Lesart
Rainer Maria Rilke* 1875† 1926

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn, und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Die Worte liegen uns im Weg, wenn es ums Ganze geht

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, Rilkes Gedicht (am 21.11.1897 in Berlin-Wilmersdorf niedergeschrieben und 1899 in dem Band "Mir zur Feier" veröffentlicht) haben uns Michael Lentz und Uli Winters in ihren „Gedichten unter erschwerten Bedingungen“ mit vollgestopftem Mund vorgekaut und die im Gedicht enthaltene Sorge um den Begriffscharakter des Wortes, das in Besitznehmen durch das Zuordnen zum Wort, in ziemlich radikaler Weise der Sinnlosigkeit preisgegeben. Unser Sinnfinden per Wort, und sei es im Gedicht, ist nichts anderes als ein Bekauen von Welt. Es ist tatsächlich so, daß das Wort nur das an Sinn hervorbringen kann, was wir ihm mit unseren geistigen Kauwerkzeugen mitgeben. Es ist quasi ein durch uns hindurch geschleustes Abbild einer Weltsache und was wir davon verstehen. Es gibt unzählige Sachverhalte in der Welt, die wir gar nicht bezeichnen können und von denen wir kaum eine Idee besitzen. Gerade das steckt in Rilkes Gedicht. Es ist eine ernstzunehmende Frage an die Zuverlässigkeit und Eignung unserer Sprache. Da haben hundert Jahre größte Fortschritte in den Wissenschaften nicht viel aufgeholt.

Allerdings haben Lentz & Winters eine philosophische Interpretation nicht im Sinn gehabt, sondern schlicht Unfug. Erstaunlicherweise hören wir neuerdings ganz andere als verballhornende Töne von Michael Lentz - Rilke habe ihn beeindruckt, „manche Gedichte hallen nach“. Und in einem Fernsehinterview anläßlich der kürzlich erschienenen „Offenen Unruh“ gestand er: „Ich habe sehr viel Rilke gelesen, merkwürdigerweise. Hätte ich vor ein paar Jahren auch nicht gedacht, dass ausgerechnet ich noch mal Rilke so stark lese.“
Vielleicht deshalb, weil Rilke nicht einfach nur Dichter war, sondern sehr viel mehr in seine Texte parkte, so daß der Philosoph Heidegger in ihm den poetischen Vollender Nietzsches sah.

Rainer Maria Rilke schrieb das Gedicht als gerade noch 21-jähriger. Er hat in München die fast 15 Jahre ältere Lou Andreas-Salomé kennen und lieben gelernt und ist mit ihr ein halbes Jahr auf honeymoon in Prag, in Arco, in Venedig und Meran. Der südliche Sommer im Offenen - das prickelt und macht nervös, alles stimmt nur noch zur Häfte und die Worte pochen, wenn man sie anlangt. Die Liebe verändert den Blick und es gibt nichts zu besitzen. Sätze verkehren sich, Gewußtes wird obsolet. Dinge erscheinen und sind, was sie sind. Rein, klar, nicht mehr verzeichnet. Die Liebe hat  keine Brille, sie nimmt, was es an Schleiern gibt, weil sie die Angst nimmt. Alles ist einfach. Unklar sind höchstens die Leute, ihr Begehren und ihr Begriff. Kaum zu verstehen das Alltagstheater und sein Geschäft mit der Luft.
Sie kehren zurück an den Starnberger See, doch Lou muß weiter nach Berlin und Rilke folgt ihr im Oktober nach Wilmersdorf. Durch sie hat er sich intensiv mit Nietzsche befasst und neue Abstraktionen für sich fruchtbar gemacht, die nur leisten kann, wer mit dem Denken nicht besitzt. Auf der einen Seite ist die Welt, auf der anderen der Mensch mit seiner Sprache. Die Welt ist nicht angewiesen auf die Sprache, wohl aber die Sprache auf die Welt.

1895 war erstmals die Gesamtausgabe von Nietzsches Werk erschienen und sein Einfluß machte sich zunächst viel deutlicher in der Literatur bemerkbar als in der Philosophie, was durchaus an der sprachlichen Wucht seiner Texte lag, die ihn immer auch als Dichter auswies.
„Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht großer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt..., nichts Unendlich- Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raum, der irgendwo ›leer‹ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheueren Jahren der Wiederkehr..., sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend, als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Würden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt...“ sagt Nietzsche. Und Rilke hat es durchlebt. Zusammen mit Salomé. Die gleichzeitige Verzauberung im Hiesigen durch die dionysischen Impulse der Liebe und den apollinischen Willen zur Form im Gedicht. Nietzsches altes Gegensatzpaar spannt in die Beziehung der beiden eine Saite, die in den verschiedensten Tönen klingt. Eine Saite, die auch vom Ding zum Menschen klingt, wenn sie nicht durch ein Wort gestört, belegt, belagert wird. Wer die Immanenz der Dinge kennt, sucht ein Wort für das, was geschieht, um an es zu erinnern, nicht um es als Besitz zu verinnern.  Der eine sagt Haus, weil es zu ihm gehört, der andere sagt Haus und sieht sich darin nur als Gast. "Rilke ist der heilige Franziskus des Willens zur Macht." schrieb Erich Heller einmal.

Gewußt hat es schon Nietzsche:„Die Worte liegen uns im Wege! — Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit! — sie hatten an ein Problem gerührt und indem sie wähnten, es gelöst zu haben, hatten sie ein Hemmnis der Lösung geschaffen. — Jetzt muss man bei jeder Erkenntnis über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort.“

Was Michael Lentz zerkauen will, ist eigentlich nicht das Gedicht von Rilke, sondern den betonierten Zugang dazu und den Gips auf den Dingen. Es macht immer noch Sinn Rilke in den Mund zu nehmen, zerkaut oder nicht wird er dafür sorgen, daß aus Steinen Hologramme einer anderen Wahrheit werden.

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