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Kritik

Dialoge zwischen Text und Fotografie

Thomas von Steinaecker über den Einfluss von Fotografien auf die Poetologie von Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und W.G. Sebald

Im Jahr 2007 veröffentlichte der Germanist Thomas von Steinaecker nicht nur seinen vielfach gelobten Debütroman "Wallner beginnt zu fliegen", sondern auch seine Dissertationsschrift, die sich mit literarischen Foto-Texten beschäftigt. Gegenstand der Arbeit sind literarische Texte, in denen reproduzierte Fotografien abgebildet sind. Von Steinaecker betont immer wieder, dass ihn das dialogische Verhältnis zwischen den reproduzierten Fotografien und dem literarischen Text besonders interessiere. Werke, in denen die Fotografie lediglich zur Illustration des Textes dient und keinen "integralen Bestandteil des jeweiligen Artefakts" darstellt, werden in seiner Dissertation nicht behandelt.

Von Steinaecker ersetzt den gängigen Begriff ‚Fotoroman’ durch die Bezeichnung Foto-Text, die von dem US-amerikanischen Fotografen und Schriftsteller Wright Morris stammt. Durch diesen Begriff definiert er einerseits die mediale Beschaffenheit seines Untersuchungsgegenstandes, andererseits grenzt er ihn auch von Fotoromanen ab, unter denen Brinkmann solche Werke versteht, in denen Fotografien wie die gezeichneten Bilder im Comic das erzählerische Element bilden und in denen (literarischer) Text nur in Sprechblasen oder kurzen Bildunterschriften vorkommt.
Stattdessen möchte der Germanist die historische Entwicklung des Genres Foto-Text nachzeichnen, und dies gelingt ihm sehr gut. Im Vordergrund stehen dabei die Werke Alexander Kluges, W.G. Sebalds und Rolf Dieter Brinkmanns, doch auch wichtige, frühe surrealistische Foto-Texte (zum Beispiel Andre Bretons Nadja) und politische Arbeiten Kurt Tucholskys (zum Beispiel Deutschland, Deutschland über alles) werden untersucht. Eine Zeittafel, die eine Auswahl bedeutender internationaler Fotoromane von 1892 bis 2006 präsentiert, ergänzt seine Textauswahl in sinnvoller Weise. Diese Übersicht ist vor allem für Forschende nützlich, die sich einen ersten Überblick über wichtige Primärtexte des Genres verschaffen möchten. Foto-Texte sind sonst nämlich nur schwer über gängige Recherchemasken als solche erkennbar. Andere systematische Zusammenstellungen und Untersuchungen der historischen Entwicklungen literarischer Foto-Texte wurde in der Forschung nämlich bislang nicht vorgenommen.

Der große und abwechslungsreiche Text- und Bildkorpus und die vorangestellten Kapitel zur Fototheorie und Fotogeschichte ermöglichen es dem Leser darüberhinaus, grundsätzliche Überlegungen zum medialen Wechselspiel von Literatur und Fotografie anzustellen, die bei Analysen einer einzelnen Autorin oder eines einzelnen Autors so wohl nicht erfasst werden könnten.

Der Grund, warum Von Steinaecker sich in erster Linie auf Kluge, Sebald und Brinkmann konzentriert, ist leicht nachzuvollziehen: Diese drei Autoren verwendeten konsequent Fotografien für ihre literarischen Werke. Daraus schließt Von Steinaecker, dass sich die Auswahl des Genres Foto-Text als besonders prägend für ihre Kunst erweist. Von Steinaecker interessieren bei der Untersuchung der Primärtexte vor allen Dingen zwei Fragestellungen: nämlich erstens, warum die Fotografie an einer bestimmten Stelle im Roman platziert wurde, und zweitens wie sich die Fotografien mit dem Schreibstil des Autors verbinden. Darüberhinaus fragt er immer wieder nach Möglichkeiten, wie sich Fotografie und Text auf intentionaler Ebene miteinander verweben lassen. So stellt er zum Beispiel fest, dass die Fotos der Brecht’schen Kriegsfibel durch ihre Anordnungsstruktur von Motto, Pictura und Subscriptio in der Tradition des Emblems stehen. Die Fotos sind nicht nur optisch dieser Tradition verpflichtet: Sie besitzen auch die "moralisierend-didaktischen Tendenzen, die der Emblematik als >Lehrdichtung< traditionell zu eigen sind".

