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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Ein Gedicht von einer Zeitschrift

Kompaktes Vergnügen auf höchstem Niveau
Hamburg

Im Abendlicht ringen sie miteinander: Amor & Amok
und bis zur Stunde weiß keiner, wer wen überwältigt.

In den Gedichten von Thomas Böhme herrscht eine bestechende Ruhe, eine fast schon süffisante, aber eher zärtliche Gesetztheit. Man kann ihnen lauschen, als wären sie eine Stimmung, die in der Luft liegt, eine Naturstimmung, eine Abendstimmung, die Stimmung einiger bestimmter, längst entschwundener Tage. Das Sanfte in ihnen hat zugleich etwas Wunderliches, aber auch etwas Unbeständiges. Literarische Meditationen, im besten Sinn.

Die Gedichte von Dieter Krause sind mir zu reißerisch, trumpfen allzu sehr auf. Diese Versuche epochal zu sein, bedeutungsverdichtet, schlagen sich vor meinem Auge vor allem als Strukturen nieder, nicht als mögliche Räume. Es ist erstaunlich wieviel der Ton ausmacht, denn eigentlich liegt in vielen Formulierungen die Möglichkeit einer großartigen poetischen Reichweite. Die aber meines Erachtens an ihrer Überhöhung scheitert.

In den beiden Gedichten von Gundula Sell triumphiert das Frontale scheinbar über das Abgewandte, dem allerdings die eigentliche Sehnsucht gilt. Sehr gut gefällt mir ihr zweites Gedicht, in dem sie ihre eigene Perspektive auf die Naturphänomene und Formen mit der breiten Beschaffenheitsorientierung der Landkarten vergleicht, die eine umfassendere, brav abgegrenzte, aber eigentlich weniger nuancierte Anschauung der Erdgebiete bieten.

Nach diesem ersten Lyrikabschnitt folgt ein monographischer Essay von Paul-Henri Campbell zu dem Werk des Malers Michael Morgner. Ein Text, der eine gewisse Umtriebigkeit abbildet und selbst davon ergriffen wird und auch dann und wann kritisch in die Saiten greift, aber so, dass es eine Freude ist. Ein wunderbarer Text, der einem nicht nur die Werke des Malers nahebringt, sondern auch einigen Themen, die sich eigentlich nur im Umfeld der Studie befinden, seinen Stempel aufdrückt – klug, unnachgiebig, liebenswert. 7 Abbildungen von Morgners Werken sind ebenfalls abgedruckt.

Eine weitere biographische Betrachtung widmet sich Yves Bonnefoy, einem französischen Lyriker und Essayisten, der im Sommer 2016 verstarb und mit dem das Team des Ostragehege eine engere Zusammenarbeit und Bekanntschaft pflegte – es erschienen unter anderem mehrfach bereits Texte von ihm in der Publikation. Die folgenden Texte weisen Bonnefoy tatsächlich als einen großartigen Dichter aus, der mit seiner Sprache eine besondere Ruhe und eine unverfängliche Vielfalt zu errichten weiß (übersetzt sind sie von Una Pfau). Ein Beispiel für diese Behauptung:

Heute Nacht hat das Licht 
Im Schlaf ein Nest gebaut und heute Morgen
War es eine Welt, und gegen Abend ist es sogar
Dieses etwas rosafarben erleuchtete Kleid
Dieser Blick, der von einem Garten verlangt,
Ihn noch eine Zeitlang zu empfangen.

Dass die Leben von Celan und Bachmann in Elementen endeten (Er im Wasser, Sie im Feuer) und dass die Worte sich streiten

als ob sie aus einfachen Büchern einstudiert seien

erfahre ich aus den Gedichten von Mile Stojić und Milorad Popović.

Im Anschluss daran folgt eine Geschichte von Theodor Weissenborn, die unter Zuhilfenahme einer Marienerscheinung in einem Schiefersteinbruch in Frankreich auf lockere Weise theologische Diskurse gegeneinander ausspielt, sympathisch flapsig.

