Mit summender Leichtigkeit
„Die Zahlen und ich, wir sind die besten Freunde auf der ganzen Welt. Ich liebe Zahlen! Vielleicht, weil ich mir immer die Zeit damit vertreibe, meinen Herzschlag und die Tage, die ich schon gelebt habe, zu zählen… Oder vielleicht auch, weil die Zahlen bis ins Unendliche reichen und nie aufhören.“
Sisanda hat einen Herzfehler und wäre fast gestorben, kaum dass sie geboren war: Ganz hässlich war sie „und violett angelaufen und wollte erst gar nicht atmen.“ Glücklicherweise war ihre Großmutter Thabang bei der Geburt dabei: „Sie weiß sämtliche Sprüche und kennt sämtliche Kräuter, mit denen man Krankheiten heilen kann. Und sie weiß alles über die Babys im Bauch der Frauen und darüber, wie sie von ihnen am besten geboren werden.“ Was sie mit Sisanda gemacht hat, weiß niemand, welchen Spruch sie gemurmelt, welches Kraut sie ihr gegeben hat. Nur dass es genug war, „um mir ein kleines bisschen Leben einzuhauchen“ für die Fahrt ins Krankenhaus.
Inzwischen ist Sisanda neun Jahre alt, aber Doktor Apollinaire sagt immer wieder zu ihrer Mutter, dass ihr Leben „an einem seidenen Faden hänge.“ Als sie noch klein war, hat sie das nicht verstanden. Jetzt weiß sie ganz genau, was er damit meint: „Ich kann jeden Augenblick sterben. Puff… und tot! Einfach so. Noch bevor ich den Satz zu Ende gesagt habe…“ Doch Sisanda ist keine Heulsuse, auch wenn sie nicht spielen und tollen kann, wie die anderen Kinder. Sie ist tapfer, fest entschlossen zu leben, und wenn es ihr halbwegs gut geht, bringt Onc‘Benia sie in die Schule: Huckepack. Sisanda liebt die Schule: Vor allem, weil „sie der einzige Ort ist, wo ich mit den anderen mithalten kann. Wenn ich meinen Kopf anstrenge, wird mein Herz nämlich überhaupt nicht müde.“ Aber es gibt auch Tage, da kann sie nur reglos auf ihrer Matratze liegen, „wie ein erschöpftes Tier“, und nach Luft japsen: „Weil mein kleines dummes Herz wieder einmal verrücktspielt.“ Eine Operation wäre dringend nötig, nur fehlt das Geld. Das bisschen, was ihr Vater seit zwei Jahren von der Baustelle schickt, viele tausend Kilometer entfernt, reicht gerade fürs Leben.
Da findet Sisandas Mutter eine Zeitung auf der Straße, steckt sie ein, obwohl sie kaum lesen kann. Aber dieses eine Foto versteht sie gut: „Eine schweißgebadete Frau, die mit hochgerissenen Armen über die Ziellinie läuft. Ihr Gesicht ist vor Erschöpfung verzerrt. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Man kann erkennen, dass sie viele Kilometer gelaufen ist.“ Das kennt sie: laufen, laufen, laufen. Barfuß. Jeden Tag. Stundenlang. Weil ihre Beine es wollen. Ins „Hügelland, so weit, wie nicht einmal die Hirten mit ihren Herden sich vorwagen.“ Schon immer ist sie gerne gelaufen, deshalb nennen sie auch alle im Dorf „Swala“ – Antilope. Für Sisanda ist sie „Maswala“ – Mamaantilope. „Aber seit du auf der Welt bist, rennt sie wie eine Verrückte“, sagt Großmutter Thabang: „Als ob sie für dich auch noch mitlaufen würde, meine kleine Prinzessin, weil du es selbst nicht kannst.“ Und Swala kann es nicht glauben, dass man mit Laufen Geld verdienen kann. Viel Geld. Beim berühmten Kamjuni-Marathon: Den Text hat ihr Sisanda vorgelesen.
Sie könnte grau, schwer und traurig sein. Ernst ist die „Herz-Geschichte“ der jungen Sisanda mit ihrem unerwarteten Happy End auf jeden Fall. Doch Xavier-Laurent Petit zaubert mit seinem zärtlich schwingenden Ton, seiner präzisen, eindringlichen Sprache, die vor Lebendigkeit nur so sprudelt, eine bunte Stimmung aus Zuversicht und Vertrauen. In kurzen Kapiteln, die statt einer Überschrift mit kongenialen, vielsagenden Vignetten von Eva Schöffmann-Davidov illustriert sind, lässt er seine Protagonistin selber erzählen, uns in ihr „kleines dummes Herz“ schauen, das sie regelmäßig liebevoll ausschimpft. Ganz sachte und mit einer summenden Leichtigkeit wird die Geschichte immer dichter. Springt, hüpft und schlägt Purzelbäume, und fast nebenbei webt er das dörfliche Leben in Afrika ein, verschmilzt alles zu einer klingenden Vielschichtigkeit mit melodiösen Zwischentönen: Dass die Personen immer lebendiger und greifbarer werden, dass man beinahe meint, mittendrin zu sein.
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