Flucht in die Allgegenwärtigkeit
Die Schweizer Thomas und Astrid sind gerade aus Spanien zurückgekommen und haben die beiden Kinder Konrad und Ella bereits ins Bett gebracht. Nun sitzen sie auf einer Bank in ihrem Garten, um die Ferien mit einem Glas Wein ausklingen zu lassen, bis Astrid Konrad weinen hört und aufsteht, um ihn zu beruhigen. Als sie kurz darauf zurückkommt, ist Thomas verschwunden. Es ist Ende August, das letzte Licht bereits verschwunden, so dass
die ganze quadratische Rasenfläche im Schatten lag, ein dunkles Verlies, aus dem es kein Entkommen mehr gab.
So beginnt die Handlung in Peter Stamms Roman, und als er den Buchhalter und Steuerbearbeiter Thomas zwanzig Jahre später wieder zurückkehren lässt, bemerkt dieser als Erstes im Augenblick der Heimkehr mit einem verwunderten Lächeln die Veränderungen im Garten.
Thomas steht also auf, legt die Zeitung weg, biegt mit einem erstaunten Lächeln zum Gartentor ab und verschwindet aus Astrids Leben. Und so wie sich der Protagonist selbst über sein Verhalten wundert, so reibt sich auch der Leser über das, was Peter Stamm über mehr als zweihundert Seiten lang erzählt, verblüfft die Augen. Denn Thomas‘ Flucht scheint sehr spontan und keinesfalls geplant gewesen zu sein - er hat nur dabei, was sich zufällig in seiner Hosentasche befindet. Aber gleich darauf wird aus dieser vielleicht zufälligen Entscheidung der feste Wille, auf keinen Fall gefunden zu werden. Ab sofort meidet er belebte Gegenden, taucht tief in Wälder ein, sucht in abgelegenen Campingplätzen, in verlassenen Gehöften nach einem Ort zu übernachten, aber
Keiner der Plätze ist ihn verborgen genug.
Es gibt ein paar geografische Hinweise, den Säntis, die Churfirsten, den Zürichsee, das Wägital, das Gotthardgebiet, aber meist wandert Thomas durch namenlose Täler, Wälder, Auen, Dörfer, über Hügel, über Berge, oft ist es sehr still und der Leser wundert sich schon wieder, diesmal, wie menschenleer die Schweiz sein kann:
Keine Spur von Menschen
das Tal wirkte verlassen
es war kein Mensch zu sehen
Natürlich hinterlässt Thomas auch ein paar Spuren. Nachdem seine 300 Franken verbraucht sind, muss er Geld am Automaten abheben, was später Astrid und die Polizei auf seine Spur bringt. Allerdings braucht er kaum Geld, schläft oft im Freien und nimmt jede Strapaze auf sich. Aber warum hat er seine Kinder verstört (Ella wird ihn später Arschloch nennen) zurückgelassen, ist aus einer Ehe ausgebrochen, die vielleicht nicht unbedingt sehr leidenschaftlich, aber auch nicht viel schlechter als viele andere war? Es gibt ein paar Textstellen, die das vielleicht erklären:
Thomas legte sich hin und fiel bald in eine Art Halbschlaf, in dem Zeiten und Orte verschwammen zu einem glücklichen Gefühl der Allgegenwärtigkeit.
Er fühlte sich gegenwärtig wie noch nie, es war ihm, als habe er keine Vergangenheit und keine Zukunft.
Aber in der letzten Nacht hatte er nichts geträumt, und während er sich draußen im Flur an einem kleinen Waschbecken notdürftig wusch, war es ihm, als gäbe es nur diesen Augenblick, den staubigen Geruch, das Rinnen des Wassers, die entfernten Geräusche aus dem Stall und aus der Küche, die graue Düsternis dieses Vorraums, die Kälte des Metalls, als er den Hahn zudrehte.
Aber dieses Hochgefühl hält nicht an. Irgendwann verirrt er sich.
Er war ganz auf das Gelände konzentriert, auf jeden Tritt, jeden Griff, als bewege er sich in Zeitlupe. Er war gefangen in einem Labyrinth aus Fels, aber die diffuse Angst, die er verspürte, hatte weniger damit zu tun als mit dem Gedanken, dass er an seinem Ziel angekommen war, dass er selbst, wenn er einen Weg fände, nicht weiterwusste.
Obwohl eigentlich nicht viel passiert, ist man gefesselt von dieser Odyssee durch die Schweizer Landschaft. Nicht nur, weil doch manchmal etwas Unvorhergesehenes geschieht, Thomas beispielsweise in eine Felsspalte stürzt, aus der er sich allerdings wieder befreien kann, sondern auch weil der Autor die Landschaft sehr bildhaft und sinnlich beschreibt. Da ziehen sich Felsbänder durch den Hang, im diffusen Licht wirkt der Karst fast weiß und als er immer höher klettert, wo Blumen, die weiter unten schon verblüht, oben noch nicht einmal aufgegangen waren,
war es ihm als gehe er rückwärts in der Zeit.
Gleichzeitig ist der Roman raffiniert aufgebaut, indem sich nämlich die Perspektiven von Thomas und Astrid abwechseln. Astrid gibt nicht auf, ihn zu suchen und trotz Thomas‘ Beerdigung (rätselhaft: mit welcher Leiche) ist sie sich sicher, dass er irgendwann einmal wieder zurückkommt. Sie hat keine Zeit für Allgegenwärtigkeit. Während Thomas sehr selten an sie und die Kinder denkt, und wenn, nur sehr allgemein, macht sie sich Vorwürfe, ihn nicht genug geliebt zu haben, fühlt sich ihm aber trotz seiner Abwesenheit sehr nahe. Von ihr erfahren wir viel aus der Vergangenheit, über ihre Beziehung, wobei deutlich wird, wie wenig sie über Thomas wusste. Aber gleichzeitig stellt sie sich vor, was er gerade macht, wie er sich in bestimmten Situationen verhält, und beschreibt dadurch genau das, was Thomas tatsächlich geschehen ist.
Astrid dachte sich eine andere Geschichte aus. Thomas war nicht gestorben beim Sturz, er hatte sich die Jacke zerrissen und sich leicht verletzt. Er war aus der Spalte herausgeklettert und zurück zum Pass gegangen. Als die Jäger Wochen später den Stofffetzen fanden, dachten sie sich nichts dabei. Da war Thomas längst über alle Berge.
Das stimmt. Die folgenden Jahre sind sehr gerafft. Thomas reist durch ganz Europa, schlägt sich mit Hilfsarbeiten durch und auch für Astrid hatten die Jahre keine Chronologie. Ella bekommt ein Kind, Konrad arbeitet bei einer Versicherung. Thomas, inzwischen im Rentenalter, kehrt irgendwann zurück. So wie er selbst und der Leser nicht ganz verstehen, weshalb er weggegangen ist, wundern sich beide genauso über seinen Entschluss zurückzukommen. Nur Astrid weiß, dass er wie sie gewartet hat
auf diesen Moment, diesen kurzen Augenblick des Glücks, in dem er die Hand auf die Türklinke legen und sie herunterdrücken würde.
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