Es ist erstaunlich wie kraftvoll und zeitgenössisch die Gedichte des polnischen Poeten Cyprian Kamil Norwid wirken, obgleich sie alle im 19. Jahrhundert geschrieben wurden. Sie teilen ordentlich aus, aber ihre größte Stärke ist die Art, wie sie Nachvollziehen und eine Gedankengang in Stein zu meißeln versuchen. Man hat das Gefühl, vor dem ungeheuren Grabensystem der Welt zu stehen, durch das langsam kreuz und quer die Verse als Wasser heranfließen. (Übersetzung: Peter Gehrisch)

Das Interview mit Uwe Nösner, des Verfassers einer kurzen, kritischen Analyse der Reformation – die für ihn eine ebenso ideologisch geprägte Erscheinung ist wie ihr einstiger Widerpart, die katholische Kirche, da sie ihre ursprünglichen humanistischen Ansätze und Ideale verriet – und einer theosophischen Ideengeschichte – auch dazu bietet das Gespräch einige spannende Einblicke, Anklänge – sowie von Prosa und Gedichten, habe ich als äußerste inspirierend empfunden. Seine Ausführungen machen Lust darauf, die beiden Bücher zu lesen; wenn sie so klar geschrieben sind, wie Nösner über sie spricht, dürfte die Lektüre eine faszinierende Angelegenheit sein.

Die beiden Gedichte von Fanny Howe (übersetzt von Klaus Bonn) finde ich etwas schwierig. Sie ziehen mit einer einfachen, festen Bewegung ihre Kreise, in der ein Wahrhaftigkeitsanspruch liegt, der mir persönlich ein bisschen suspekt ist. Sie ergründen mit Bravour, haben aber dabei eine Mühsamkeit auf ihren Zügen, die ihre Themen etwas glatt werden lässt.

das Mittelmeer. Verdeckt vom Cursor, altem Fleisch.

Ron Winklers Lyrik hat meist etwas Spielerisches, das sich immer in die Kurve legt oder einen Salto schlägt, wenn man meint, die Zeile könnte auf etwas Konkretes hinauslaufen. Das wirkt ebenso brillant wie es dann und wann in meinen Augen fragwürdig ist. Sicher, diese Gedichte generieren immer wieder Sinn inmitten einer gut ausbalancierten Kopflosigkeit und ihnen ist ein Fluss eigen, der einen überall hintragen kann, so scheint es, aber sie riskieren auch sehr wenig, prägen sehr wenig, bleiben kaum haften auf der Oberfläche des Augapfels, der sich kaum zusammenziehen muss, um die Bilder darin anzupeilen. Warum auch: das nächste Bild folgt schon wieder, ohne Verankerung, ohne Haken.

Auch die Gedichte von Helwig Brunner schützen ein bisschen viel vor, drehen sich mehr um sich selbst, als eine Perspektive zu nennen, die sie erschaffen könnten. Es herrscht eine Endzeitungstimmung darin, eine gut getarnte Wehmut, die den Blick nicht abwendet von ihrem Dilemma, das artikuliert werden soll. Das Gedicht frisur hat mir sehr gefallen, wie es Figuren über den Rand eines Brettes wandern lässt und so illustriert, dass sie noch anwesend sind, in gewisser Weise – jedoch, die Regeln gelten nicht mehr für sie, obgleich sie damit auch für das Spiel nicht mehr wirklich von Bedeutung sind. Außer insoweit, dass sie fehlen. Ein schönes Bild für die Fläche des Lebens und den Raum des Todes.

Sollten Texte schon vor der Lektüre verteidigt, ihre Leser schon vor der Lektüre auf bestimmte Problematiken und Vorurteile hingewiesen werden, auf mögliche Irrtümer in Bezug auf das Lektüreverhalten? Ein zweischneidiges Schwert, wie ich finde und immerhin schreibe ich Rezensionen.

