Kanonfutter: Lyrik von Jetzt 3 ist da
Kinder, die beim Erscheinen von Lyrik von Jetzt 2 gezeugt wurden, sind jetzt im schulpflichtigen Alter. So lang ist die letzte Anthologie aus der Reihe Lyrik von Jetzt, die für so viele Lyriker und Lyrikleser als Referenzpunkt für die Produktion im deutschsprachigen Raum gilt, schon her. Was bietet das Update?
Souverän als trinationales Projekt des Netzwerks Babelsprech, koordiniert von Max Czollek, Michael Fehr und Robert Prosser angekündigt, liegt der grüne, keck marmorierte Band jetzt im Wallstein Verlag vor und präsentiert 84 Vertreter der deutschsprachigen Gegenwartslyrik aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Was sich seit 2003 alles verändert hat für junge, schreibende Menschen, liegt auf der Hand: Der Austausch, allem voran über Facebook, hat völlig neue Rahmenbedingungen geschaffen, Blogs sprießen aus dem Boden, Kollektive, Schreibwerkstätten, Lesereihen sind produktiv wie nie.
Aber wirkt sich das – abgesehen von der schnelleren Datenübertragungsrate – auch auf die vorliegenden Texte aus? Ein klares Nein: Dem Modernitätsversprechen stellt sich schon die gewählte Form entgegen, ärgerlicherweise im Klappentext auch noch hochtrabend als „klassische Buchform“, in der die Texte zu „besichtigen“ (WTF?) seien, betont. Entweder ist das eine ganz abgefeimte Ironie oder hier wird das Werk wahrhaft walterbenjaminisch zur Totenmaske der Konzeption, schlimmer noch, zum Ausstellungsstück. Die Anthologie als Museum. Cool. Nicht.
Dabei fing doch alles ganz anders an: Babelsprech, die Lyriker-Initiative, von Max Czollek mit Unterstützung der Literaturwerkstatt Berlin ins Leben gerufen, hat sich erst auf regionalen Treffen, dann auf der Webseite babelsprech.org formiert, auf der Texte hochgeladen, gelesen und kommentiert werden konnten.
Von diesem liquid democracy Charakter der Textzusammenstellung findet sich in der „klassischen“ Anthologie nichts wieder, irritierenderweise wird auch die Babelsprech-Webseite mit keinem Wort erwähnt. Alle hier präsentierten Texte haben damit einen gewissermaßen fertigen Charakter, sind oftmals sogar Auszüge aus bereits veröffentlichten Bänden. Im Endergebnis also doch nichts weiter als eine neue Anthologie unter vielen, denkt man etwa an Versnetze, Lied aus reinem Nichts und etliche andere?
„Die wichtigsten Stimmen der jungen deutschsprachigen Lyrik“, so heißt es auf dem grün-marmorierten Buchumschlag. Ist das eventuell der Grund, warum ich mich beim Lesen so unwohl fühle, in dem Wissen, mich mit dieser Auswahl als eben Bestenauswahl konfrontiert zu sehen? Und als Rezensent nun brav die Aussage auf die Probe zu stellen, Spitzen und Untiefen herauszusuchen oder Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und eloquent einander gegenüberzustellen?
Das alles will ich gar nicht, und doch scheint mir dieses Buch genau das vorzuschreiben. Im Netz verliert sich das, ist die Auswahl und Zusammenstellung groß und spontan. Hier, im Buch, wird sortiert, ausgesiebt und in Stein (Marmor!) gemeißelt, was dann wieder einer ganzen Generation neuer Lyriker zur Blaupause für das eigene Schreiben gelten möge.
Aber genug gemeckert. Wenn ich nun doch das Buch durchblättere und mich selbst dabei beobachte, wo ich hängen bleibe, mich festlese, dann gibt es da schon ein paar Stellen: Jan Skudlarek, der sich nach Quantico fantasiert, wo es Kakteen hagelt (übrigens: alle Gedichte Skudlareks in diesem Band sind unveröffentlicht!). Sirka Elspaß, die in Versailles aufs Klo geht und dort erst einmal ihre Tage bekommt, während Miranda July im Hintergrund tönt. Felix Schillers schon auf dem letzten Open Mike beeindruckend vorgetragene Darwin-Sonette. Ronya Othmann mit den vielleicht überraschendsten Beiträgen, kurze, elliptische Texte kurz vor dem Verstummen. Georg Leß, dieser stille Meister der Verstörung. Moritz Gause, der über seinen tagelang sterbenden Großvater und dessen „russische Felder“ sinniert. Tristan Marquardt, wie er in seinen Tag- und Nachtliedern Falco, J.Lo und Pur erklingen lässt; Richard Durajs rechteckige Textwände.
