sie ihre Menschlichkeit niemals vollkommen und setzen noch in ihrem Scheitern ein Zeichen.
Dabei ist Streubel – dies sei nachdrücklich betont − keineswegs ein Moralist, der seine Leser mit Kalenderweisheiten oder Sinnsprüchen abspeist. Seine Gedichte zeugen im Gegenteil von einem hohen Grad an Selbstreflexion. Daraus ergibt sich, dass er vor dem Hintergrund der kaum einzuholenden Komplexität menschlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen niemals Antworten erfindet oder Widersprüche besänftigt.
Manfred Streubel weiß, wovon er spricht, wenn er das Scheitern thematisiert. Er weiß um das Verzagen und die Bitternis, um den ermüdenden Lebenskampf all derjenigen Menschen, die nicht zu Kämpfern geboren sind, ihre Ideale aber dennoch nicht preiszugeben bereit sind.
Wer Streubels Gedichte nicht kennt, der mag sich spätestens hier fragen, was ein solches, durchaus hoch angesetztes moralisches Dilemma noch mit unserer heutigen, von unerbittlichen Überlebenskämpfen geprägten globalen Wirklichkeitserfahrung zu tun hat. Weshalb sollte man die Gedichte eines weitgehend vergessenen Autors aus der DDR lesen, in denen eine Vision des Menschen aufscheint, die derjenigen des funktionalen Menschen, wie sie heute bereits in der Grundschule propagiert wird, diametral entgegensteht?
Vielleicht, so könnte man antworten, um sich eines Verlustes bewusst zu werden: des Verlustes existentieller Fragestellungen als notwendiger Voraussetzung sinnvoller gesellschaftlicher Diskurse.
Was Streubels Gedichte auszeichnet ist nämlich gerade die Verbindung von ästhetischen und ethischen Impulsen. Seine Frage nach den Möglichkeiten des Menschseins erschöpft sich nicht im wohlfeilen Ideal radikaler individueller Selbstverwirklichung, sondern zielt stets auf den anderen und dessen Bedürfnisse, auf Solidarität als Bedingung eines gerechten und friedlichen gesellschaftlichen Miteinanders im Sinne von Martin Bubers Diktum, nach dem alles wirkliche Leben Begegnung ist.
In diesem Sinne sind die Gedichte Manfred Streubels in der Tat altmodisch. Und zwar sowohl, was ihre Formensprache betrifft – bei vielen von ihnen handelt es sich um Sonette – als auch ihre Schauplätze: ein Spaziergang im Wald. Ein Abend in Gesellschaft einer Kerze.
Das ist definitiv nicht unsere Welt der totalen Kommunikation und ununterbrochenen Stimulierung durch visuelle und akustische Reize aller Art. In der allgemeinen Gedankenlosigkeit wahllosen Konsumverhaltens setzen die Gedichte Manfred Streubels auf innere Sammlung und die Bereitschaft zur Selbsterkenntnis im Medium der Poesie.
Unter dieser Voraussetzung ist jeder neue und alte Leser willkommen in ihnen. Mit allen seinen Nöten, Ängsten und Bedrängnissen. Und über alle Grenzen und Ungleichzeitigkeiten hinweg.
Kontakt
Wenn wir uns einem Menschen zugesellen –
wie schnell, ach, machen wir ihn klein und krank.
Weil wir ihm soviel Horizont verstellen.
Erwiderung verlangen, also: Dank.
Wir kommen ihm mit Wünschen und Entwürfen
und lassen ihn nicht mehr auf sich beruhn.
Wie wichtig muß man sein, um das zu dürfen!
Zu wähnen: dir da – wirklich wohlzutun!
Es gibt kein Recht auf ein Infolgedessen.
Und keine Pflicht zu stetem Eingedenk.
Was taugt denn Re-Aktion, die wir erpressen?
Die wirkliche Berührung ist: Geschenk.
Informationen zum Buch: Auswahl Dorothea Oehme, Norbert Weiß (*1949) Stimmen zu Streubel: Hans-Jürgen Dost, Stefanie Golisch, Wulf Kirsten, Dorothea Oehme, Thomas Rosenlöcher, Rudolf Scholz, Hans-Dieter Schütt
Rüdiger Ziemann
Fixpoetry 2017
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