Die Fragen nach dem dialogischen Verhältnis von Literatur und Fotografie analysiert er fast ausschließlich anhand der ausgewählten Primärtexte. Dennoch kommen grundsätzlichen Fragen zum medialen Wechselspiel zwischen Fotografie und Literatur zur Sprache. In zwei kürzeren Kapiteln zum Thema Fototheorie geht er auf wichtige Diskurse zur medialen Qualität der Fotografie ein und erläutert verständlich und in knapper Form wichtige Theorien von Roland Barthes, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin. Auf solche grundsätzlichen Überlegungen rekurriert er auch immer wieder bei der Analyse der einzelnen Texte, die somit eine für den Leser sehr angenehme Mischung aus praktischer Anwendbarkeit und übergeordneter Theorie bieten. Die Fotos der Primärtexte fasst Von Steinaecker meist in bestimmte Gruppen zusammen (zum Beispiel Personenaufnahmen in Sebalds Ausgewanderten). Dieses erlaubt ihm die Bewältigung eines großen Text- und Bildkorpus. So ergibt sich, ein umfassender Überblick über viele literarische Fototexte und das Genre erschließt sich in einem historischen Zusammenhang. Die große Menge an Texten und Bildern führt allerdings auch dazu, dass weitgehend detailliertere, eher kunstwissenschaftlich geprägte Analysen einzelner Bilder fehlen, wie es zum Beispiel sehr fruchtbar die Komparatistin Claudia Öhlschläger in einigen ihrer Schriften zu Sebald vornimmt. Dadurch fehlt es an einigen Stellen an tiefgehenden Interpretationen von Fotografie, Text und ihrem medialen Wechselspiel. Kunstwissenschaftliche Analysen wären sicherlich in der Lage, noch einmal ganz neue Bedeutungsdimensionen der Foto-Texte aufzudecken. In folgender Passage über die Fotografien der Erzählung "Paul Bereyter" in W.G. Sebalds Die Ausgewanderten liefert Von Steinaecker zwar ein Beispiel für das mediale Zusammenspiel von Foto und literarischem Text: "Daneben weist eben diese Chromatik im Text wie auf den Abbildungen auch eine Nähe zur metonymischen Symbolik auf: Die Düsternis, die in den Schauplätzen im Text und auf den Fotos vorherrscht, korrespondiert mit der desolaten Psyche der Figuren". Doch diese Überlegung wird nicht an der Fotografie begründet: Er verliert keine Worte über die Funktion der triptychonartigen Anordnung der besprochenen Fotografien, fragt nicht nach den Posen der Figuren, die auf der ersten Fotografie liegen, auf der zweiten sitzen und auf der dritten stehen, und sagt auch nichts über die alpine Landschaft, die idyllisch ist, aber vielleicht auch Bedrohung verheisst.

Dies kann allerdings von einer Arbeit, die in erster Linie die Dokumentation einer historischen Entwicklung zum Ziel hat, auch nicht verlangt werden. Von Steinaecker kann durch seine Analysen die These bestätigen, dass Fotografien konstitutiver Bestandteil der von ihm ausgewählten Primärtexte sind und dass sie die Poetologie der von ihm untersuchten Autoren in entscheidender Weise mitprägen. Im abschließenden kurzen Vergleich der Autoren Brinkmann, Kluge und Sebald zeigt er auf, dass der Einfluss der Fotografien auf das literarische Werk auf ganz unterschiedliche Weise erfolgen kann. So beschäftigen sich Kluge und Sebald beispielsweise beide mit dem zweiten Weltkrieg. Doch während sich in Kluges Texten die Fotografie als eine Strategie der dokumentarischen Darstellung erweist, so besitzen die Fotografien in Sebalds Romanen zudem ein ästhetisches Moment und können der Textaussage auch kontrastierend gegenüberstehen.

Thomas von Steinaecker liefert eine verständlich geschriebene, vielfach innovative und stets kompetente Übersicht über das Genre Foto-Text, die für alle hilfreich ist, die sich mit solchen Werken wissenschaftlich beschäftigen möchten und einen fundierten Einstieg suchen. Die Einzelanalysen geben sicherlich auch ForscherInnen mit Vorkenntnissen einige interessante Impulse, die vor allem aus kunstgeschichtlicher Perspektive weitergedacht und ergänzt werden könnten.

Thomas von Steinaecker
Literarische Foto-Texte
Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds
transcript
2007 · 346 Seiten · 33,80 Euro
ISBN:
978-3-899426540
Erstveröffentlicht: 
KULT online

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