Die Hölle, das sind nicht immer die anderen
Es dauert etwas, bis man in Oskar Roehlers ersten Roman „Herkunft“ hineinfindet. Spröde, bisweilen sperrig ist die Sprache. Sätze wie der folgende sorgen gleich zu Beginn für Verunsicherung: „Beim Überqueren des Platzes erkannte er die Wohnung zwischen den Blöcken, gleichsam im Vorbeigehen, an den alten Vorhängen. Sie verströmten ein merkwürdiges, sentimentales Gefühl.“ Vorhänge, die ein merkwürdiges, sentimentales Gefühl verströmen? Der Verdacht taucht auf, dem Regisseur mangelt es am nötigen sprachlichen Rüstzeug, um abseits von Drehbüchern und Regieanweisungen literarisch bestehen zu können. Doch der erste Eindruck täuscht. Trotz mancher stilistischer Holprigkeiten zieht einen Roehlers Geschichte über 356 Seiten in ihren Bann. Die rund 250 Seiten, die dann noch ausstehen – das Buch ist nämlich knapp 600 Seiten stark –, und auf denen Roehler der Faden seiner Erzählung zunehmend aus den Händen gleitet, kann man dazu nutzen, das zuvor Gelesene zu verarbeiten.
Aber der Reihe nach: “Herkunft” beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Rückkehr von Robert Freytags Großvater aus russischer Kriegsgefangenschaft. Zu Hause angekommen, in der Nähe von Nürnberg, findet dieser seine Frau in den Armen der Schwester – und beginnt mit der Produktion von Gartenzwergen. Mit dem Wohlstand kommt die Rückkehr zur „Normalität“ des Familienlebens. Die Großeltern verbringen ihr Leben zusammen, aber nicht gemeinsam. Erst am Sterbebett des Großvaters, der seiner Frau zuvor mit einer Niere das Leben gerettet hatte, wird kurzzeitig die Intensität der Beziehung deutlich; das vertraute Flüstern der beiden – was sie sich zum Abschied zu sagen haben, erfährt man nicht – führt beim umstehenden Rest der Sippe zu Unbehagen. So viel menschliche Nähe ist man dort nicht gewohnt.
Für Roberts Eltern, Nora und Rolf, ist der eigene Sohn so ziemlich das überflüssigste, was man sich vorstellen kann. Gleichwohl hatte er sich schon im Leib der Mutter als ein zähes kleines Bündel erwiesen, dem weder der gewaltige Alkohol- und Nikotinkonsum noch ein nächtliches Bad der Mutter im klirrend kalten Starnberger See etwas anhaben konnte. Die eigentliche Hölle beginnt aber erst nach der Geburt, sie heißt Familie. Den schriftstellernden Eltern, man ist mittlerweile im Frankfurt der 1960er Jahre angelangt, ist das Balg nicht nur lästig, sondern regelrecht ein Klotz am Bein. Nora, der Schriftstellerin Gisela Elsner nachgezeichnet, die Roehlers Mutter war, hackt von früh bis spät wie besessen auf ihre Schreibmaschine ein, wobei ihr das Geschrei des kleinen Robert, der zwecks Fluchtvermeidung kurzerhand auf einen Wandschrank gesetzt wird, zwar gewaltig auf die Nerven, sie jedoch nicht dazu bewegt, ihm die dreckigen Windeln zu wechseln. Der Vater sieht im Sohn ohnehin den Hauptschuldigen dafür, dass er sich, statt sich ganz dem Schreiben widmen zu können, einen Brotberuf suchen musste, und sich nun als Lektor mit den literarischen Ergüssen der verhassten Kollegen G(rass), E(nzensberger), J(ohnson), und B(öll) herumschlagen muss, die es ihm auf ihre Weise danken und seine Abwesenheit nutzen, um mit Nora zu vögeln. Der Tiefpunkt ist erreicht, als Rolf bei einem Treffen der Gruppe 47 mit seinem Text gnadenlos durchfällt, während Nora triumphiert und als das neue Fräuleinwunder der deutschen Literatur gefeiert wird (und die Gelegenheit nutzt, mit dem Maler Blahnik – alias Hans Platschek – durchzubrennen).
