… esse delendam
Es liegen uns mit "Unruhe vor dem Sturm" ca. 300 Seiten Essays vor – der Untertitel verspricht "Essays, Predigten, Polemiken, Satiren" –, Großteils "Deadlinetexte", erschienen zwischen 2012 und 2017 in verschiedenen Zeitschriften (nebst ein paar "Briefen an die Facebookgemeinde"), verteilt auf zwei thematisch gruppierte Bände im Schuber: "Von Schleppern, Mördern, Träumern und Piraten" sowie "Warum Athen zerstört werden musste". Auf den Covers prangen Bilder von griechischen Vasen, einmal Hopliten, die auf Delphinen reiten, das andere Mal Achill (wir vermuten mal, dass es Achill ist) beim Aufspießen eines unglücklichen Gegners; die Farbgebung ist dementsprechend v. a. schwarz und ziegelrot – zurück zu den vor-papierenen Basics also. Bevor wir also noch eine Zeile gelesen haben, können wir also in der Zusammenschau von Bild und Titelwortlaut denken: Aha, da scheint es derzeit eine Tendenz zu geben; Krisenbewusstsein als zyklisches Geschichtsdenken; über dem Massengrab Mittelmeer entscheiden sich Kämpfe um Macht und die Verteilung der Beute des Wohlstands, und es sind zur Abwechslung mal nicht die Konservativen, die sich das bessere Gedächtnis auf ihre Fahnen heften dürfen1
Richard Schuberths Doppelband bestätigt diesen unseren ungefähren Eindruck und legt noch eines drauf. Seine Aufsätze kreisen um Genese und Gegenwart des sich liberalen gebenden, des nach-'89er-Europa und der Welt rundherum; in Band eins geht es um Phänomene innerhalb der "Wohlstandsinsel" Österreich/Deutschland/Nordeuropa, Band zwei ist Gegliedert in "Balkanica", "Hellenica" und "Turcaica". Schuberth geht natürlich nicht von der Richtigkeit von Fukuyamas "Ende der Geschichte" aus, aber zutreffender Weise davon, dass unseren Eliten jener Unsinn zur nicht mehr hinterfragten Leitideologie geworden ist – bis in die hundertste Ableitung: So amüsant wie gruselig die Stelle in dem Aufsatz "Zerstört werden muß Athen", wo Schuberth ausführlich darauf eingeht, dass Schäuble und die seinen wirklich und ehrlich daran glauben, es sei die Austeritätspolitik, die sie Griechenland aufgezwungen haben, die richtige Lösung für das Problem der Verelendung; es würde, wenn schon die Leitsätze des Liberalismus bloß korrekt angewendet würden, alles gut. Dass dieser Glaube augenscheinlich unzutreffend ist, wie er in die Welt kommz und welche konkreten Folgen er zeitigt, darum geht es in den Aufsätzen von "Unruhe vor dem Sturm". Schuberth geht, kurz gesagt, davon aus, dass es in absehbarer Zeit ordentlich krachen wird, und zwar so, dass es auch die Bewohner der Wohlstandsinseln mitbekommen.
Zwar ist es bei der Lektüre hilfreich, ungefähr vor Augen zu haben, wer in den letzten 10 Jahren wann griechischer Finanzminister, EU-Ratspräsident oder ähnliches war, aber glücklicherweise ist, was wir da zu lesen bekommen, keine bloße Sammlung alter Zeitungskommentare. Schuberth holt stets das entscheidende Stück weiter aus als je tagesaktuell unbedingt nötig, stellt den engen 24-hour-news-cycle stets vor einen weiteren geschichtlichen Horizont. (Man mag einwenden: vor den Horizont einer ganz bestimmten und nicht an jeder Stelle unkontroversen Geschichtsphilosophie, der man auch ggf. nicht zustimmen muss; aber Schuberth setzt seine eigenen Voraussetzungen kaum je apodiktisch, sondern argumentiert sie, und mehr muss echt nicht sein.) (Schrieben wir das Jahr 1990, oder vielleicht auch 2000 noch, dann dürfte man an dieser Stelle das liebe alte Wort vom Histomat verwenden, manche theoretische Herschreibungslinien wären vielleicht einem breiteren Publikum präsenter, und Schuberth müsste an einigen Stellen seiner Aufsätze nicht gar so allgemeinmenschlich, extra-anschaulich ansetzen; aber dieses Bemühen um Greifbarkeit macht nicht den geringsten Reiz seiner Essays aus). Es gibt hier auch Texte – etwa "Rigas Pheraios, der Mann aus Velestinlo" – die kaum in die Gegenwart schauen und vor allem so etwas wie eine "ideologische Vorgeschichte" dieses Europa, seiner Kämpfe und Spannungen schreiben. In ihnen wird sichtbar, dass diese Textsammlung deutlich einfacher gestrickt wirkt, als sie tatsächlich ist. Es wird der Umfang an Recherchen und Lektüren, die in die einzelnen Beiträge geflossen sein müssen, nur dort deutlich, wo Schuberth Material verarbeitet, von dem wir weder in den Tagesnachrichten noch in den landläufigen Theorieklassikern etwas gehört haben. Im oben genannten Beispiel von "Rigas Pheraios" sind das Details über die griechische Community in Wien um 1790. Das regelmäßige Aufpoppen solcher Stellen bestärkt denn auch unser Vertrauen in Schuberths Version von Ereignissen, die für uns einen grösseren Wiedererkennungswert haben.
- 1. Selbst noch im Reservat der allerpoppigsten Popkultur tut sich solches derzeit: So dürfen wir erschreckt zur Kenntnis nehmen, dass Adam Savages jüngste Wortmeldung bei einem ComicCon-Panel einiges für sich hat, es sei Star Wars ausgerechnet realistischer als das gar zu optimistische Star Trek.
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