Die Farbe ist die einzig mögliche Religion
Soutine leidet an einem Magengeschwür. Schon Jahre lang. Marie - Berthe, seine Lebensgefährtin, über deren Verbindung zu Soutine es heißt: „Ihre Wut und seine Bedrückung, ihr Elend und seine Verzweiflung über den Krieg und die Besatzer griffen ineinander, sie packten sich bei den Handgelenken,“ verlängert sein Leiden, obwohl die Schmerzen längst unerträglich geworden sind. Ungeachtet der Tatsache, dass eine Operation dringend angeraten ist, verfügt sie, Soutine müsse in Paris behandelt werden, nicht in einem „Provinzkrankenhaus“.
So beginnt Soutines letzte Fahrt bezeichnenderweise in einem Leichenwagen. Es muss schnell gehen, aber es herrscht Krieg. Frankreich ist besetzt, Soutine ein gesuchter Jude, Umwege also unvermeidlich.
Auf der langen Fahrt mischt sich schließlich der durch Morphium betäubte körperliche Schmerz mit dem seelischen. Überhaupt ist es der Schmerz, der Ralph Dutlis, bekannt als Übersetzer, Lyriker und Essayist, ersten Roman strukturiert. Der Schmerz ist die Farbe auf der Leinwand des von Anfang an zerstörten Lebensbilds Soutines.
Chaim Soutine kommt als vorletztes, als zehntes von elf Kindern eines jüdischen Flickschusters in Smilowitchi, einem 4000 Einwohner, zumeist Juden, zählenden litauischen Dorfes in der Nähe von Minsk, zur Welt.
„Das Dorf war Schmutz und Pogrom, Angst und zittern. In allen Bildern will er sich von diesem Smilowitschi befreien, jeder Pinselstrich will es wegstreichen aus dem Gedächtnis. [¡K] „Die Demütigung überhaupt eine Kindheit zu haben, in dieser Verkleinerungsform der Stadt, die keine war.“
Die Schläge, die er einst von Vater, Mutter und Brüdern erhalten hat, wenn er gegen das Verbot zu zeichnen verstieß, gibt Soutine an die Leinwand weiter. Er ist ein vom Malen besessener, nichts kann ihn abhalten zu zeichnen. Nicht die Schläge, nicht die Religion, die Scham, oder das Gefühl ein Verräter zu sein. Das Schmerzensgeld, das seine Mutter für ihn erstreitet, als die Söhne eines Mannes, den er gebeten hatte, Model für ihn zu sitzen, ihn halbtot geschlagen haben, verwendet Soutine als Fahrgeld nach Minsk. Nur weg aus der Enge des Dorfes, in dem die Pogrome gegen die Juden zunehmen. Von Minsk nach Wilna, gelangt Soutine schließlich nach Paris. Ein Paris der Surrealisten, in dem Soutine als Außenseiter, als Maler, der Rembrandt verehrt und an der Form festhält, niemals dazu gehört, die Erfahrungen, die er gemacht hat, die Tatsache, dass er bald auch hier in der vermeintlichen Freiheit als Jude verfolgt wird, machen es ihm unmöglich, dazuzugehören. Lange lebt er in großer Armut in der Künstlerkolonie „La Ruche“, wo er auch Modigliani kennenlernt, der vielleicht als Erster sein außerordentliches Genie erkennt. In allem das scheinbare Gegenteil Soutines, ist er es, der schließlich den Kontakt zum Kunsthändler Zborowski herstellt, und damit den Weg zum Erfolg ebnet. Eines Tages nämlich taucht ein amerikanischer Millionär auf, Barnes hat es in Amerika mit der Erfindung von Augentropfen zu erheblichem Reichtum gebracht, und ist nun bestrebt, den geretteten Augen zu zeigen, was sehenswert ist. Bei Zborowski entdeckt Barnes Soutines Konditorjungen, das Gemälde, das auch auf dem Schutzumschlag des Buches abgebildet ist, und ist dermaßen begeistert, dass er auf Anhieb über 50 Gemälde Soutines kauft.
Von Anfang an sind Soutines Motive mit der Vergänglichkeit verbunden, er malt Tierkadaver, ein Kommilitone muss sich unter ein weißes Tuch legen, und selbst wenn Soutine junge Menschen malt, altern ihre Züge, sieht er ihren Tod voraus.
Er liebt die Musik von Bach, den vom Tode verfolgten Komponisten. „Der Tod betrachtete sich als Familienmitglied Bachs“, schreibt Dutli.
