Tokyo Fragmente 14
Batmann Bloß aus Neugier... Aber was geschieht nicht alles aus Neugier? Umgekehrt: Ohne Neugier geschieht gar nichts. Zeigt sich nichts. Unweit vom Dreiecksplatz in Kitazawa ein ziemlich großer, rot gestrichener Schrein in einem schattigen Park mit dickstämmigen Bäumen, verstreuten Gebäuden, Minischreinen (minijinja in unserer Kindersprache), Wasserfall, Moosflächen von verschieden schimmerndem Grün, Froschstatuen, Karpfen, Enten, Drachen zur Abhaltung böser Geister. Ein Hachiman-Schrein, wo ein beliebter Gott verehrt wird, der auf Zeiten verweist, in denen Mythos und Geschichte noch vereint waren.
Moos und Baum
Wie zum Beispiel die Lichtkreise, Rindenmuster und Moosmulden einander entsprechen, einander antworten und Vertikalen von Lichtscharten und schlankeren Stämmen zeugen.
Hachimangu
Das Zentrum beherbergt die Leere. Alles Einzelne findet sich nur verstreut.
Abschreckung und Reinigung
Oberste Regel: Alles verehren. Reiskorn, Kiesel, Eichel, Erbse. 5-Yen-Münze. Das Bambuswaldchaos. Die Menschen, besonders Kinder und Alte. Die Ungeborenen. Die Erinnerungen, jede einzelne. Goldauge versammelt, weist euch zur Leere.
Die Regeln (kimari)
Am Teich auf einer Steinbank sitzend, kommt mir der Abend in der österreichischen Botschaft in den Sinn. Läßt sich meine Arroganz mit der geforderten Demut vereinen? Kann jemand, der sich nicht zur Schau stellt, der keine Werbung für sich und für das betreibt, was er für seine Sache hält, sich anders behaupten als durch Arroganz? Kann jemand, den die Große Mutter nicht in die Struktur von Seinesgleichen gebettet hat, oder der „vom Bett aufgestanden“ ist, sich anders behaupten als durch Arroganz? – Aber muß er sich denn behaupten? Aufgang, Untergang, neuer Aufgang. Zelebrierter – nein: geduldeter, nein: vergessener Untergang, der sich vom Aufgang nicht wesentlich unterscheidet. Sonne und Mond, zwei Arten von Licht. Pilger, dir fehlt noch ein schönes Wegstück bis zur Erleuchtung!
Workout ab sieben Uhr früh im untersten Untergeschoß des Mori-Turms. Weiter oben die meisten Büros geschlossen, es ist Sonntag, Shopping beginnt erst um zehn. Wochentags öffnet Al Avis um sieben, die Angestellten trinken hier ihren Morgenkaffee trinken; heute um neun, noch kein Gast im Lokal. Antico Caffè steht auf einer Markisenattrape, die Wirklichkeit der Holztische ist pseudoantik, wie die zerschlissenen Jeans der Modebewußten von Roppongi. Früher, in Nagoya, bin ich gern in die dortige Filiale dieser japanischen, stilistisch amerikanisierten Kette gegangen, habe Espresso getrunken und einen Schokobarren gegessen, cioccolatta, prego! Die Barleute sind verpflichtet, zwei oder drei Worte auf italienisch zu sagen; davon abgesehen verstehen sie kein Wort in dieser Sprache. Italoamerikanisiert, Big Size, zu große Becher, zuviel Wasser, der Capuccino im Segafredo-Café in Hiroo ist viel besser. Der schlanke Italiener dort hinter der Theke, mit dem dunklem Haarschopf und eingefallenen Wangen und leicht umwölkter Stirn. Im Jahr 2003 habe ich 550 Yen für Espresso und Cioccolatta bezahlt, jetzt sind es 660. Von wegen, es gibt keine Inflation. Gibt es, gibt es. Und wenn es keine gibt, werden die verkauften Waren kleiner. Manchmal beides, kleiner und teurer. Small is beautiful. Auch der Arrogante ist preisbewußt, gerade er. Es soll also gut sein, wenn alles teurer wird? Vernünftige Inflation? Der gemeine Menschenverstand sieht das nicht ein. Mit der Warenwirtschaft verhält es sich ähnlich wie mit der Erde, die sich um die Sonne dreht. Der gemeine Menschenverstand stellt jeden Morgen fest, daß sich die Sonne wieder einmal um die halbe Erde gedreht hat.
