Das Rätsel fängt an aus sich selber zu singen
„wird es kalt. / spürst du wie kalt es wenn / es wird werden wir es werden. / werden wird wie kalt wir es spüren. // so / in der folge des flockenfalls“ beschleunigen die in sich gestauten Sätze einander Zeile um Zeile, wie in dichtem Schneegestöber eine Flocke die andere zu bedrängen und zu verdrängen scheint. Subjekt, Objekt, Prädikat folgen einander nicht mehr in sinnfällig syntaktischer Ordnung, sie schieben und verschieben eines das andere wie Eisschollen einander in einem zufrierenden Fluss. Während der Erzähler – auch der Erzähler Wolfgang Hilbig – am „Laut der epischen Rede“ festhält, „in dem das Eindeutige und Feste mit dem Vieldeutigen und Verfliessenden zusammentrifft, um davon gerade sich zu scheiden“(1), trifft im Laut der lyrischen Rede Wolfgang Hilbigs das Eindeutige und Feste mit dem Vieldeutigen und Verfliessenden zusammen, um sich davon gerade nicht zu scheiden. In den Sätzen seiner Gedichte bleiben die Satzzeichen aus, und das epische Urwort des Trennens und Verbindens – das „und“ – hat Seltenheitswert. So entsteht ein Zwielicht aus Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit, in dem für Wolfgang Hilbig offenbar Ort und Ursprung des lyrischen Sprechens liegen: „schreiben bei gewitterlicht / und traum – im halbdunkel die / schlecht erkannten wörter entfesseln sich / wollen hinaus in die nässe wie / regen die erde verändern.“ Wie verändert der Regen die Erde? Er dringt in sie ein, verbindet sich mit ihr, weckt ihre Fruchtbarkeit. Darin aber fordert er sein Gegenteil, das Licht, dazu heraus, sich ihm deutlich entgegenzusetzen, um sie wirklich Frucht bringen zu lassen. Wolfgang Hilbigs Lyrik macht sich, wohl nicht zufällig an Hölderlins lyrische Rede erinnernd, diesen Gegen-Satz zu eigen: „denn es ist des lichtes sinn die worte / zum singen zu bringen innerhalb / bedeutungsschwerer legenden im stein / es ist nicht wahrheit zu scheiden / aus den rätseln es fängt aber / das rätsel selber zu singen an.“
Wie singt das Rätsel? Was singt das Rätsel? „Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen misslingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine ‚Nothwendigkeit’ aus, sondern nur ein Nicht-Vermögen.“(2) Der Satz vom Widerspruch oder vom ausgeschlossenen Dritten, seit Aristoteles der prinzipielle Grundsatz aller Onto-Logik, bezieht sich auf das Verhältnis von Begriffen untereinander ebenso wie auf dasjenige von Gegenständen miteinander. Dieser Satz soll von nun an für die Welt der Dinge nicht mehr gelten, sondern nur noch für das Verhältnis von Begriffen; auch das aber nicht mehr a priori, alle Erfahrung begründend und erst ermöglichend, sonder nur noch empirisch, als Resultat von Erfahrung. Welcher Erfahrung? „Das Subjektgefühl wächst in dem Maaße, als wir mit dem Gedächtniß und der Phantasie die Welt der gleichen Dinge bauen. Wir dichten uns selber als Einheit in dieser selbstgeschaffenen Bilderwelt, das Bleibende in dem Wechsel.“(3) Genau betrachtet, löst sich der Satz vom Widerspruch in zwei einander ergänzende Sätze auf: den Satz der Identität – A ist A – und den Satz der Nicht-Identität – A ist nicht A. „Die ursprünglichen Vernunftwahrheiten sind jene, die ich mit einem allgemeinen Namen identische nenne“, hält schon Gottfried Wilhelm Leibniz in den Nouveaux Essais fest (4). Eben dieser Ursprung aller Wahrheit liegt nun Nietzsche zufolge gar nicht in der Vernunft, sondern in dem Bild, das wir uns von der zu bewahrheitenden Welt machen, indem wir unsere vergangenen und unsere gegenwärtigen Vorstellungen zu einer umfassenden Weltanschauung verarbeiten. Diese Arbeit entspringt dem Bedürfnis, aus der