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Kritik

CARE!

„Alles ist möglich“ schließen die Autorinnen, „das Versprechen an unsere und die nächste Generation von Frauen, ist eine Lüge
Hamburg

„Wer sorgt für den, der sorgt?“, fragen Susanne Garsoffky und Britta Sembach in ihrem Buch „Die Alles ist möglich-Lüge. Wieso Familie und Beruf nicht vereinbar sind“. Ihre Antwort: „Bald niemand mehr. Denn sie passen nicht in das sozialpolitische Leitbild, das sich in Europa, das sich in Deutschland etabliert hat.“

Sie haben gelernt, dass ihnen die Welt offen steht, sie sind gut ausgebildet und hochmotiviert, sie wollen alles anders machen – und verfallen doch in das Rollenmodell ihrer Großeltern. Retraditionalisierung nennen das Soziologen.

Gemeint sind junge Frauen und Familien. Von der Schwierigkeit sich von tradierten Rollenbildern abzulösen, individuell und gesamtgesellschaftlich, davon handelt das im September 2014 im Pantheon Verlag erschienene Sachbuch.

Bei der Recherche nach dem genauen Erscheinungstermin reiht es sich auf der Amazon-Website zwischen Titeln wie „Mama muss die Welt retten: Wie Mütter vom Wickeltisch aus Karriere machen“ und „Eine Familie macht Karriere – gleichberechtigt Beruf, Kinder und die Liebe vereinen“ ein. Nach dem Ähnlichkeitsprinzip macht Amazon Vorschläge, doch Garsoffkys und Sembachs Titel hat keine Ähnlichkeit mit eben genannten, welche an der Illusion mitwirken und hierfür Mütter dopen, im Gegenteil: Bei Garsoffky und Sembach geht es um das Aufdecken eben jener Lüge, die das neoliberale System fleißig unterstützt: Dass es ein Leichtes ist heutzutage Mutterschaft und Karriere zu vereinen.

Die Autorinnen haben sorgfältig recherchiert. Eine Bestandsaufnahme und eine Betrachtung der historischen Entwicklung sowie Denkansätze für die Zukunft liegen in diesem Band vor. Es ist ein reflektiertes, keineswegs sozialromantisches Buch, das sämtliche Perspektiven abdeckt und allen Lebensmodellen und Versuchen Verständnis entgegenbringt. Die Schuld wird nicht beim Einzelnen gesucht, vielmehr werden systemische Fragen gestellt und die Politik zur Verantwortung gezogen.

Die Autorinnen setzen beim Leitbild von Deutschlands Mittelschicht an: „Ich arbeite, also bin ich.“ Definiert wird sich über Beruf und Einkommen. Auch die Frau bezieht inzwischen einen Teil ihres Selbstverständnisses aus dem Beruf, glücklicherweise. Doch der Großteil der Hausarbeit lastet weiterhin auf ihr. Die Doppelbelastung führte dazu, dass sich die Burnout-Rate bei Müttern zwischen 2002 und 2012 um 30 Prozent erhöht hat.

Seitens der Politik findet parallel zu dieser Entwicklung eine schleichende Aushöhlung des Solidaritätsgedankens statt, schreiben die Autorinnen. Seit der Sozialstaat für Konjunktur- und Wachstumsschwäche verantwortlich gemacht wird, sind Kürzungen oder Abschaffungen von Sozialleistungen in Betracht gezogen worden, so beispielsweise 1983 die des bezahlten Mutterschaftsurlaubs in den ersten acht Wochen nach der Entbindung durch FDP-Parteivorsitzenden und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Durch solche Gedanken, auch die nicht verwirklichten, habe man das Fundament für den Neoliberalismus in Deutschland gelegt, so Garsoffky und Sembach.

Hinzu kommt, Studien belegen es, die Empathie nimmt ab, der Narzissmus zu. Es geht in jeder Hinsicht um den eigenen Vorteil. Dafür wird sogar Selbstausbeutung für den eigenen Vorteil im Job als Voraussetzung für Erfolg akzeptiert. Der Arbeitsplatz ersetzt die Familie, natürlich nur so lange man von Nutzen ist, sonst fliegt man raus.

