Was tun mit zerknüllten Augenblicken?
Die edition AZUR als Podium „für Autoren, die vor der Unübersichtlichkeit der Zustände nicht die poetischen Waffen strecken“ (Verlagsinfo) wird herausgegeben vom Dresdner Lektor Helge Pfannenschmidt und bislang erschienen ihre Titel unter dem Dach des Glaux Verlags. Seit kurzem trägt nun der Herausgeber auch das verlegerische Risiko. Mit Jan Volker Röhnert steht ihm einer der beachtenswertesten Lyriker der Gegenwart sowohl als Autor, wie als Übersetzer, als auch als Herausgeber einer Anthologie zur Seite. Zu einem Markenzeichen des Verlags könnte sich die „blaue Reihe“ entwickeln, eine wunderbar gestaltete, auf zunächst zehn Titel projektierte Edition moderner Lyrik in Erstausgaben, von der bislang vier Bände erschienen sind. Dem Röhnertschen „Die Hingabe, endloser Kokon“ folgte 2006 das Debüt der Weimarerin Nancy Hünger, die manch einem auch durch ihre Gedichte in Lyrik von Jetzt Zwei bekannt geworden ist.
Selten schien mir die Titelillustration eines Gedichtbandes so stimmig: Schaum auf dem feinen Sand eines Strandes – Strandgut sozusagen, aufgeschäumtes Nichts, flüchtiges Geschehen zwischen zwei Welten, hervorgekocht aus der Begegnung und inselhaft übrig. Das ist ein Bild, leicht mißzuverstehen, aber positiv besetzt für jeden, der den Gedichtband „Aus blassen Fasern Wirklichkeit“ von Nancy Hünger gelesen und begriffen hat, worum es ihr geht. Es hat zu tun mit der Untersuchung der Stille, aber auch mit den Resten des Tosens und Aufbrausens und dem ganzen, scheinbar törichten Gewese des Lebens. Aus einer weiten Verlorenheit holt sie ihre Gedichte hervor. Es sind zerknüllte Augenblickspapiere, die sie dann vor uns glattstreicht. Sie läuft über den leeren Strand und summt dabei vor sich her, den Beginn einer Melodie, friert fragend in einem vielschichtigen Ton ein, keine einfache Sache, so ein Ton - ein Geschenk, ein Mißgeschick, eine Antwort und eine Frage, ein der geistigen Schwerkraft entschlüpfter Vagabund -, sie durchsucht das undurchschaubare Gewirr seiner Frequenzen, stoppt, zweifelt, versagt sich selbst die Stimme und hört schließlich nach dem Knistern des Schaums, der sich rasch und gegen das entferntere Wellenbrechen behauptet, dann summt sie weiter, leise in eine Stille hinein, die es nicht gibt.
Das hört sich an wie romantischer Käse, den ich hier erfinde – aber das ist es nicht, denn es geht hier wirklich um etwas, das diesem Alleinsein mit sich und der unausweichlich heranrollenden Welt entspricht, wenn man am Strand spazierengeht. Nancy Hünger hat ihre Gedichte nicht geschrieben, um mit sprachlichen Fingerübungen und hinreichend gekonnten Tricks auf der Poetenbühne zu verblüffen, sondern es gibt einen sehr viel tieferen Grund für fast jedes ihrer Gedichte. In jedem steckt eine Art Innehalten und Hineinhören „während der Winter / das Eisland brüchig nagt“
Im Leinen der Staub
- exhalierte Geschichten -
durch die wiederkehrend
floralen Muster sickern
Kinderreime und Stoßgebete,
eingeübte Verständigkeitendarauf eine Streuung
aus Perlmut und Porzellan
eine weiße Resonanz:
mein regungsloses
Gesicht
Es sind lange beschreibende Sätze, die da zum einzelnen Gedicht oder zur Strophe zerlegt werden. Der Satz stellt fest, er berichtet und lässt sich ein auf Zusammenhänge, äußere, die sich an den inneren spiegeln oder umgekehrt – der poetische Satz spielt mit seinen Zusammenhängen, in ihm sind die Bezüge überraschend und seltsame Begriffe neu aufgeladen. Bei Nancy Hünger überwältigt der Satz das Gewöhnliche und Übliche und wird gängig mit sinnlich erfahrbaren Entsprechungen, Lossagungen und Ansprachen, die damit tragend werden. Manchmal bleibt das Gefühl der Schachtelung, aber ihre Begriffe sind erfahrbar genug uns in dieser Schachtel entweder umherzuwerfen oder an der Nase herumzuführen.
So vieles ist adjektivisch belebt: rotbespitzte Knöchel, erloschenes Haar, gedoppelte Haut, löchriger Ausfall, geschnittene Straßen, „die reife Bearmung eines ausgefiederten Abends“.
Weil Hünger genau hinschaut und nicht nur das Muster, sondern auch seine chemische, seine kristalline, seine sinnliche Struktur sehen und kennzeichnen will, in dem Wissen, das die Erscheinung auch nach etwas schmeckt.
Momente verraten ihre Ufer, wenn Hünger sie anfasst, denn „nichts ist realer als das NICHTS“; sie konfrontiert sie damit. Vom Nichts her gibt es kein Maß, dennoch ist der Moment nicht uferlos. Der „Zustand:Ich“ sorgt für eine Bleibe und macht gerade deshalb undurchlässig. Aber nach dorthin strebt sie, nach dem Auflösen des Selbstverschuldens, nach dem Verschwinden des immer Zuständigen, das den Moment begleitet wie eine lästige Musik.
Das sind sehr private Texte, sehr genau erhorcht und in den Details dem Zweifel abgerungen.
Das Meiste ist gelungen. Kein Wunder, denn das, was ihr gut gelingt, ist das, was einen wirklich guten Poeten aus- und einzig macht: das furchtlose Innehalten im poetischen Raum und die klare Bewegung darin.
Fixpoetry 2009
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