Gewaltmarsch vertont
Miklós Radnóti (1909-1944) (Quelle: revistamododeusar.blogspot.de)
Die Ernst von Siemens Kulturstiftung hatte an den tschechischen, in Berlin lebenden Komponisten Peter Köszeghy einen Kompositionsauftrag vergeben, dessen gefördertes Werk "death march" für Gesang und Kammerensemble nun am 5. Mai 2014 beim "Prag Modern"-Festival uraufgeführt wurde.
Was ihn zu dem Werk motivierte und inspirierte, erklärt Komponist Péter Kőszeghy in folgenden Worten:
„Ich möchte ein neues Werk für Gesang und Kammerensemble (Gesang, Flöte, Klarinette, Horn, Posaune, Klavier, Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass, Schlagzeug) für Irena Troupova komponieren. Der Text des Stücks stammt von dem Dichter Miklós Radnóti, einem ungarischen Juden. Er wurde 1945 auf einem der Todesmärsche erschossen und als sein Körper später exhumiert wurde, fand man handschriftliche Gedichte in seinem Mantel, anhand derer man ihn identifizieren konnte. Diese Kurzgedichte haben eine sehr ökonomische, aber auch sehr gewaltsame Sprache. Vier von Radnótis Gedichten aus seiner Sammlung 'Razglednicak' möchte ich vertonen.“
Miklós Radnóti zählt zu den bedeutendsten Dichtern Ungarns. Er wurde 1909 in Budapest als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Seine Mutter und sein Zwillingsbruder starben bei der Geburt – ein Ereignis, das Radnóti zeit seines Lebens verfolgte und ihn mit Schuldgefühlen erfüllte, die sich auch in seinem dichterischen Werk äußern. Im Alter von 21 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Ein 1931 erschienenes Werk brachte ihn aufgrund „unsittlicher Passagen“ mit den Behörden in Konflikt. 1930 begann er ein Literaturstudium an der Universität Szeged, nach dessen Abschluss er jedoch ohne Anstellung blieb. 1935 heiratete er Fanni Gyarmati, der er zahlreiche Liebesgedichte widmete. Politisch stand Radnóti der Linken nahe und unterhielt Kontakte mit der illegalen Kommunistischen Partei. Trotz seines familiären Hintergrunds fühlte er sich dem Katholizismus näher als dem Judentum; 1943 konvertierte er zum Christentum. Ein Jahr später wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft in das Arbeitslager Bor bei Belgrad verschleppt. Als die Rote Armee heranrückte, wurde das Lager evakuiert und die Häftlinge zu Fuß von der Front weggetrieben. Im November 1944 wurde Radnóti in der Nähe des Dorfes Abda bei Györ (Ungarn) gemeinsam mit 21 anderen Häftlingen, die nicht mehr weiterkonnten, von ungarischen Aufsehern erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Als dieses einige Monate später geöffnet wurde, konnte Radnóti anhand der Gedichte in seiner Tasche identifiziert werden. Sie beschreiben den Gewaltmarsch der Häftlinge.
Ich weiß nicht
Ich weiß nicht was er andern ist, dieser Himmelsstrich,
dies kleine Land, das Flammen umarmen, ist für mich
Geburtshaus ... Reich der Kindheit, in dem Weltweiten schwangen.
Aus seinem starken Stamm bin ich Schloß hervorgegangen
und hoffe, mein Leib geht einst in diese Erde ein.
Hier bin ich heimisch. Kniet mir ein Busch, ein Strauch ans Bein,
so weiß ich seinen Namen und wie er blüht, ich bin
im Bild, weiß, wer die Straße dahergeht und wohin,
und rinnt ein Sommerabend und ein Geheimnis drin
schmerzrot die Hauswand nieder, so weiß ich seinen Sinn.
Dem Überflieger liegt’s als Landkarte vor der Sicht,
und daß ein Vörösmarty hier wohnte, weiß er nicht;
ihm birgt die Karte, unhold, Kaserne und Fabrik,
mir Heupferd, Rind, Hof, Kirchturm, ein mildes Mosaik,
der droben sieht im Fernglas Werkhallen, zum Beschuß,
doch ich auch den Arbeiter, der Arbeit haben muß,
Wald, zwitschernden Obstgarten, Weinberg und Gräber drum,
das Mütterchen, das zwischen den Gräbern hinweint, stumm,
was droben Eisenbahn ist, Fabrik, Vernichtungsziel,
ist Wärterhaus, der Bahnwart hat in der Hand den Stiel
der roten Bahnwartfahne, und einen Kinderchor
um sich, und im Fabrikhof rollt sich der Komondor;
der ersten Liebe Spur blieb im Park dort, lang ist’s her,
mein Mund voll Kußgeschmack, wie von Honig, Heidelbeer,
und auf dem Schulwegtrottoir trat ich, um dann doch ja
nicht dranzukommen, heute, auf einen Randstein, – da,
da ist der Stein: von droben erkennt man auch nicht ihn,
kein Sehgerät, um alles das in den Blick zu ziehn.
Ja, wie die andern Völker sind auch wir schuldhaft blind
und wissen, inwiefern wir wann wo wie fehlbar sind,
doch leben hier Arbeiter und Dichter, arglos schlicht,
und Säuglinge, in denen sich die Vernunft zum Licht
auswächst, es schützt sie, drunten geduckt im dunklen Keller,
bis wieder Frieden sich uns aufs Haus schreibt und sie, heller,
dem Wort, dem dumpf erstickten in uns, Antwort erwecken.
Laß deinen Wolkenflügel, wachsame Nacht, uns decken.17. Januar 1944
Quelle: Radnóti M. 1979: Gewaltmarsch. Ausgewählte Gedichte. Budapest
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