Gleichheit und Vergleichbarkeit der Dinge unsere eigene Gleichheit und Vergleichbarkeit mit uns selbst zu gewinnen, uns als jenen archimedischen Punkt zu finden und zu erfinden, von dem her sich die Welt nicht aus den Angeln heben, sondern in sie einklinken lässt. Damit hört die Logik auf, ursprünglich zu sein, und wird zu einem späten, abgeleiteten Instrument eines ganz anders gerichteten Interesses: „Vor der Logik, welche überall mit Gleichungen arbeitet, muß das Gleichmachen, das Assimiliren gewaltet haben: und es waltet noch fort, und das logische Denken ist ein fortwährendes Mittel selber für die Assimilation, für das Sehen-wollen identischer Fälle.“(5) Mit einem Wort: „Das Muster einer vollständigen Fiction ist die Logik.“(6)
Die Logik und die mit ihr verbündete und verbundene Grammatik beschreiben und bestimmen eine Welt, die sie für die wahre erklären, die aber eben in dieser Wahrheit bloßer Schein ist, eine „vollständige Fiction“. Wirklich wahr hingegen ist die Welt, die von der und durch diese Wahrheits-Produktion zum Schein erklärt wird, die der Sinnlichkeit und damit der anfänglichen Erfahrung eines Nervensystems, das diese „vollständige Fiction“ aus sich und für sich schafft (7), um mit sich ins rein und offen Unterschiedene zu kommen (8). Fazit: Das wirklich Wahre hat keine Sprache, während die Wirklichkeit, die eine hat, nicht wahr ist (9).
In dieses von Logik und Grammatik erzeugte und verschwiegene Bedürfnis nach ihrer ursprünglich anderen Sprache erfindet sich die Lyrik, eine Nachfrage befriedigend, deren Stunde mit ihrem Kommen vorübergeht. Sie verschmilzt bei Wolfgang Hilbig das Licht äußerster Begrifflichkeit mit der steinernen Schwere dichtester Materialität. An diesem Schmelzpunkt entstehen seine Gedichte: „wie immer erzittert verschwimmt die geschichte: / ganz konsonante nacht – sie ist schon der rauch / aller folgenden Tage der von den Dächern läutet.“ Läutet – lautet? Ganz konsonant, ganz Nacht – aber nicht die, in der alle Katzen grau und alle Kühe schwarz sind, sondern die, in der die folgenden Tage die (Rauch)Zeichen ihres sie bestimmenden Unterschieds schon vokalisieren? Diese Nacht ist wie alle gedichtete Geschichte „noch widerspruchswarm“. Das Rätsel fängt aus sich selber in einer Sprache zu singen an, die es nicht löst, sondern, es auslösend, sich in ihm auflöst. Eine solche Sprache kann „keine Probleme lösen: und weil sie dies nicht kann, darf sie sich auch nicht irgendwelche Aufgaben stellen lassen, weder von der Politik noch von der Gesellschaft. Was
sie aber kann, das sollte sie ohne Rücksicht tun: die Literatur kann es sein, die der Gesellschaft ihre noch ungelösten Aufgaben stellt.“(10)
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Alle bisher angesprochenen Gedichte Wolfgang Hilbigs stammen aus seinem Lyrikband die versprengung, der 1986, ein Jahr nach seiner Übersiedelung aus der DDR in die BRD, im S. Fischer Verlag in Frankfurt/M. erschienen ist. Seinen nächsten und zugleich letzten - Bilder vom Erzählen – veröffentlicht er erst 15 Jahre später ebenfalls im S. Fischer Verlag. „Man kann [in der BRD, Vf.] überhaupt für das wenigste, was einem widerfährt, ein System verantwortlich machen. Man ist es selber, der nicht funktioniert. Das war so eine Grunderkenntnis, die ich hatte, nach kurzer Zeit schon. Und das hat die Lyrik erst einmal lahmgelegt.“ (11). Wolfgang Hilbigs Lyrik braucht anscheinend als Widerpart ein politisches Gegenüber, das alle Problemstellung und alle Lösung für sich beansprucht. Sie entdeckt offenbar erst nach mehr als einem Jahrzehnt Das Systemische auch in der Abwesenheits-Form eines Systems, das seine Ansprüche und Zumutungen im Selbstverständnis seiner Subjekte verbirgt. Die Entdeckung gibt, scheint mir, schon im ersten Gedicht der Bildern vom Erzählen die Frage- und Blickrichtung des ganzen Bandes an: „und wär dein Wort entworfen ganz aus dem Silber der See: / könntest dus weitersagen in dem antwortlosen Lärm? / Jetzt da Zeit ist das Vergangne zu wandeln in eine Eloge / in Abwesenheit der Klage?“ (12)