Eine nicht ganz ernstgemeinte Frage am Rand: Sollte man Lyrikern verbieten, in den Himmel zu schauen und Vögeln beim Zwitschern zuzuhören? Was hat es nur mit den „zerfahrenen Wolken“ auf sich, bei denen Alke Stachler ganz biblisch zumute wird? Wie kann ein Auge zum „Abziehbild des Himmels“ werden, zu dem Oravin es erhebt? Was muss passieren, damit Vogelgezwitscher „Zaumzeug“ wird, wie bei Sophie Reyer die Bildsprache beachtlich kühn überschießt?
Laut lesen möchte ich die Texte von Afamia Al-Dayaa, wo „sternschnecken“, Achtung: „subito-subtil getilgt aus blubberndem blau“ aus dem Himmel fallen (groß!), Charlotte Warsen eh, und auch Maren Kames („kappst strippen über land/kippst brücken. klappst dich rittlings/zum quadrat bis’ knittert“); mir den Hals verrenken kann ich aufs Schönste mit Andreas Bülhoffs „plugs“, wo die Zeilen wie beim Handygame Snake am Bildrand entlangkriechen. Übrigens, formale Experimente – von den wenigen, die es in den Band geschafft haben, muss unbedingt Barbara Arnolds tagebuchartiges Listengedicht „10.802 bis 10.960“ genannt werden: Von Tag 10.802 bis Tag 10.812 passiert erst einmal gar nichts, bis dann die Autorin am Tag 10.813 zu einem Text („Vom Schnuppern und Niesen“) anhebt, aber nicht lange durchhält: Nach wenigen Zeilen schließt sie lapidar mit „(Gedicht abgebrochen)“, worauf wieder sechs ereignislose Tage folgen.
An vielen Stellen lässt sich dieser Band genießen, das steht außer Frage. Die große Mehrheit der Beiträge ist von hoher Qualität, das Material von großer Vielseitigkeit. Aber der Zweifel bleibt: Was ist mit denen, die nicht vertreten sind? Wie sehr grenzt eine Anthologie, die mit einem derart kanonischen Anspruch auftritt, aus und ebnet ein? Da bleibt wohl nur, inständig auf möglichst mündige Leser zu hoffen, die auch über den dargebotenen Tellerrand zu blicken imstande sind.
Anm. der Redaktion:
Autor_innen Lyrik von Jetzt 3:
Malte Abraham, Afamia Al-Dayaa, Barbara Arnold, Ann-Kathrin Ast, Kathrin Bach, Daniel Bayerstorfer, Iris Blauensteiner, Yevgeniy Breyger, Sonja vom Brocke, Sandra Burkhardt, Andreas Bülhoff, Carolin Callies, Daniela Chana, Marko Dinić, Richard Duraj, Sirka Elspaß, Anna Fedorova, Martin Fritz, Irmgard Fuchs, Sascha Garzetti, Moritz Gause, Jonas Gawinski, Pablo Haller, Christiane Heidrich, Anna Hetzer, Tim Holland, Ianina Ilitcheva, jopa jotakin, Maren Kames, Anja Kampmann, Judith Keller, Sina Klein, Sascha Kokot, Monika Koncz, Jakob Kraner, Dagmara Kraus, Mathias Kropfitsch, Simone Lappert, Reinhard Lechner, Georg Leß, Léonce W. Lupette, Tabea Xenia Magyar, Alex Makowka, Tristan Marquardt, Marie T. Martin, Titus Major Meyer, Maria Natt, Peggy Neidel, Peter Neumann, Niklas L. Niskate, Jenny-Mai Nuyen, Oravin, Anna Ospelt, Ronya Othmann, Andreas Pargger, Frieda Paris, Martin Piekar, Stephan Reich, Rick Reuther, Sophie Reyer, Tobias Roth, Lara Rüter, Patrick Savolainen, Rike Scheffler, Felix Schiller, Lea Schneider, Eva Seck, Marina Skalova, Jan Skudlarek, Alke Stachler, Michelle Steinbeck, Elisabeth Steinkellner, Esther Strauß, Gerd Sulzenbacher, Christoph Szalay, Cornelia Travnicek, Deniz Utlu, Christian Vedani, Matthias Vieider, Charlotte Warsen, Linus Westheuser, Ilja Clemens Winther, Janin Wölke, Nora Zapf
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