Seine Literaturgeschichte
Marcel Reich-Ranicki – kaum ein Jahr ist seit seinem Tod vergangen, da liegt eine – wie der Verlag schreibt – „ganz persönliche Geschichte der deutschen Literatur vom Mittelalters bis zur Gegenwart“ auf dem Büchertisch. Ein voluminöser Band, über 500 Seiten stark, von dessen Titel uns der Meister selbst anschaut, als ob er uns dessen habe versichern wollen: Ja, hier liegt seine ganz persönliche Geschichte der deutschen Literatur vor.
Nun hat Marcel Reich-Ranicki, der die deutsche Literatur gekannt hat wie kaum ein zweiter, zwar vieles geschrieben, aber eine Literaturgeschichte, vor allem eine solch umfassende gehört nicht dazu (lässt man ein frühes Werk, das der Herausgeber des Bandes, Thomas Anz, erwähnt, beiseite). Stattdessen liegt ein Band mit ausgewählten und chronologisch geordneten Essays, Portraits und Aufsätzen vor, aus dem sich immerhin so etwas wie eine Geschichte der wesentlichen Texte und Autoren der deutschen Literatur ableiten lässt. Zumindest wie sie Reich-Ranicki gesehen hat, oder Leser sie sich – mit der Brille des Autors – zusammenstellen wollen.
Sie nutzen dabei zweifelsohne den extrem kundigen, von seiner Liebe zur deutschen Literatur – wie Herausgeber Anz betont - geprägten Zugriff Reich-Ranickis. Vieles kann man Reich-Ranicki nachsagen, nicht aber dass er nicht alles getan hat, um den Gegenstand seiner Begierde in der kulturellen Öffentlichkeit den Platz einnehmen zu lassen, der ihm seiner Ansicht nach zustand: den ersten.
Der Band und damit seine Leser greifen auf eine fast siebzig Jahre währende Beschäftigung mit Literatur zurück – nicht nur der deutschen, wie er spätestens durch das „Literarische Quartett“ demonstriert hat, dem Reich-Ranicki zwischen 1988 und 2001 vorstand.
Das „Literarische Quartett“ zeigte freilich nicht nur den kundigen Kritiker, sondern auch den streitbaren, der seine Positionen mal polemisch, mal sachlich, immer aber mit vollem Engagement zu vertreten verstand. Und der damit zum Pop-Star der Literatur(kritik) wurde.
Immer noch gehört die Sendung, in der sich Reich-Ranicki mit seiner langjährigen Mitstreiterin Sigrid Löffler endgültig zerstritt, zu den Höhepunkten der öffentlichen Debatte über Literatur. Auch wenn es dabei immer wieder zu (kommunikativen) Schlägen kam, die im boxenden Gewerbe zur Disqualifikation geführt hätten.
Reich-Ranicki war ein zweifelsohne ein streitbarer Literaturkritiker – und ohne ihn ist der Literaturbetrieb ärmer geworden und hat sich ein weiteres Mal geändert.
Nun aber diese, seine „Geschichte der deutschen Literatur“.
Hier erlebt man Reich-Ranicki in allen Varianten, die einem lieb und teuer sind, auch da, wo man ihm vehement widersprechen muss. Wir wissen eben auch, dass wir Liebende nicht nach der Wahrheit fragen sollten.
Dass das Mittelalter bis auf einen kleinen Beitrag zu Walther von der Vogelweide fehlt, der aus der „Frankfurter Anthologie“ stammt (einer samstäglichen kleinen Reihe von Interpretationen, die das Fähnlein der Lyrik mit großem Erfolg und viel Lesevergnügen hochzuhalten versucht), nimmt man ihm nicht übel. Warum auch? Die Literatur der Neuzeit ist vielfältig genug, und der kleine Ausflug in die Körperlichkeit der mittelalterlichen Minnelyrik, ist so wunderbar gegen die – allerdings ältere – Wahrnehmung dieser Texte gerichtet.
Was es hier zu entdecken gibt, kann auch denen überlassen sein, die sich dem älteren Sprachstand und den Mühen des Mittelhochdeutschen überlassen wollen. Das ist kein Luther-Deutsch, das ist völlig anders (eben die Alterität des Mittelalters, der ihre Modernität gegenüberzustellen wäre, wie Hans Robert Jauß vor vielen Jahren betonte).
