Rede

Laudatio für Ulrike Draesner [Gertrud Kolmar Preis]

 

Sehr verehrtes Publikum,
liebe Kolleginnen und liebe Julietta,
liebe Ronya, liebe Pega Mund.

 

Liebe Ulrike Draesner!

Das Ohr wird ein Ruder, wenn man durch ganz kontextlose Gedichte schwimmt, in Erwartung desjenigen, das einem am deutlichsten das Gefühl gibt, wach zu sein.

Welcher Text diese Wirkung entfaltet, hängt aber, auch wenn sein Entstehungszusammenhang für diese Jury verborgen blieb, immer auch vom Kontext ab, in dem er gelesen wird. Was macht diesen Kontext derzeit aus? – Die Hast, mit der geurteilt wird. Verunsicherung, Verhärtung, Verhärmung. Eine rhetorischen Eloquenz, die ihren Nutzer*innen und Konsument*innen Sprache und Stimme entzieht.

„Doggerland“, der Text, den Ulrike Draesner uns eingereicht hat, geht angesichts dessen gar nicht in den Widerstand. Das ist es nicht. Er ist eher Ausdruck einer Besinnung. Er wendet sich weg, driftet woandershin und gerät so in Bewegungen, die nichts mit Eloquenz, nichts mit Ambitionen, nichts mit Effektivität zu tun haben und doch gegenwärtiger wirken und in einem weiten Bogen treffender als der rasende Stillstand der rhetorisch Eloquenten. „Doggerland“ veräußerlicht innige Selbstgewissheit, gelassene Konzentrationsfähigkeit und eine sprachliche Radikalität, die nicht aus grundlegender Skepsis, sondern aus erworbenem Vertrauen und eigensinniger Zuversicht hervorzugehen scheint. Wie könnte eine Dichterin sich sonst gegen den Zeitgeist aufs Doggerland begeben, unter Wasser, in die Steinzeit und in sprachliche Räume, deren Grenzen noch nicht von Akademien und lebensfernen Sprachvereinen gezogen wurden. Die Begegnung mit dem Gedicht-Delta „Doggerland“, das sei vorweg gesagt, war eine beglückende. Ein unverhofftes Geschenk, denn wonach man gesucht hat, weiß man bei Ausschreibungen wie dieser ja erst, wenn man es vor sich hat. Wohl nach etwas, von dessen Existenz man nichts ahnte.

„Küste ist, was entsteht, wenn etwas versinkt“, schreibt Ulrike Draesner in den beiden Erklärungen, die sie ihrem Gedicht voran schickt. Sie definieren das „Doggerland“ als Ort und als Zeit, als geographisches Gebiet und als Periode der Erdgeschichte, als Moment in der Geschichte der Menschen des europäischen Kontinents. Als Heimat.

Kommt man von hoher See her, kündet die Küste von der Heimat. Was aber, wenn sie zugleich vom Heimatverlust zu berichten weiß? Davon, dass Heimatgefühl aus dem Vergessen der Heimat entstehen kann, dem versunkenen Wissen, wo bzw. wie sie mal verortet war?

Politisch ist es schon eine Ansage, dass Ulrike Draesner sich in Brexit-Zeiten mit einem versunkenen Stück Land beschäftigt, dass daran erinnert, dass Themse und Rhein sich einst vereinigten, um Europas Herzstück zu bilden. Dass die Klimakatastrophe schon einmal in so etwas wie Nationalismus mündete und aber auch, dass das alles keine Rolle spielt, wenn Landschaften und Laute sich verschieben im langen Fluss der Zeit. Diese Gelassenheit bildet den erdgeschichtlichen Grundton, auf dem die Obertöne durchaus schrill beschwören, dass wir heute wieder in der Steinzeit angekommen sind, dass sich Europa über eine Untiefe hinweg zu einigen versucht. Wie soll das gehen?

Würde Ulrike Draesner Doggerland als so schlichte Parabel erzählen, hätten wir aber kein Gedicht, vielleicht nicht einmal ein Kunstwerk. Sie erzählt aber keine Parabel, sondern entwirft selbst eine Landschaft in der Sprache. Ein Gedicht, dass seine Entstehung miterzählt, das Delta sichtbar macht und wie es aufgehängt ist zwischen den Sprachsäulen, die es einigt durch Verweise, Vernetzungen. Hat das ein System? Vermutlich mehr System als sich auf den ersten Blick erschließt. Und vermutlich mehr Freiheit als Systematiker zulassen würden. Ja, es ist eine enorme Freiheit, aus der heraus Ulrike Draesner ihre Bögen schlägt. Bögen zwischen den sogenannten falschen, aber so produktiven Freundschaften zwischen den Sprachen, die mal so unzerteilt waren wie das Land. Bögen, die sich nicht zum nationbuilding eignen. Bögen, um die nur Übersetzende zwischen den Sprachen wissen, Bögen, die sich auf den Mut stützen, mit dem Kinder sich noch trauen zu assoziieren.

Ein prosaisches Epos aus lyrischen Sprüngen, könnte man Ulrike Draesners „Doggerland“ so beschreiben? Wellenbewegungen gehen durch diesen Text, vom Ausdeutschen zum Eindeutschen, bis wohl etwas verdeutscht wird und unter Gehämmer ein Schiffchen entsteht, das hin und her fahren kann, erstes Bodenleben an Bord. „Doggerland“, dieses nordische, dieses mindestens weibliche, dieses linguistische Fabeltier, spricht von Erdwerdung, von Mensch- und Sprachwerdung aus dem Geiste der Verschiebung. Spricht von einer friedlichen Jagd, also einer Utopie. Und vom Vergessen.

Es ist ein Sprechen, das von sich noch nichts weiß. Ein Sprechen, das nachgesprochen werden will. Ungeduldige werden vielleicht unempfänglich bleiben für die „bögen, die schiffen gleichen“, werden allenfalls instinktiv spüren, dass hier etwas in Brand gesetzt wird: „kaum singst du es, brennt das land“. Kaum erkanntest Du es, brannte der Kontinent? Oder geht es um das Versunkene, das weiter glimmt? Entzündet es sich, an die Oberfläche geholt? Oder befriedet es die Flammen? Das sind aber Fragen, die sich erst ergeben, wenn das Doggerland gehoben, schon Gedicht geworden ist.

Man hat den Eindruck, diesem Schreiben ging keine Recherche, sondern ein Lauschen voraus. Vielleicht so, wie der Dramatiker Mark Handley in seinem Stück „Idioglossia“ seiner von ihm erfundenen Figur Nell lauschte, um sich einen Reim auf die eigenen Lebensbedingungen zu machen, mit denen er nicht fertig wurde. Sie erinnern sich an Nell, in der Verfilmung von Jodie Foster gespielt? Die Frau, die ihre eigene Sprache begründete und die uns die Geduld lehrte, einander verstehen zu lernen? Einander Sprechen lehren, um Boden unter die Füße zu bekommen. Um dieses Sprechen zu lernen, ein Gehör für dieses Lauschen zu entwickeln, muss etwas erst fremd werden. Ein „We“ sich über das ja wirklich immer seltsame „wir“ als „weird“ zeigen, eine Queen zur Cwen werden, eine binäre Weltauffassung zu einem Raum zwischen „Wo“ und „Men“. Und ein Delta, das in der Vergangenheit verschwand, zu einer in den Linien einer Hand gespeicherten Erinnerung, also der Zukunft.

Im Namen der Jury gratuliere ich Ulrike Draesner zum Gertrud-Kolmar-Preis und danke ihr für die Erfahrung dieser Lektüre. Herzlichen Glückwunsch.

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