Ein modisch gekleideter Italiener kommt ins Lokal, begleitet von einer aufgedonnerten Japanerin auf turmhohen Stöckelschuhen. Der junge Mann verteilt Gesten und Worte, er spricht ein selbstsicheres, flinkes und defektes Japanisch. Und dann dringt die Musik in mein Ohr, Wortmusik, scharf gestochen der Satz „nemmeno il più oscuro silenzio è abbastanza per me“, nicht einmal das finsterste Schweigen ist genug für mich, oder so ähnlich. Ivano Fossati? Der ist nicht so finster. Später checke ich den Text, das Lied ist von Enrico Ruggeri, aber warum redet der gute Mann vom Zentralkomitee, wo es doch keine Zentralkomitees mehr gibt, oder? Warum singt er ein Lied über stalinistische Selbstkritik? Oder katholische Selbstbezichtigung? „Ich will jetzt alle meine Sünden beichten“ und so weiter. Vielleicht meint er ja das Zentralkomitee in uns, das überlebt hat an diesem Rückzugsort, der jahrzehntelangen Popmusik zum Trotz.
Um viertel vor zehn windet sich eine endlose Warteschlange auf der Wendeltreppe zum Lift, der zum Mori-Museum im 53. Stock rast. Was gibt es dort oben bloß zu sehen? Ich rede mit einem der Museumsleute, der die Schlange beaufsichtigt, und teile ihm meinen Entschluß mit, morgen zu kommen. Er bedankt sich mehrmals bei mir. Am Montag geht doch kein Mensch ins Museum.
Roppongi Hills, fast menschenleer (noch)
Was gibt es in Ikebukuro so Besonderes? Nichts. Einen großen Bahnhof, an dem sich viele Linien treffen. Kaufhäuser, Geschäfte, Kneipen, Cafés, Restaurants, Massagesalons. Trotzdem strömen am Sonntagnachmittag unablässig Menschenschwälle durch die Straßen, über die Kreuzungen. Man kann hier nicht in Ruhe flanieren, man kann sich nur durchschlagen. Nicht, daß man angerempelt würde, aber diese Masse ist ein ewiger Widerstand, sie teilt sich nur schwer, obwohl sie sich in einem fort teilt. Menschenbeton. Mörtel-Ich. Ohne Handy kann man sich an so einem Ort überhaupt nicht treffen. Getose um die Ohren, Stimme von Mund zu Ohr, ein feiner, manchmal verzweigter Pfad.
Oder ist die Masse selbst der Grund des Vergnügens? Wo viele Leute sind, wollen noch mehr Leute sein. Je mehr, desto besser: das quantitative Element. Bisweilen, auch von mir, wird das Umgekehrte zur Geltung gebracht: Je weniger, desto besser. Nichts, fast nichts. Kann man auch das in der Masse finden?
Menschenmassen in Ikebukuro, abends
Chikako trägt ein dunkelblaues Kostüm. Sie kommt von einem Kongreß, wo sie einen Vortrag gehalten hat. Das Kostüm, sagt sie, bringt ihr Glück. Daß man in dieser Menge überhaupt zu zweit sein kann. Ja, kann man, besser als in der Leere eines Zimmers, umschlossen von allem, was man abwehrt und schon nicht mehr abwehren muß. Wir finden uns ein. Hier in diesem Keller, wo man eine steile Treppe hinabsteigt in eine halbdunkle Unterwelt mit leuchtenden Stellen, ein weitläufiges, gotisch gestyltes Kaffeehaus, das zugleich an ein deutsches Bierhaus erinnert. Warum sind hier so viele Gäste? Plaudernde Frauen und alte Ehepaare, aber auch vereinzelte Männer im gepolsterten Drehsessel an der Theke. Was zieht sie an? Die Preise sind hoch, und die hierher kommen, tun es nicht zuletzt aus diesem Grund. Abtauchen, für eine Stunde oder zwei. So auch wir, Chikako und ich.
