Ausmessung qua Nabelschau
Das Westberlin der ausgehenden siebziger und achtziger Jahre ist ein einziger Mythos. Junkie-Enklave, Künstlerparadies, wildwucherndes Heterotop inmitten politischer Wirrungen. Gossenromantik im Großstadtbeton. Ein quasi-magischer Ort, an dem nie jemand arbeiten musste, Thekenjobs, Konzertorganisation und das anarchische Kunstgewerbe mal ausgenommen. Westberlin, so wollen es die (Vor-)Wenderomane wie auch die Geschichtsschreibung der Popkultur, bedeutete Subkultur – in Reinkultur. Alles Avantgarde, alles weit entfernt von bürgerlichen Normen. Eine quere, kreative Utopie ohne Zentrum, definiert allein durch ihre Randfiguren.
Ein hyperproduktives Netzwerk, durch dessen Winkeln Wolfgang Müller surfte. Als Mitglied von Die Tödliche Doris, als Herausgeber der Anthologie »Geniale Dilletanten« (aus dem Schreib- wurde ein Druckfehler wie er kaum hätte angemessener sein können), als menschlicher Link zwischen Musik, Performance, Kunst, Literatur und den Menschen dahinter. Das zumindest behauptet Müllers neues Buch, das rund 600 Seiten stark »Westberlin 1979-1989. Freizeit«.
Der Titel täuscht. Zuerst durch seinen quasi-wissenschaftlichen Duktus, denn Müller setzt sich nicht die soziologische Brille auf. Er geht nicht analytisch vor, erst recht nicht so kohärent, wie es die trockene Überschrift erwarten ließe. Stattdessen versammelt er rhizomatisch verflochtene Anekdoten, nur lose durch bestimmte Figuren oder Themen verklammerte Erinnerungsskizzen. Kein Gesamtabriss einer heterogenen Community, sondern eine aus Versatzstücken konstruierte Privatmythologie legt er vor.
Die Geschichten von Ratten-Jenny, die Martin Kippenberger verprügelte, vom Speed-getriebenen Blixa Bargeld und seinen Einstürzenden Neubauten, vom jungen Punk, der später als Dr. Motto zu einer der wichtigsten Figuren der Berliner Techno-Szene (als Hyperlink einfügen: http://fixpoetry.com/feuilleton/rezensionen/1875.html) avancieren sollte: Sie alle sind auf die eine oder andere Art an Wolfgang Müller gebunden. Der aber spricht von sich selbst lieber in der dritten Person, lässt manchmal sogar die Doris zu Wort kommen und tritt hinter das von ihm mitbegründete Kollektiv zurück. Das würde etwas besser funktionieren, wenn Müller nicht ständig in Subjektivismen verfallen würde.
Denn das immer wiederkehrende Ben-Becker-Bashing (als hätte der sich in »Verschwende deine Jugend« nicht schon ausreichend selbst disqualifiziert), die Seitenhiebe gegenüber den Grünen und die zahlreichen launischen Bemerkungen zum Urheberrecht und all jenen, die die Ideen der Tödlichen Doris aufgegriffen haben, lassen das Ich, das Müller weitestgehend aus seinem Wortschatz verbannt hat, umso deutlicher hervorstechen. Zickige Abrechnungen und Empfindsamkeiten lassen sich in einem so nüchtern betitelten Buch doch kaum erwarten. Und wenn Müller dann bis in die Nuller-Jahre ausholt oder die aktuelle Berliner Innen- und Kulturpolitik abwatscht, scheint der Text seinen Titel endgültig Lügen zu strafen.
Das gehört jedoch alle zu dem Spiel, das Müller schon immer so gern gespielt hat, vor allem mit der Tödlichen Doris. Privates und Politisches, Subjektives und Objektives sowie Individuelles und Kollektives – alles ist ineinander verwoben. Der Tonfall ist mal privat und vertraulich, mal philosophisch aufgeladen oder stocknüchtern. Mal ironisch, mal nostalgisch, mal süffisant, mal arrogant, mal wütend und so weiter. Liebevoll spricht er von Valeska Gert, abfällig von reaktionären Journalisten, mit amüsiertem Sarkasmus über die Freaks des subkulturellen Bestiariums, seziert den legendären Club SO36 mithilfe von Foucaultschen Thesen und verliert sich in der genüsslichen Aufarbeitung von Alben, die er selbst konzipiert und eingespielt hat. Narration und Reflexion geben sich die Klinke, wo jedoch die Fakten aufhören und Müllers Meinung (oder sogar: Fiktion?) beginnt, das lässt sich schwerlich bestimmen. Geschwafel trifft hohes Denkniveau, ein subkultureller Kosmos wird qua Nabelschau ausgemessen. Müllers Gedankenfäden liegen zum gordischen Knoten verworren da, ein jeder führt in eine ganz andere als die erwartete Richtung.
Das macht »Subkultur Westberlin 1979-1989« zu einer ebenso leichten wie anstrengenden Lektüre. Wer nicht folgen kann, braucht nur zwei Kapitel weiterzublättern und findet dort vielleicht Anhaltspunkte, ein gänzlich neues Thema. Wer mit Müller mitgehen kann, wird vielleicht durch den nächsten Absatz enttäuscht, wenn plötzlich wieder von ganz anderen Dingen die Rede ist. Über 500 Seiten (den umfangreichen Anhang mal rausgerechnet) eine ermüdende Angelegenheit, so oder so. Und natürlich eröffnet sich am Ende kein knackiges Fazit in Form eines gelungen Psychogramms, nein, die Mauer fällt, nein, Müller bemerkt nur kurz an, dass er seine Passion für Island entdeckt hat und diese seitdem pflegt. Achso, okay.
Ein gescheitertes Mammutprojekt also, verstellt durch das Ego seines Verfassers? Jein. Denn Müller erzählt zwar wenig Substanzielles mit vielen Worten, er führt dabei aber auch die Denke vor, die den Zeitgeist des Westberliner Soziotops prägte. Mimikry des genialen Dilletantismus, konsequent exerziert durch einen ihrer Wegbereiter. Wem das zu viel ist, der kann sich an den kleinen Stories über durchgeknallte VollzeitidiosynkratikerInnen erfreuen, wer genau das gesucht hat, der findet den Mythos Westberlin in all seinen Individuationen womöglich bestätigt.
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