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Der erste der auf sieben Bände angelegten Ausgabe der Werke Wolfgang Hilbigs im S. Fischer Verlag versammelt alle vier zu Lebzeiten des Autors erschienenen Gedichtbände, verstreut und einzeln publizierte Gedichte sowie zwei Konvolute aus dem Nachlass: einmal das Manuskript eines eigenständigen Gedichtbandes Scherben für damals und jetzt, das, von den Herausgebern auf die Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts datiert, vom Ministerium für Staatssicherheit beschlagnahmt worden und erst nach dem Ende der DDR wieder in die Hände seines Verfassers gelangt ist, zum anderen eine Auswahl von gut 100 der etwa 500 nachgelassenen Gedichte Wolfgang Hilbigs. Die Kriterien dieser Auswahl überzeugen nicht recht. Die Herausgeber berichten, sie hätten alle maschinengeschriebenen (!) Texte sowie diejenigen handschriftlich vorliegenden aufgenommen, die „Signatur und Jahresangabe“(13) trügen. Mag sein, dass es sich bei den übrigen um Entwürfe handelt; mag auch sein, dass sie das strukturplastische Ganze eines in geplanten weiteren Arbeitsprozessen sich formierenden und konturierenden Materials darstellen, „das eine Vielzahl von Vorstufen und Varianten hervorbrachte“(14) und anscheinend reiche Überarbeitungsspuren trägt. Jeder dieser möglichen Fälle spricht dagegen, sie den Leserinnen und Lesern Wolfgang Hilbigs vorzuenthalten. „Gedicht ist, was aus Erinnerung hergestellt wird“, konstatiert Uwe Kolbe in seinem einsichts- und kenntnisreich ehrenden Nachwort(15). Nichts fesselnder, nichts aufschlussreicher als zu sehen, wie und woher sich das stellt, wie das Licht, das die Erinnerung auf Mensch und Natur wirft, sich in den Sinn von Licht und damit ins Gedicht transformiert. Nirgendwo besser zu sehen und mit zu vollziehen als in seinen Vorstufen, Varianten, Über- und Umschreibungen. Einzig zu „feuer“ aus dem Nachlass verzeichnen die Anmerkungen plötzlich eine handschriftliche Variante, ohne die Ausnahme zu begründen und zu erläutern. Mag sein, dass ein textkritischer Apparat einschließlich Faksimiles nach dem Beispiel der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe den organisatorischen und finanziellen Rahmen der Ausgabe gesprengt hätte. Warum aber dann nicht wenigstens eine begründete Auswahl von vielleicht zwölf Gedichten treffen, an deren Edition sich absehen lässt, was Leserinnen und Leser sowie schließlich die Literaturwissenschaft von der Gesamtheit des Materials erwarten dürfen? Immerhin: „Diese Ausgabe“, räumen die Herausgeber ein, „erschließt den literarischen Nachlass, aber sie schließt ihn nicht.“(16)
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Falls unter den auch jetzt noch unveröffentlichten etwa 400 Gedichten aus Wolfgang Hilbigs Nachlass nicht noch ein späteres auf uns wartet, ist das folgende, 2003 entstandene eines seiner letzten und damit sein lyrisches Vermächtnis (17):
Das Meer verhüllt von Licht: verhüllt von Helligkeit ...
im Sinn von Licht: ein Lilienweiß um nichts zu sein
als Weiß der Lilien – und Meer um nichts als Meer
zu sein und ohne Maß: und Mond-Abwesenheit –
welch Leuchten das seine langer Überfahrt antritt
und jedes Land vergisst auf nichts bedacht als Ewigkeit -
das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.