Wir haben uns viel zu erzählen, und so gehen wir später, als der Abend anbricht, in ein Teriyaki-Restaurant. Ein außerordentlich verwinkeltes Lokal auf mehreren Etagen und Halbstöcken, mit Kämmerchen und Sälen und Schiebetüren, wo sich immer neue Räume auftun und wieder schließen. Eine Kopfwendung, ein andere Welt. Durchblicke auf Gruppen, auf Angeheiterte, auf Schwankende, die darauf bestehen, dem Nebenmann einzuschenken. Eine in sich gekehrte Frau, die sich den Gesprächen in einer Gruppe von Angestellten entzieht und höflich nickt und einen Teller reicht, wenn jemand etwas von ihr will. Hinter Chikakos Rücken, eine Handbreit neben ihrem Kopf. Was hast du gesagt? Die Besinnlichkeit dieser Frau hat mich angesteckt.
Später, es ist immer noch heiß und der Himmel in den Häuserschluchten hoch über den Köpfen der Menge stockdunkel, sehe ich zwischen den zahllosen Passanten auf dem überdachten Platz, der sich zwischen den beiden Haupteingängen des Bahnhofs erstreckt, zwei Männer auf dem Boden liegen. Ich muß mehrmals hinschauen, bis ich es glaube. Der eine ist ziemlich beleibt, der andere schmal, vielleicht nicht einmal erwachsen, ein Junge. Der Dicke hat den Schmächtigen im Schwitzkasten und drückt umso fester zu, je heftiger dieser sich wehrt (er legt lange Verschnaufpausen ein). Beide tragen weiße Hemden und dunkle Hosen, aber keine Krawatten – vielleicht haben sie sie in eine Rock- oder Hosentasche gesteckt. Neben dem Kopf des Jungen liegt eine Einkaufstasche von Mitsukoshi, und um die beiden herum eine Unmenge kleiner, heller Brotstücke, die aus der Kaufhaustasche hervorgequollen sind. Später, wenn die Züge nicht mehr fahren, werden Vögel kommen und sich gütlich tun. Falls nicht vorher, was wahrscheinlicher ist, ein Putztrupp zum Saubermachen angetreten sein wird. Wir leben in einem ordentlichen Land.
Von Museum zu Museum: die neue Kunsthalle (mit Wellenfassade)
Erwartungsgemäß sind am Montag weniger Besucher da, die meisten von ihnen treiben sich in der Ausstellung für die große Masse herum. Superman oder Batman, schon wieder vergessen. Wie der neue Film gemacht wurde, plus Rückblick auf die alten Filme. Und dort – ein Foto vom Schwarzgekleideten aus Shibuya. Nein . . . nur ein Schauspieler.
Ich sondere mich ab, wie es dem Elitären ziemt. Die wahre Ausstellung, nach qualitativen, nicht quantitativen Erfolgskriterien, heißt Einfache Formen und zeigt einfache Formen in Natur und Technik und Industrie bis hin zu Religion und Kunst. Überraschende Parallelen blitzen auf. Kunst als Naturnachahmung? Nein, eher so: Die Künstler, aber auch Techniker, finden auf ihren verschlungenen Wegen zu ähnlichen Ergebnissen (= Formen) wie die Natur. Die verschlungenen Wege lassen sich nicht vermeiden, sie sind Voraussetzung, um dorthin zu gelangen. Also Äquivalente. Entsprechungen. Eine Ausstellung der komplexen, oft verdeckten, manchmal auch ganz unvermittelten Kommunikation. Parallelen nicht nur räumlich-typologischer, sondern auch zeitlicher Art. Alte Muster, die wieder zum Vorschein kommen.