Das Rollenbild hat sich gewandelt, aber die gesellschaftlichen Bedingungen nicht. Das ist eine der zentralen Thesen des Buches. In der Folge sind die Frauen die Erschöpften. Erfolgreich in der Arbeit und zuverlässig in der Familie sein, gehört zum Standard. Das ist lösbar: mit Geld oder Burnout.

Die Versorgungsarbeit wird abgegeben oder gar nicht mehr übernommen. Wenn sie übernommen wird, dann von Menschen, die Niedrigstlöhne dafür bekommen. „Care-Arbeit“ nennen die Autorinnen das, was keiner mehr machen will, weil es keine gesellschaftliche Achtung erfährt. Da laut Entwicklungsforschern und Psychologen eher diejenigen Verantwortung für andere übernehmen, die solche Hingabe selbst erfahren haben, ist unsere gesellschaftliche Prognose dahingehend düster. Schon jetzt zeigt sie sich in abnehmenden Geburtenraten und zahlreichen alleine lebenden Menschen.

Viele Frauen und junge Familien sehen sich in dem Zwang, zwischen erfolgreichem Berufseinstieg bzw. Karriere und Zeit für die Familie entscheiden zu müssen. Beides geht nicht zusammen, wird aber von Vertretern der nachhaltigen Familienpolitik, allen voran Renate Schmidt und Ursula von der Leyen propagiert. Dass einiges dagegen spricht, zeigt unter anderem die Neuregelung des Unterhaltsrechts von 2008, das mit der Betonung der Eigenverantwortung durch die Begrenzung des nachehelichen Ehegattenunterhalts die Sorge um die finanzielle Existenz im Notfall alleine der Frau überlässt. Hat sie statt Erwerbsarbeit „Care-Arbeit“ betrieben, sieht es schlecht für sie aus.

Wer den Zustand anklagt, erfährt die Unterstellung eines Jammertons. Ein erfolgreicher Arbeitgeber aus der Medienbranche hat mit dem Ausspruch Furore gemacht: „Es kann doch nicht mein Problem sein, wenn ein Angestellter zwei Kinder hat.“

Die Sozialgesetzgebung der letzten zehn, zwölf Jahre, zeige, so die Autorinnen, wie viel Einfluss die Politik tatsächlich auf unsere Lebensbedingungen habe. Darum sei es fahrlässig, wie wenig Verantwortung sie diesbezüglich übernehme.

In der Familien- und Gleichstellungspolitik herrsche die steuerrechtliche Bevorzugung des Alleinverdienermodells durch das Ehegattensplitting vor. Die Autorinnen machen hauptsächlich den „Widerspruch zwischen dem alten Wohlfahrtsstaat bismarckscher Prägung, der sich am männlichen Hauptverdiener, an lückenlosen Erwerbsbiografien und ständig steigenden Verdienstchancen orientiert und der neuen sozialpolitischen Ausrichtung, die fordert, dass beide Elternteile kurz nach der Geburt wieder arbeiten und ihre Kinder früh außerhalb der Familie betreuen lassen“ für die überfordernde Situation verantwortlich.

Die Gesetzgeber würden dabei immer noch an das Lebensverlaufsmodell aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert denken, nämlich das arbeitsteilige Modell mit der Dreiteilung von Ausbildung, Beruf und Rente. Die Fürsorge-Arbeit wurde damals nicht berücksichtigt. Die Arbeit machte der Mann, die Fürsorge übernahm die Frau. Die einzige Gemeinsamkeit: Diejenigen, die die Fürsorge übernahmen, waren früher wie heute die Benachteiligten. Hinzu kommt, dass heute die Ehe als Auffanginstitution in sozialen Belangen eine noch unsicherere Institution ist wie sie es damals bereits war.

Das damalige Modell ist alleine deshalb keine Grundlage mehr, beklagen die Autorinnen, weil in den meisten Familien ein alleiniger Verdiener nicht mehr reicht, um alle Kosten zu decken.

Problematisch sei auch, dass Unternehmer Lösungen wie regulierte Wochenarbeitszeiten für Eltern aus Angst vor Verlust der unternehmerischen Freiheit und des Wettbewerbsnachteils nicht schätzten. Das enge Bündnis von Politik und Wirtschaft führe demnach zu unzureichenden Lösungen für Arbeitnehmer mit Familie.