Dennoch: Bertram Reinecke gelingt ein sehr gekonntes und gut gerüstetes Lanzenbrechen für den Anagrammdichter Titus Meyer und auch der Dichter selbst meldet sich wohlsortiert in Bezug auf seine eigenen lyrischen Erzeugnisse zu Wort. Beiden zusammen gelingt es, der Anagramm- und Palindromdichtung einen gewissen Adel zu verleihen und man kann danach die Formstrenge von Meyers Lyrik besser würdigen – ja, man lernt sogar ihre Quellen besser kennen, die keinem bloßen Fetischismus, sondern weitgehenden Überlegungen entspringen.

Es folgen noch ein sehr unterhaltsamer, geradezu enzyklopädischer Text über Lesungen von Severin Perrig und einige Rezensionen u.a. zu Gedichtbänden von Kurt Drawert und Volker Braun, sowie dem neuen Roman von Reinhard Jirgl, allesamt sehr akkurat und erhellend – da waren gute Leser*innen und Hermeneutiker*innen am Werk.

Angehängt ist ein spezieller, vom sonstigen Heft abgetrennter Teil, der eine Dokumentation der sächsischen Literaturpreise 2016/17 darstellt. Da ist zunächst der Lessingpreis des Freistaates Sachsen, der 2016 an Kurt Drawert ging. Abgedruckt sind ein längeres Gedicht von Drawert, sowie die Laudatio von Peter Geist und die Preisrede von Drawert. Geists Rede scheint mir irgendwie den Kern der möglichen Fluchten von Drawerts Lyrik zu verfehlen, Drawert selbst schließt dafür seine zeitgenössisch-sprachkritische Rede mit einer einfachen, sehr dramatischen, aber schönen Formel:

Eines aber ist sicher: Wenn wir unsere Sprache verlieren, unsere Worte, die zu einer Realität sich verdichten, von der aus wir denken, dann ist wahrlich nichts mehr zu retten. Hier können wir wirklich und augenblicklich etwas tun.

Eine wunderschöne Rede, unaufgeregt, aber mit echter Nähe und Tiefe besetzt, hält Jörg Schieke zu Ehre von Franziska Gerstenberg, in deren Werke ich nun auf jeden Fall mal einen Blick werfen muss. Sie erhielt 2016 den Literaturpreis des sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. Auch ihre eigenen kurzen Dankesworte sind sehr sympathisch.

Eine Weile suchen wir uns, so bleibt das immer
Du klopfst mich ab, ein geborstenes Ei

Die eine Preisträgerin des Dresdner Lyrikpreises 2016 Simona Racková, schreibt eine ungeheischte, geradezu unterkühlte Lyrik, die durchsetzt ist von Versuchen, etwas Hitze in das Unterkühlte zu bringen, was dann letztlich etwas Trennendes bedingt, das aber im Gemeinsamen geschieht, das ihre Protagonst*innen nicht verlassen wollen (übersetzt wurden die Gedichte aus dem Tschechischen von Anne Hulsch). Wie Lea Schneider in ihrer Preisrede richtig bemerkt, sind es Gedichte, die Positionen beziehen – und sie machen dabei Eindruck.

Nachts beobachten wir am Himmel eines
Verses jenen Blauwal der die Sterne
wie Plankton schluckt

Der zweite Preisträger ist Guy Helminger. Seine Gedichte sind auf der Suche nach Formen für Metaphern, sie enthalten eine gewisse Süße, ein gewisses Kredenzen von Sprache. Aber sie sind schön. Den öffnenden, aufspannenden Effekt, den seine Lyrik hat, fängt sein Laudator Urs Heftrich gut ein. Und mit seiner Rede endet auch dieses Heft.

Fazit: Hervorragende Lyrik, kluge Rezensionen, spannende Essays. Das wenige, was es zu meckern gab, wurde gemeckert, also bleibt nur noch eine klare Empfehlung dahingehend, sich das Ostragehege zu Gemüte zu führen – Denken, Wissen und lyrisches Ich werden gleichsam von dieser kompakten Publikation profitieren.

Literarische Arena e.V. (Hg.)
Ostragehege 83 · Zeitschrift für Literatur und Kunst
Ostragehege
2017 · 4,90 Euro

Fixpoetry 2017
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