Diese große Konfluenz von Zeiten, Kulturen und Formen könnte Shiva symbolisieren, der mir gar nicht vertraute und doch bekannte Gott, der alles schafft und alles zerstört. Christlich-moralisch formuliert: die Kraft, die stets das Böse will und das Gute schafft. Oder umgekehrt, das Gute will und das Böse hervorbringt, oder zumindest erlaubt. Beides in einem, das ist Shiva, die von ihm (oder ihr?) ausgehenden Energieströme laufen in beide Richtungen. Sie halten zeitweise ein Gleichgewicht, gleichen sich aus. Das ist dann die Gegenwart, in der alle Lebewesen sowohl geboren werden als auch sterben. So einfach ist das, schon im Anfang der Zeiten. Ich denke an Kenzaburo Oes boshaften Architekten im Roman Sayonara, meine Bücher, der eine Theorie des unbuild entwickelt hat. Ein postmoderner Mephistopheles, der sich, statt zu handeln, verplaudert. Und Kogito, Oes Alter-Ego, der Freund und Gesprächspartner des destruktiven Baumeisters: kein Faust mit hochtrabenden Plänen, eher ein Hamlet, der sich endlos verdenkt. Und dann sehe ich plötzlich Kiku vor mir, den Helden aus Coin Locker Babies (von Ryu Murakami), der als Neugeborener in einem Schließfach ausgesetzt wird und es sich später zur Aufgabe macht, Tokyo zu zerstören. Datura! Als Einzelner hat man immer Grund, sich an der Gemeinschaft zu rächen.
Dieser Dualismus auch in dem hier ausgestellten Melencolia-Druck (von Dürer). Schau doch hin, der Melancholiker ist ein Engel, kein Teufel, wie sich das in deinem Kopf festgesetzt hat, unter anderem durch die Lektüre des Doktor Faustus. Teuflische Melancholie, die Krankheit der Genies, die etwas Unerhörtes schaffen, aber sich und die Welt dafür verkaufen. Jedoch nein, Dürer zufolge ist der gebeugte Denker-Schreiber ein lorbeerbekränzter, ehrgeiziger Engel. Der gefallene? Also doch ein Teufel? Am Ende steht dann der blinde Fleck, der gewaltige, undurchdringliche Stein, die schwarze Sonne. Oder die Leere. Das fehlt in der Ausstellung hier in der luftigen Höhe von Tokyo, eine Inszenierung der Leere, wie sie zum Beispiel die Shinto-Schreine betreiben. Die Leere fehlt. Voraussetzung aller Form. Für die Sprache heißt das: sinnloses, undeutbares Zeichen. Man tritt ins Rätsel (der Geschichte) ein, erkennt etwas oder glaubt etwas zu erkennen, bis am Ende das Rätsel selbst sinnlos wird. Zugegeben, das Dazwischenliegende ist für uns, die wir zur Geschichte gehören, das Spannende, Interessante.
So auch der schwarze Monolith in Kubricks Odyssee im Weltraum. Und schwarze Felsbrocken, vom Grab weggewälzt, während die blendende Lichtgestalt auffuhr. Erinnerung an den Glanz. Dabei haben wir fast die Sprache verloren. Aber nicht ganz. Sprache an der Grenze zum Stottern. Stottern als beginnendes Sprechen. Erinnerung an den Glanz: eine Scheibe, die kreisrunde Form, das Helle im Dunkeln, die Geburt im Tod.
LP?