Das Familienbild war stets geprägt von den Zuschreibungen, die aus den jeweiligen Bedingungen einer Zeit hervorgingen. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus fing man beispielsweise an, das hohe Säuglingssterben als Verlust wirtschaftlicher Kapazitäten zu sehen. Plötzlich begann man, das hohe Lied der Mutter zu singen, die von nun an zuhause bleiben und den Nachwuchs hegen und pflegen sollte. Am Eingang des 19. Jahrhunderts wirkten Denker wie Rousseau maßgeblich daran mit, dass neue Ideale entstanden: der tapfere und willensstarke Mann und die empfindsame und zur Hingabe bestimmte Frau. In den 50er Jahren dann, nach Kriegsende – wieder waren mit der Rückkehr der Männer die Frauen im Beruf überflüssig geworden – wurde das Bild weiter verklärt. Die Bestimmung der Frau war es von nun an, dem Mann ein schönes Heim zu bereiten.

Heute jedoch leben wir noch nach den Bedingungen einer anderen Zeit, schreiben die Autorinnen. Alte Familienbilder und Ideale gingen mit dem modernen Anspruch nach Selbstverwirklichung nicht mehr zusammen. Habe sich früher der Wandel langsamer vollzogen, so würden wir heute in einer Zeit leben, in der sich Änderungen so schnell vollziehen, dass die Gesellschaft nur verspätet darauf reagieren könne.

In dem Spagat zwischen traditionellen Anforderungen und modernen Ansprüchen stehen Männer wie Frauen, doch nach wie vor sind es meist die Mütter, die zuhause bleiben. Der Hausmann ist dagegen noch immer ein unattraktives Abbild seines Geschlechts, abgesehen davon, dass viele Unternehmen keine Toleranz gegenüber Vätern in Elternzeit walten lassen. Bleibt der Mann zuhause, dann höchstens, weil die Frau mehr verdient – auch 2014 noch ein seltener Fall. Neue Arbeitszeitmodelle für die Familie, die ohnehin sehr rar sind, werden wenn überhaupt für Frauen vorgesehen. 2012 beispielsweise arbeiteten nur 2 Prozent der Väter wegen des eigenen Kindes in Teilzeit.

Garsoffky und Sembach gehen davon aus, dass es für Unternehmen notwendig wird, neue Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, um beim Kampf um neue Talente vorne mit dabei zu sein. Das ist vielleicht die einzige streitbare These des Buches und trifft, wenn überhaupt, nur auf wenige Branchen zu, denn Berufseinsteiger können sich heute entgegen der Annahme keine Forderungen leisten, wenn sie zu den wenigen mit einem guten Einstiegsjob zählen wollen.

Für einen Wandel ist dennoch die Zeit. Frauen, die zuhause bleiben, stecken in vielerlei Hinsicht zurück. Neben der gesellschaftlichen Stigmatisierung der Hausfrau mit dem Attribut faul, ist es die finanzielle Unabhängigkeit, die sie auf sich nehmen. Tragisch ist, Frauen verdienen laut dem statistischen Bundesamt so viel weniger, nämlich 22 Prozent, dass sich eine gerechte Arbeitsaufteilung kaum zu lohnen scheint. Die Autorinnen zitieren noch eine andere amtliche Statistik und verdeutlichen hiermit, was das heißt: Ein Architekt verdient demnach im Durchschnitt 4500 Euro brutto, eine Architektin 3300 Euro. Erklärt wird das häufig durch die lückenlose Erwerbsbiografie des Mannes. Immer wieder wird auch argumentiert, man müsse den möglichen Ausfall einer Frau berücksichtigen. So wird die Frau, weil sie Frau ist und ein Kind bekommen könnte, systematisch benachteiligt.

Folgendes Zitat der Autorinnen stammt aus Deutschland im Jahre 2012:

„Sie haben doch einen Mann, der verdient. Da brauchen sie doch nicht so viel.“

Wollen Frauen Karriere machen, so ist auch ein Teilzeitmodell kein guter Zug, denn im beruflichen Werdegang wird Teilzeit kein Ansehen zuteil.