Titel: Matière de la poésie. Versmass: Alexandriner (18). Reimschema: a – x – x – a – x – a – a. Vierfacher Reim, einmal umarmend und einmal paarig, drei Waisen im Verhältnis 2 : 1 umschließend. Der sich gleichlautend wiederholende, sich mit sich identifizierende Reim hegt die zufällige Laut-Differenz ein (monologische Engführung des Metaphorischen, das Metonymische einkreisend und aufhebend). Laut-Partitur: Dominanz der im Rundungs-/Entrundungs-Verhältnis stehenden Vokale i/ü gemeinsam mit den einander im Alphabet folgenden Konsonanten l/m/n, denen ab Ende der vierten Vers-Zeile zunehmend häufig der Vokal a entgegentritt, der Anfang des Alphabets und damit des Maßes für die Matière de la Poésie.
Lag „des lichtes sinn“ nicht darin, „die worte / zum singen zu bringen innerhalb / bedeutungsschwerer legenden“ wie Meer und Lilie, unter denen aberhunderte von Gedichten schon in Lese gewesen sind? Hier nun verlässt es die in Stein gemeißelten, starr besonderen Zeichen ihres schwer wiegenden Bedeutens, um das Meer in seine leichte und helle Allgemeinheit zu hüllen, in der Meer nichts als Meer ist, keinen Sinn annimmt als den seines zeichenlosen Daseins, ohne Maß, auch ohne Maßgabe des Mondlichts, das die Meeresoberfläche abzumessen und einzuteilen weiß, Meer, reines Meer, ohne alle weitere Bestimmung (19). Im diesem Sinn von Licht liegt zugleich das vielbeschworene Lilienweiß, aber nur, „um nichts zu sein als Weiß der Lilien“. Die Übertragungsmacht des oft gebrauchten, abgebrauchten Bildes wendet es sofort und völlig in seinen Ursprung zurück. Ziel und Heimat der Metapher überkreuzen sich zu miteinander streitender Bedeutung: „es ist nicht wahrheit zu scheiden / aus den rätseln.“ Weil die Rätsel zwar das Verschiedene lebendig halten und hüten, ihm aber die Form des Fortschritts zum feststehenden Unterschied, zur in Stein gedeuteten, wechselseitig sich erhärtenden Verneinung aberkennen? Nein. Sie geben ihr nach, sie kommen ihr zuvor. Die Metapher, so weit sie zu gehen vermag, trägt ihren Ursprung immer mit, und kehrt von jedem Ort, an dem sie sich anscheinend festmacht, in ihn zurück. Das Gedicht zeichnet seinen eigenen Vorgang in diese Bewegung ein. Die beiden ersten, zwischen dem umarmenden Reim liegenden Waisen des Gedichts verbergen – genau besehen verbergen sie ihn nicht einmal – einen identischen Reim, in den sie sich ohne Verletzung von Versmass und Rhythmus überführen lassen:
im Sinn von Licht: ein Lilienweiß um nichts zu sein
als Weiß der Lilien – und Meer um nichts als Meer
zu sein und ohne Maß: und Mond-Abwesenheit –
wird mit geringem Aufwand zu
im Sinn von Licht: ein Lilienweiß um nichts zu sein
als Weiß der Lilien – und Meer um nichts zu sein
als Meer und ohne Maß: und Mond-Abwesenheit –