Nach den einfachen Formen war da noch ein Raum, in dem Videofilme liefen, Filme von Bill Viola, eine Werkschau sozusagen. Ich blieb stehen, konnte mich den Bildern nicht entziehen – schon immer ist mein Traum vom Kino der langsame Film mit stehender Kamera und ruhiger Schnittfolge, der dem Betrachter Zeit zum Schauen gibt. Figur oder Ding in der Landschaft, diese Konstellation kann ich lebenslang sehen. Außer mir war da nur noch ein Mann ungefähr in meinem Alter, der in der vordersten Reihe saß und von Zeit zu Zeit Kekse aus einer Schachtel auf dem Nebenstuhl in seinen Mund führte, wohingegen ich an der hinteren Wand lehnte.
Als ich hineinkam, erblickte ich auf der Leinwand eine Person, die in der Mitte des Bildes stand, auf einem öffentlichen Platz, wo aber keine Menschen zu sehen waren, abgesehen von dieser einen Person. Ein Bahnhofsplatz wie in Ikebukuro? Ein bißchen edler, historischer, mit Marmorfußboden und warmem Licht, das von Leuchtern zu kommen schien, die nicht im Bild waren. Ich schreibe „Person“, weil mir nicht klar wurde, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte, um einen Japaner oder Amerikaner, ein Kind oder einen Erwachsenen. Das Mädchen, wenn es eines war, trug ein Kleid, das über den Knien endete, und Schuhe mit hohen Absätzen, aber die Gesichtszüge und vor allem die kräftigen, fast dicklichen Beine hätte man eher einem jungen Mann zugeordnet. Ich hatte den Anfang des Films nicht gesehen und fragte mich, wie die Person dorthin gekommen war, was sie dort zu suchen hatte, warum sie sich nicht mehr wegbewegte, worauf sie wartete. Auch deshalb sah ich alle Filme und dann den ersten noch einmal, und auch, weil ich wissen wollte, wie der Titel war. Anthem war der Titel, das heißt Gesang, Hymne, und tatsächlich sieht man gleich in der ersten Einstellung eine Großstadt, in der sich nichts bewegt außer einer großen US-amerikanischen Flagge im Vordergrund, die vielleicht ein Viertel des Bildes einnimmt. Aber die amerikanische Hymne ertönt nicht, sondern ein gedehnter Ton, meistens leise, manchmal lauter werdend, ein- oder zweimal schrill, bedrohlich (nein, es waren eher die Bilder, die bedrohlich wirkten), der Ton einer Maschine oder eines Wals oder eines Landtiers oder eines Menschen oder der Erde, und die Person kam mehrmals wieder, immer am selben Ort, starr, später dann schreiend, mit aufgerissenem Mund, aber starr, und ins Bild war sie gar nicht hineingetreten, sondern stand immer schon da, würde immer dort stehen, genau wie die Fahne immer wehen würde über diesem Land. Semper et ubique.
Die Maschinen haben komplexe Strukturen, und auch die Menschen, wenn man sie öffnet, haben komplexe Strukturen, das Herz zum Beispiel, das zwischen den Händen der Chirurgen pumpt, mit einer Kraft, als könnte nichts es je zum Stillstand bringen. Wie die Erdölpumpen, die einsamen, unermüdlichen. Überhaupt, der Mensch ist eher eine Maschine als eine Pflanze, obwohl auch die Pflanzen, näher betrachtet, komplex sind. Ich vergleiche, wir vergleichen, Bill Viola vergleicht, indem er das alles nebeneinanderstellt, zusammenrückt, fortrückt, wieder zusammenrückt. Er zeigt uns – uns zweien in dem halbdunklen Raum – wie alles zusammenhängt und einander doch fremd bleibt. Eigentlich stößt uns der Film ab, und die Elemente darin stoßen einander ab, und am Ende bleiben Ruinen, Industrieruinen, noch nicht überwachsen von Gräsern und Schlingpflanzen, aber das kommt noch, nicht wahr, Shiva?
