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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Die Geisteskraft des Neinsagenkönnens

Wie soll man über Aphorismen oder gar ein ganzes Buch von Aphorismen eine Rezension schreiben? Jeder Satz verdient, dass man von ihm zu weiterem Denken und Schreiben angeregt wird ...

Doch nähme ich das ernst, würde die Rezension viel länger als das Buch selbst und ermüdete den Leser; dann wäre es besser, er würde das Buch selbst lesen. 

Der Rezensent soll also nicht das besprochene Buch "erledigen", indem er es zerredet, sondern allein den Leser seiner Rezension im positiven Fall zum Leser des Buches machen und ihm im negativen Fall die Zeit der Lektüre ersparen.

Im Falle dieses Buches der Aphoristikerin Sulamith Sparre strebe ich das erstere an. Die Sätze sind nummeriert. Insgesamt sind es 1078 Aphorismen, die sich in eine größere Sammlung von 1040 Stück und zwei kürzere Gedankenketten (Leuchtspuren, An der Schwelle) gliedern. Den Leser erwartet hier kein passiver Genuss, er wird auch nicht eingeladen diesen Sätzen zu folgen, sondern über sie nachzudenken und denkend weiterzuschreiten. Er soll den Weg des im Satz eingefangenen Denkens "nach-gehen" und somit die Bahnen des gängigen Denkens verlassen.

So ist schon der erste Satz der Sammlung ein Hinweis auf das Besondere, das jedem offensteht, das die meisten aber links liegen lassen: "Kunst beginnt dort, wo zu leben nicht mehr genügt." Kunst erscheint hier als Über-Leben für Lebensmüde in der Bedeutung eines Weiter-Lebens, aber besonders in der Bedeutung eines höheren Lebens für die, denen das gängige nicht mehr reicht. Es geht nicht um die Abwertung des Lebens, sondern um seine Erhebung auf eine andere Ebene, auf der sich neue Perspektiven öffnen und die somit die ausgetretenen Pfade des Lebens verlassen und neue Aussichten eröffnen. Der Satz erinnert an Nietzsches bekanntes Diktum: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum", in dem ebenfalls die Dichotomie von Kunst und Leben thematisiert wird.

So oder ähnlich wirken viele der hier versammelten Texte. Sie weisen oft den Weg zu neuen Welten, die bisher missachtet worden sind.

"Das Menschliche kann unter Menschen nicht existieren" (512). Hier wird in aller gebotenen Knappheit die ethisch hoch stehende Bedeutung des allgemeinen Adjektivs mit der diesen Wert vernichtenden Negativität der unerfreulichen Substantive zum Nachteil des ersteren konfrontiert.

In folgendem Satz drückt sich die Lage jedes Aphoristikers aus, dessen Texte in ihrer Vielfalt den Autor nur schwer erfassen oder gar ergründen lassen: "Ich zerfalle in Sätze, die tarnen mich als Schriftstellerin" (874). Auch die Dramatiker, Epiker und Lyriker haben sich schon immer hinter ihren Sätzen versteckt. Allerdings versuchen sie zuweilen eine Entität zu schaffen, auf die der Aphoristiker verzichtet, indem er den Zerfall in Kauf nimmt.

Ein Sätzchen kommt bei mir aus einem religiösen Grund nur teilweise an: "Der Hochmut ist der elende Rest unseres göttlichen Ursprungs." Der Gedanke ist herrlich, doch mit "unserem göttlichen Ursprung" kann ich nur fiktiv und nicht real etwas anfangen.

Wenn Sulamith Sparre im Aphorismus (6) ihr Nicht-Verstehen gegenüber Ludwig Hohls Bejahenkönnen zum Ausdruck bringt, meine ich, dass man dieser Welt mit beiden Haltungen begegnen kann. Gerade Ludwig Hohl war alles andere als ein bejahender Geist und musste sich zu dieser Haltung gewiss zwingen.

Habe ich mich jetzt eingehender bloß über einige Aphorismen von mehr als tausend geäußert, so um notgedrungen den Leser den eigenen Ausschweifungen zu überlassen. Mir bleibt allein der Hinweis, dass nicht nur diese wenigen verdienen weitergedacht zu werden. Wenn ich jemandem eine schöne Landschaft ans Herz lege, kann ich sie ja nicht in ihren tausend Einzelheiten beschreiben, sondern nur ihm ihre Reize schmackhaft machen, wobei dieser Vergleich insofern hinkt, als die Aktivität des Betrachters zu kurz kommt.

Sulamith Sparre · Alexander Eilers (Hg.)
Ikarus, stürzend
Nachwort: Alexander Eilers
litblockin
2012 · 150 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-932289644

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