Das Malen ist für Soutine Auslöschung und Erfüllung zugleich, die einzige Möglichkeit, überhaupt zu leben. „Er musste die Leinwand strafen für die ungewollten Träume. Es war seine Haut, die er abrieb, ritzte, quälte. Rauh und schroffig.“ Er malt völlig außer sich und dabei fließt alles auf die Leinwand, der Hunger und die Erniedrigung, die Verfolgung und der Schrei, der ihm als Kind im Hals stecken blieb, all das versucht er auf die Leinwand zu bannen, während sein Magengeschwür ihn zerfrisst.
Zu seinem Kunsthändler Zborowski sagte er: „Man behauptet, Courbet habe in einem einzigen weiblichen Akt die ganze Pariser Atmosphäre einfangen können. Ich hingegen kann Paris im Kadaver eines Ochsen zeigen.“
Keiner kennt ihn, dieser Satz wiederholt sich im Roman, auch noch zu einem Zeitpunkt, als Soutine einen flüchtigen Ruhm erlebt, und doch bleibt dieser Satz wahr. Denn er ist nicht zuletzt, die Herangehensweise, die Art, wie sich Dutli Soutine nähert. Nicht in inneren Monologen, indem er versucht, sich diesen Menschen anzueignen, sondern indem er das Unsichtbare seines Lebens zeigt, die Unmöglichkeit, jemanden zu kennen, verbindet mit einem Bild, auf dem einiges zu erkennen ist, z.B., dass Farbe und Schmerz sehr eng beieinander liegen können (couleur und douleur, nur ein Buchstabe trennt den Schmerz von der Farbe), aber auch, weil ein Leben immer mehr ist als die Erinnerungen eines Menschen.
Ralph Dutli gewährt Soutine, im Krankenhaus in Paris angekommen, nicht nur einen Aufschub, sondern die Möglichkeit, geheilt zu werden. Dr. Bog schlägt Soutine einen Pakt vor, er kann geheilt, und vollkommen schmerzlos im „weißen Paradies“ bleiben, wenn er nie wieder malt.
Aber die Leere nach der Heilung ist unerträglich. Der Maler minus Schmerz ist blutleer, das Leben nur noch das in einer Kulisse, schließlich treten Soutine einige seiner zerstörten Gemälde gegenüber. Der Schrei der Kindheit, dieser Schrei des Entsetzens, der nicht herauskam, kehrt wieder, diesmal hervorgerufen durch die Erinnerung an die ungezählten Toten der Pogrome, den tragischen Tod von Modiglianis junger Frau, der tragischen Malerin Jeanne Hébuterne, die Angst, sein Schutzengel Gerda, la Garde, sei in einem der Lager umgekommen.
Vielleicht gibt es eine Heilung vom Magengeschwür, eine Heilung vor der Vergangenheit, vor den Erinnerungen gibt es nicht.
Soutine hält das Leben ohne die Malerei nicht aus, erneut widersetzt er sich dem Verbot: „Er war geheilt vor der Schmerzlosigkeit.“ Soutine malt sich selbst, mit den wenigen Farbresten, die ihm zur Verfügung stehen. „Die Farbe ist unversöhnlich. Die Farbe ist die letzte Nachricht von der umfassenden Heillosigkeit.“
Während er im Heizungskeller versteckt malt, taucht die Mutter seiner Tochter auf, die Frau, die er mitsamt dem gemeinsamen Kind verraten hat. „Jeder Verrat ruft nach einem weiteren Verrat, jede Verletzung erzeugt eine neue, nächste. So bleibt die Erde am Drehen.“ So bleibt der Schmerz weiterhin konstituierendes Element der Handlung. Die Farben machen Soutine sichtbar und löschen ihn aus.„Die Farben sind Narben und werden wieder zu Wunden, und noch immer reimen sich in seiner ersten Sprache farbn und schtarbn. Das Sterben war in den Farben längst vorweggenommen.“
Ralph Dutli hat einen außerordentlichen Roman über einen außerordentlichen Maler geschrieben. In einem zurückhaltenden und gleichzeitig bildhaften Stil, in dem personal vom Maler Soutine erzählt wird, hat Dutli aus seinem profunden Wissen Geschichten gesponnen, so dass am Ende weitaus mehr als die Lebensgeschichte eines glücklich unglücklichen Malers entsteht, sondern ein expressionistisches Gemälde von Zeit, Schicksal und der Erkenntnis: „Die einzige Erlösung gibt es nicht. Die einzige Lösung ist die Farbe. Sie ist die letzte mögliche Religion.“
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