Baumstamm in Setagaya, ohne Schlange
Da ist ein Baumstamm, der hat Muster, Rinnen, Falten wie wie ein achtzigjähriges Menschengesicht oder wie die Erde, von hoch oben betrachtet, aber das Kameraauge bleibt näher dran, halbnah, dann ganz nah, was zeigt sich? Rotes Harz, ein Blutstropfen, aus einer Wunde in der Rinde getreten, im Lichtfleck glänzend, vom Herz nach außen gepumpt, vergebliche Mühe, Blut geht verloren, der Kreislauf im Baum, dauerhafter als der im Menschen.
Beunruhigend. Das Blut, die Schlange, das offene Herz. Auf einmal bist du nahe an der anderen Seite, schon an der Schwelle der unsichtbaren Tür, oder ist es eine Wand und du brauchst nur den Arm auszustrecken, die Hand durchstößt die Membran, die jetzt eine Netzhaut ist. Eine Schlange kriecht zielstrebig in einer der vertikalen Rinnen nach oben, du siehst ihren Hals pulsen, den ganzen Hals, nicht nur eine Ader. Die Schlange hievt sich in eine Höhle im Baumstamm, darin ist ihr eigenes Nest, oder ein fremdes, im Dunkel wird sie die Vogeljungen verschlingen, oder ihre eigenen Eier lecken. Zuletzt verschwindet ihr Schwanz in der Höhle, und man sieht etwas anderes, den leicht schwankenden Jungen im Mädchenkleid auf einem menschenleeren Bahnhof irgendwo in den USA.
Auf ein Augenlid, der Brauenbogen am unteren Bildrand, folgt eine Stehlampe, die warmes braunes Licht aussendet, eine Aura umgeben von Dunkelheit, davor der Umriß einer Teekanne und einer Schale. Dann die Schale in Nahaufnahme, der Schalenrand schimmernd, ein Stück der Innenwand, die Außenwand dunkel. Und jetzt ein abgebrochenes Brotstück (Baguette) im schwachen Licht der Lampe, umgeben von Krümeln, winzigen Bruchstücken, und links der Brotschatten, der aus dem Bild hinausführt. Hart, mineralisch, das Brot, so sieht es aus, aber vielleicht ist es weich. Kleine Höhlen, Kavernen, des Gebildes. In einer solchen Umgebung haben die beiden Männer gestern abend auf dem Bahnhofsboden von Ikebukuro miteinander gerungen. Um Brot gekämpft? Wer kämpft schon um Brot. Die nächste Einstellung zeigt wieder das schwankende Mädchen. Danach kommt eine aufgeschnittene Melone, dann das Röntgenbild eines Schädels. Natürlich gleicht die Form des Gehirns einer Melone, und die Erdölpumpe pumpt im Abendrot vor sich hin, während ein Heer von Starkstrommasten das Industrieblut in sämtliche Körperwinkel des riesigen Landes leitet.
Build/unbuild (Zentralfriedhof)
Eine römische Mauerruine in Roppongi, echte Gräser in den Ritzen, dahinter der Mori-Turm. So kommunizieren die Zeiten. Man hat das auch Postmoderne genannt, la condition postmoderne. Aber ist das nicht seit jeher unsere condition? Und immer noch, bis heute, da wir der Kategorien überdrüssig geworden sind?
Ruine und Moderne
Wieder am Schrein vorbei, mit dem Fahrrad den steilen, sich schlängelnden Weg hinauf. Zum Glück ist es noch nicht ganz dunkel, die Dämmerung hat erst vor kurzem eingesetzt. Den Hang hinunter bin ich einmal über eine Schlange gefahren, nachts, in der Finsternis, der Mond schien nicht. Urplötzlich tauchte im schwachen Scheinwerferlicht eine sich bewegende Form auf, fast nicht unterscheidbar, gleich wieder eins mit dem Dunkel. Im nächsten Augenblick eine kurze Erschütterung, ein Pochen. Ich spürte, wie das Wesen den Schlag einsteckte, in seinen Körper aufnahm, sich ins Laub schlängelte. Ich machte halt, blickte zurück in die Finsternis und war eins mit dem jetzt schon verschwundenen Wesen. Mich schauderte - vor mir.
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