Bei den Großeltern mütterlicherseits, zu denen Robert abgeschoben wird, erlebt der Junge das soziokulturelle Gegenstück zum Frankfurter „Elternhaus“. Dort hat man es in den Wirtschaftswunderjahren nicht zu biederem Wohlstand, sondern zu opulenten Reichtum gebracht, der nun gebührend zur Schau gestellt werden will. Im KaDeWe wird Klein-Robert neu eingekleidet und entwickelt sich vorübergehend in ein eitles Modepüppchen. Schnell beginnt er jedoch den Großvater zu hassen, rebelliert, und wird schließlich in ein Internat nahe seiner fränkischen Heimat gesteckt. An dieser Stelle, nach zwei Teilen und besagten 356 Seiten – die Geschichte der Eltern- und Großeltern ist weitgehend erzählt – entlässt einen der Roman aus seinem Sog.
Roehler selbst war sich dessen wohl bewusst. Teil drei eröffnet er mit den Worten: „Es ist eine der üblichen Geschichten, die ich jetzt erzählen werde, üblich und auch wieder nicht.“ Viel zu viel Raum wird dem Internatsleben eingeräumt, mit allem was dazuzugehören scheint: von den Saufgelagen bis zum schmerzhaft-obligaten Wettstreit pubertierender Hochleistungsonanisten. Die Villa der Großeltern wird, wie kann es anders sein, im Zuge einer Riesenfete ordentlich demoliert, und die zärtlich-romantische Jugendliebe mit der vernünftigen Laura, dem Nachbarskind aus dem fränkischen Stein, zerbricht am jugendlichen Freiheitsdrang Roberts, den es nach Berlin zieht, wo er es nächtelang mit der Prostituierten Julia treibt. Aus dem großartigen Schlüsselroman, der die dunklen Seiten der frühen Bundesrepublik exemplarisch auf die Geschichte einer Familie über drei Generationen verdichtet, wird so leider auf der Zielgeraden eine ziemlich flache, sich zäh hinziehende Pennälererzählung.
In der „Zeit“-Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse („Zeit“ vom 06. Oktober 2011) schreibt Iris Radisch, „Herkunft“ sei ein Familienroman, mit dem Roehler seine Vorfahren nicht zur Rechenschaft ziehe, sondern sich selbst einreihe „in die patrilineare Dreieinigkeit aus Großvater, Vater und Sohn.“ Mit seinem Buch, so Radisch weiter, schließe Roehler „Frieden über uralte Gräben hinweg. Sein Held hadert zwar mit den Eltern. […] Doch er findet Halt und Geborgenheit bei seinem Nazi-Opa Erich, der […] in seinem Eigenheim, mit seinem Opel Rekord vor der Tür und der stummen Frau in der Küche genau das Aroma unerschütterlicher Verlässlichkeit verströmt, das ein Opfer linker Verwahrlosung braucht.“
Das ist eine gewagte Interpretation. Zumal wenn man sich vor Augen führt, dass besagter Opa Erich, trotz florierender Gartenzwerg-Produktion, dem Enkel die Finanzierung des Internats verweigert, und das Geld stattdessen lieber in Briefmarken des Dritten Reiches investiert. Familiäre Verlässlichkeit sieht anders aus; in Roehlers Buch ist sie generell Mangelware. Nur an ganz wenigen Stellen findet sich ein Hinweis auf sie, um dann gleich wieder zu verschwinden. Etwa in der Geborgenheit, die Robert vorübergehend bei der Familie der Nachbarn findet, bis ihn die Großeltern wegschicken und sein Wunschvater qualvoll an Lungenkrebs stirbt.
Dabei hätte – wie immer – alles auch ganz anders kommen können. Wäre Rolf bei seiner zwischenzeitlichen Freundin Almut geblieben, und nicht dem Lockruf Noras gefolgt – sein Leben hätte einen anderen Verlauf genommen, Robert wäre nie geboren wurden. Dieser wiederum steht Jahre später vor einer ganz ähnlichen Entscheidung – er entscheidet sich für Berlin und gegen Laura. Womöglich schließt sich hier ja ein Kreis, der Vater und Sohn verbindet.
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