Auch verweist Anz ausdrücklich darauf, dass sich Reich-Ranicki auch zur jüngsten Literatur des neuen Jahrtausends kaum noch geäußert hat. Der Band endet mit einer Besprechung von Patrick Süskinds Erfolgsroman „Das Parfum“ aus dem Jahr 1981 und einem Text, der anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek publiziert wurde (und in dem sie der Autorin ein nur geringes literarisches Talent attestierte, obwohl er ihren Erfolg durchaus anerkannte). Ein Provokateur, der über eine provokante Autorin zu provozieren weiß? Keine Frage. Dafür schätzen ihn und seine Texte seine Leser – immer in dem Bewusstsein, dass sie es hier vielleicht mit jemandem zu tun haben, dem nicht zuzustimmen ist, der sich aber ungeheuer auskennt.
Wo seine Vorlieben liegen, lässt sich auch in diesem Band erkennen: Brecht gehört dazu, Heine, Kafka, Lessing, Goethe nicht unbedingt. Reich-Ranicki gehörte zu den großen Übertreibern, die genau deswegen geschätzt wurden – sein Grass-Verriss fehlt jedoch, abgedruckt sind zwei Texte zur „Blechtrommel“, die gleichfalls nicht seine unbedingte Zustimmung fand.
Auf Reich-Ranicki lässt sich anwenden, was er in dem hier abgedruckten kurzen Text über Alfred Kerr schrieb, dass er sich als ganz persönliche Versuchsanordnung sah, mit der die Wirkung und damit Qualität von Literatur stellvertretend wahrnahm. Das mag egozentrisch, ja eitel wirken, ist aber zwingend notwendig, gerade weil die Kritik sich, wie Reich-Ranicki wusste wie kaum ein anderer, radikal von ihren Maßstäben befreit hatte.
Übertreibung auch im Lob war nun gleichfalls seine Sache. Mag sein, dass er zu viel von seinen Schriftstellern hielt, anders ist kaum zu erklären, warum er gerade ihnen zutraute, Erniedrigungen, Demütigungen gleich doppelt und dreifach empfinden zu können, wie er dies zu Beginn seine großen Essays über die „Juden in der deutschen Literatur“ als Generalzuweisung (auch der nicht-jüdischen Autoren) schreibt. Schriftsteller sind auch nur Menschen, mit einem spezifischen Handwerk (wenn wir das Genie einen Moment außer Acht lassen dürfen). Und ob sie besonders empfindsam sind? Darf man immerhin fragen. Auch dass er die Formel vom „jüdischen Selbsthass“, die sich gleichfalls in diesem Essay findet, aufnimmt und hin und her wendet, als wenn sie völlig selbstverständlich wäre, ist vielleicht provokativ, aber macht sie dennoch nicht plausibel.
Nicht zuletzt der Essay zu der Frage, ob Frauen anders dichten, beinhaltet Fragwürdiges und Zustimmungsfähiges: Dass der jeweilige persönliche Erfahrungshintergrund das literarische Schreiben grundiert, ist fraglos richtig. Dass aber die Lyrik die persönlichste, ja intimste Form der Literatur sei, ist vielleicht Common Sense, geht aber trotzdem nur der Sprecherrolle auf dem Leim, die „ich“ sagt, wenn irgendwer gemeint sein kann, dem überhaupt erst auf die Spur zu kommen wäre. Nebenbei versteckt sich darin eine recht massive Diskreditierung der Literatur von Autorinnen, wenn sie – aufgrund ihrer Gedichte – auf Selbstbekenntnis und Selbstdarstellung reduziert werden, wie das nebenher mit Sarah Kirsch geschieht. Person also ja, Kunst – und auf die käme es an – aber leider nicht so viel?
Man kann sich mithin an diesem Marcel Reich-Ranicki reiben, mit ihm streiten (wenn man die Antwort vertragen kann), man kann ihn bewundern und man kann über ihn viele, viele Funde machen, die im Kosmos der deutschen Literatur dem Vergessen nah sein mögen. Man kann auch die Lücken füllen, die er (respektive der Herausgeber Thomas Anz) in diesem Band gelassen hat. Man kann ihn schätzen, ja mögen, oder ihm mit Abneigung begegnen.
Eines aber kann man nicht: ihn ignorieren. Wir vermissen ihn und Seinesgleichen – jene Riege der Kritiker, die die deutsche Literatur nach dem Krieg begleitet hat, um sie gestritten und sie groß gemacht hat. Wir stehen auf den Schultern von Riesen – als Autoren und Kritiker. Marcel Reich-Ranicki gehört zu ihnen.
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