Mit diesem Gedankenstrich endet die erste Selbst-Exposition der Matière de la poésie. In einem Bewegung und Veränderung, Satzfortschritt und Sinndarstellung scheinbar entfaltenden Bild-Raum, der diesen Schein in einem einfach unendlichen Leuchten auffängt und aufhebt. Aber: „Welch Leuchten das seine lange Überfahrt antritt“ – zuerst mit 13 Silben über das gültige Versmass weg (20) – „und jedes Land vergisst auf nichts bedacht als Ewigkeit“, also mit 14 Silben noch einen weiteren Schritt über es und sich hinaus. Der erste der beiden Verse gerät heillos aus dem Takt, sobald er seine Zäsur, seine Mitte erreicht, und gibt so der althergebrachten Befürchtung recht, dass die Alexandriner „wegen jhrer weitleufftigkeit der vungebundenen vnnd freyen rede zue sehr aehnlich sindt“ (21). Das unendlich in sich zurückkehrende Leuchten, das den Kosmos der Poesie als ihre Materie bisher erfüllt hat, tritt eine lange Überfahrt an: Über sich selbst als grundsätzlich takthaltige Rede hinaus in das Chaos ungebundener Prosa, für sich und auf sich bestehender Verschiedenheit, der die Metapher in ihrem Fortgang zerstreuenden Metonymie. Beim zweiten der beiden Verse hingegen fällt es nicht schwer, ihm seine vorschriftsmäßige Gestalt zurückzugeben: „und jedes Land vergisst bedacht auf Ewigkeit“. Warum nicht gleich so? Weil erst in diesem Regress, dieser Rückbesinnung auf den Takt der poetischen Rede das Ausgesparte als Mittel- und Angelpunkt der Folge-Exposition der Matière de la poésie sichtbar und deutlich wird. Das einfach unendliche Leuchten, worein sich der Bild-Raum der Poesie erstreckt, verlässt seine Heimat, um seine lange Überfahrt ins Land der Prosa anzutreten. Aber dort bleibt es nicht. Seine Fahrt dauert so lange, dass sie nicht nur hinüber zu den Kontinenten des Erzählens führt, sondern zugleich über sie hinweg, „und jedes Land vergisst“, das sie berührt. Wo endet sie? In einem Gedanken, der „auf nichts bedacht“ ist „als Ewigkeit“. Genauer (wir müssen uns an die Aussparung erinnern): In einem Gedanken, der auf Ewigkeit bedacht ist. Auf was für eine Ewigkeit? Auf nichts/Nichts als Ewigkeit. Die Wirklichkeit der Matière de la poésie existiert nicht im Raum, sondern in der Zeit. In einer Zeit, die den Bild-Raum auf die Sinn-Strasse bringt, in Entwurf und Struktur, Fortschritt und Verzweigung, die aber jeden ihrer Zeit-Punkte so rein übergeht, dass er nichtig wird und sie in ihrer Selbst-Bewegung mit ihnen, während sie sich in sie allseitig ausbreitet und mit ihnen auslegt. Die Wirklichkeit der Poesie birgt und erzeugt alle Möglichkeiten der Prosa. In dieser Wirklichkeit fängt „das rätsel selber zu singen an“ – in der Licht-Sinn-Melodie eines Meeres, „das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit“.
Die Sprache der Literatur kann, so Wolfgang Hilbig, keine Aufgaben für die Gesellschaft lösen; sie kann ihr aber ihre noch ungelösten Aufgaben stellen. Wird diese Sprache zur Form der Matière de la Poésie, macht sie sich fähig und bereit zur Formierung und Formulierung a priori nicht lösungsförmiger, dem Funktions-Zusammenhang von Problem und Lösung nicht gehorchender Aufgaben.
(1)Theodor. W. Adorno, Über epische Naivetät, in: Ders., Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1981, S. 34.
(2) Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, 2., durchges. Aufl. Berlin 1988, S. 389.
(3) Ders., ebd. Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 286.
(4) Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Darmstadt 1961, Bd. III/2, S. 239.
(5) Nietzsche, ebd. Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, S. 645.
(6) Ebd. S. 505.