Die Autorinnen weisen mit einem Blick zurück in der Geschichte darauf hin, dass Frauen immer nur dann etwas wert waren, wenn sie gebraucht wurden. Nicht nur in den 50er Jahren, als sie an den Herd geschickt wurden, um für die Kriegsheimkehrer das Feld zu räumen, auch in den 90er Jahren in Dänemark vollzog sich ein solches Beispiel. Das Land erlebte wirtschaftliche Stagnation, die mit hoher Arbeitslosigkeit einherging. Mit einem Erziehungsgeld und –Urlaub von einem Jahr im Anschluss an die Elternzeit lockte man die Mütter wieder nach Hause.

Sind jedoch die Arbeitskräfte knapp und die Sozialkassen leer, wird der Frau – heute wie damals – ein schlechtes Gewissen in ihrer Hausfrauenrolle eingeredet.

Um über neue lösungsbringende Ansätze nachzudenken, müsste zunächst einmal die Gleichberechtigung durchgesetzt sein, resümieren Garsoffky und Sembach, ehe sie sich an Lösungsmodelle wagen. Hierfür blicken sie auch in die Nachbarländer Frankreich und Schweden, mit dem Blick auf Beispielhaftes, aber auch Kritisches, denn in den beiden vermeintlichen Vorzeigeländern beruhen viele gängige Modelle auch auf problematischen Grundsituationen wie tradierten Rollenbildern (Frankreich) und dem Zwang zum Doppelverdienermodell (Schweden). Dennoch, in Frankreich werden alle bei den Kosten für die Kinderbetreuung unterstützt. Die Wochenarbeitszeit beträgt darüber hinaus seit zwölf Jahren bereits nur 35 Stunden. In Schweden ist ein Platz in einer ganztägigen Kindertagesstätte für jeden verfügbar und bezahlbar. Die Betreuungsquote liegt mit 80 Prozent bei den ein bis fünfjährigen Kindern weit über dem europäischen Durchschnitt und der Erziehungsurlaub darf nicht von einem Elternteil alleine genommen werden.  Als Positivbeispiel heben die Autorinnen auch Kopenhagen hervor, wo es inzwischen üblich ist, dass generell nur noch bis 16 oder 17 Uhr gearbeitet wird, auch in den Führungsetagen, um Familienzeit so viel Wert einzuräumen wie Arbeitszeit.

Als eigene Ansätze schlagen die Autorinnen vor, von den linearen Lebensläufen und dem Primat der Erwerbsarbeit abzusehen und an On-off-Biografien zu denken. In der Folge könnten Zeiten der Sorgfalt ebenso geschätzt und sozial abgesichert werden wie Zeiten, in denen die Arbeit im Fokus steht. Unregelmäßige Lebensläufe seien oft ohnehin schon die Regel, nur das Sozialsystem habe sich noch nicht darauf eingestellt.

Wichtig, schreiben sie, sei, wenn schon Auslagerung der Fürsorge aus der Familie, dass diejenigen geschätzt würden, die diese Arbeit in unserer „Betreuungsgesellschaft“ (der Begriff stammt von Alexandra Borchert) übernehmen und sich in anstrengenden Berufen für Kinder, Kranke und Alte aufopfern, nämlich Altenpfleger, Mitarbeiter von Kindertagesstätten etc.

„Alles ist möglich“ schließen die Autorinnen, „das Versprechen an unsere und die nächste Generation von Frauen, ist eine Lüge. Familie und Beruf passen noch immer nicht zusammen. Jedenfalls nicht, wenn man beides gleichzeitig, gut und intensiv erleben und erledigen möchte. Wenn alles so bleibt, wie es ist, haben Frauen in Zukunft entweder keine Kinder oder keine Karriere.“

Wer sich heute selbst kümmere, sei im Hintertreffen. Die meisten jungen Frauen zwischen 25 und 35 machten sich bereits nichts mehr vor, sie wüssten, dass beides nicht möglich sei – und entschieden sich mehrheitlich gegen die Kinder. Die Rollenbilder seien nicht überwunden, vielmehr habe man die Frau in ein neues gestopft, ein Doppeltes nämlich: das der berufstätigen Mutter.

Susanne Garsoffky · Britta Sembach
Die Alles ist möglich-Lüge
Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind
Pantheon, Randomhouse
2014 · 256 Seiten · 17,99 Euro
ISBN:
978-3-570-55252-0

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