(7) „Statt die Außenwelt zu repräsentieren, kommt das Nervensystem allein mit seiner ständig wechselnden Beziehungsdynamik aus. Nicht ein einziges Element der vom Beobachter gesehenen ‚Einflüsse’ findet Eingang in seine geschlossenen Kreisläufe.“ (Humberto Maturana, Was ist Erkennen?, München 1994, S. 99.
(8) „Mit jeder Entität grenzt man einen Existenzbereich ab, in dem sie ist, was sie ist. Wer beides nicht auf die Reihe bringt, kann [...] keine hinreichend bestimmte Unterscheidung treffen.“ (Ebd. S. 94)
(9) „Ohne Sprache und außerhalb der Sprache gibt es keine Objekte.“ (Ders., Biologie der Realität, Frankfurt/M. 1998, S. 202). Siehe dazu im weiteren ebd. S. 247ff. Einen erhellenden Überblick der hier eben angesprochenen Autopoiesis-Theorie bieten Volker Riegas/Christian Vetter, Gespräch mit Humberto R. Maturana, in: Dies., Hg., Zur Biologie der Kognition, Frankfurt/M. 1990, S. 11ff.
(10) Wolfgang Hilbig, Abriss der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt/M. 1995, S. 110.
(11) Wolfgang Hilbig, Das Meer in Sachsen. Prosa und Gedichte, Frankfurt/M. 1991, S. 398 (im Gespräch mit dem Herausgeber Hans-Jürgen Schmitt) . – „prosa meiner heimatstrasse“ (1988-1990) setzt sich noch einmal mit dem DDR-System bereits unter dem Aspekt seiner Wende auseinander.
(12) Wolfgang Hilbig, Werke. Bd. I: Gedichte, hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt/M. 2008, S. 173. – Die aus Rilkes 10. Duineser Elegie herübersprechende Klage bleibt nicht abwesend; siehe ebd. S. 186ff. sowie S. 275.
(13) Werke I, Nachbemerkung zu dieser Ausgabe, ebd. S. 529.
(14) Ebd. S. 528.
(15) Ebd. S. 518.
(16) Werke I, Nachbemerkung, ebd. S. 529.
(17) Ebd. S. 488. - Wenn ich recht sehe, nennen die Herausgeber nur für „Palimpsest“ (2005) – das mit der „Klage“ beginnt – und für „als sie noch jung waren die winde“ (2007) aus den verstreut veröffentlichten Gedichten ein späteres Entstehungsdatum.
(18) Nicht das einzige Alexandriner-Gedicht unter den nachgelassenen; siehe Werke I, S. 460f., Traditionelle Erzählung (1972). „Der Alexandriner, der seinen Namen nach der Verwendung in französischen Alexander-Epen des 12. Jahrhunderts erhält, ist der Hauptvers der klassischen französischen Tragödie [...] In Deutschland erscheint er seit Beginn des 17. Jahrhunderts.“ (Otto Paul/Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, 6. Aufl. München 1966, S. 123). Martin Opitz empfiehlt Alexandriner im VII. Kapitel seines „Buchs von der Deutschen Poterey“ (1624) jedem Poeten, „der sie mit lebendigen farben herauß zue streichen weiß“. Diese Herausforderung hat wie bekannt Andreas Gryphius in seinen Sonetten mit besonderem Erfolg angenommen; der Gryphius-Ton im Hintergrund von Wolfgang Hilbigs Gedicht ist für meine Ohren unüberhörbar, obwohl Hilbig den Alexandriner wahrscheinlich durch die französischen Symbolisten und damit als Vers der französischen Klassik kennengelernt hat (ich danke Jürgen Engler für den Hinweis).
(19) Vgl. dazu Werke I, S. 177, das Titelgedicht der Bilder vom Erzählen: „Niemand weiß etwas zu sagen vom Meer ... / Und auch ich nicht: auch ich wusste nichts zu erzählen vom Meer / von dem ich sprach [...] Und keine Paraphrase fand ich für den Sinn des Meers ...“
(20) Kein weiblicher Versschluss, mit dem sich der Alexandriner regelgerecht auf 13 Silben erweitern lässt. La Matière de la poésie zieht nur männliche Schlüsse.
(21) Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Kap. VII.
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