Der Gaul des Deuters: im gestreckten Galopp oder Literaturgeschichte ohne Fußnoten
Todesfuge und Früher Mittag sind die beiden bedeutendsten Gedichte der jungen Republik: Versuchte Paul Celan (*1920) nach eigener Aussage, „In diesem Gedicht […] das Ungeheuerliche der Vergasungen zur Sprache zu bringen“,1 so sezierte Ingeborg Bachmann (*1926) die geistige Lage zu Beginn der Republik:
[…]
Sieben Jahre später,
fällt es dir wieder ein,
am Brunnen vor dem Tore,
blick nicht zu tief hinein,
die Augen gehen dir über.Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.
Die Augen täten dir sinken.
[...](Ingeborg Bachmann. Sämtliche Gedichte, München 2002, S. 54)
Die Verschränkung von Der König in Thule von Johann Wolfgang Goethe (1774), der mitklingenden Vertonungen Franz Schuberts der Ballade (1816) und des von Wilhelm Müller stammenden Gedichts Der Lindenbaum (Am Brunnen vor dem Tore, 1823) mit der Benennung des desolaten Zustandes nach der Nazi-Barbarei umreißen den Zustand des jungen Weltgeistes in seiner deutschen Ausprägung. Der ein wenig jüngere Hans Magnus Enzensberger (*1929), wird dann in Landessprache von der „Mördergrube“2 Deutschland sprechen.3 Alle genannten Gedichte sind herausragend, da sie das Wesen einer gesamten Epoche, die aufblühende Restaurierung des westlichen Deutschlands, auszudrücken vermögen.
Methodisch sind Paul Celan mit dem Stil einer eindringlichen Litanei und Ingeborg Bachmann mit der Collage des brüchig gewordenen Bildungsgutes auf ganz unterschiedliche Weise neue Wege gegangen, sie berühren sich aber in den Ergebnissen: Das „Totenhaus“ Bachmanns korrespondiert mit Celans „[…] der Tod ist ein Meister aus Deutschland […]“.
Man ist fast geneigt anzunehmen, dass bei einem solchen Befund sich überhaupt keine Liebesgeschichten hätten ereignen können, aber das Beispiel von Ingeborg Bachmann und Paul Celan belegt das Gegenteil, wenn ihre Geschichte auch sicher von den gefährdenden Blicken in den Brunnen der jüngsten Geschichte überschattet wurde: Celans Eltern wurden in deutschen Lagern ermordet, Bachmanns Vater war Mitglied der NSDAP.
In diesem Zusammenhang kann ich Helmut Böttigers Ansicht nicht ganz teilen:
Er [Celan] hat die nationalsozialistischen Lager überlebt, sie ist eine vom Leben begünstigte Österreicherin. [S. 88]
Begünstigt? Äußerlich sicher, aber das Gedicht Früher Mittag belegt das Leiden Ingeborg Bachmanns an der Mit-Täterschaft des Vaters, über dessen frühe Hinwendung zum Nationalsozialismus sie lange schwieg. In gewisser Weise sind Nachkommen der Opfer und der Täter im „Schatten“ divers miteinander verbunden. So mag es nicht ganz von der Hand zu weisen sein, dass späteres Leiden und die Umstände des Sterbens beider Protagonisten auch mit der, wiewohl ganz divergenten, Kontamination mit den zivilisationsfernen Zuständen der deutschen Diktatur ursächlich verbunden sind.
Helmut Böttiger zeichnet ungemein genau die Beziehung der beiden so wichtigen Gestalten nach. Sie sind wichtig, da sie sich mit den Mitteln der dichterischen Sprache den „Schatten“ aussetzten, die ihre Vätergeneration hervorgerufen hatten und die bis heute und wohl lange fortwährend jeden, der in der Bundesrepublik Deutschland lebt, trifft. Unter diesen Umständen hat es auch nichts Voyeuristisches, sich dieser Liebesgeschichte anzunehmen. Helmut Böttiger tut es in einer sehr gut lesbaren, in keiner Weise wissenschaftlich verbrämten Form, die Leselust bereitet. Alles beruht auf einer offensichtlich äußerst gründlichen Recherche auch im Umfeld der beiden Protagonisten.
Bisweilen unklar oder zu nicht vermittelten Schlüssen neigend, erscheint mir Helmut Böttigers Interpretation des für die so entscheidenden Wochen in Wien wichtigen Gedichtes Corona4, dessen erster Vers wie folgt lautet:
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Mit zahlreichen Sätzen versucht Helmut Böttiger, den Vers zu entschlüsseln, ohne jedoch die Metapher des Blattes aufdecken zu können. Darüberhinaus deutet das expressive „frißt“ zunächst auf einen destruktiven Vorgang, den allerdings das Bekenntnis „wir sind Freunde“ wieder löscht. Das Bild: „Jemand frisst mir aus der Hand“ steht im umgangssprachlichen Register für ein Herrschaftsverhältnis, und die Zurichtung der Zeit lässt sich als ein Zähmungsprozess, also auch im Feld von Herrschaft verstehen:
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Geht die Suche nach Anzeichen einer „Machtfrage“ in die Irre, da nun aber das Paar („Wir…“) als Dompteur der Zeit auftritt? Angesichts der im Folgenden evozierten Innigkeit des liebenden Paares: „Wir stehen umschlungen im Fenster“ könnten die ersten Verse besagen, dass Paul Celan sich als Herr der Umstände, dem Fluss des Seins für eine kurze Weile nicht mehr unterworfen, versteht. Die Kraft sich so frei zu fühlen, vermittelt ihm die Geliebte. Niemand kommt gegen den Lauf der Zeit an, sie unterwirft sich keinem individuellen Willen. Celan scheint eine Art Ermächtigung zu empfinden, die ihm die unmögliche Macht zuweist, die Zeit zeitweise zu unterwerfen.
Ich breche hier ab, da ich nur zeigen möchte, dass, bei Celan wohl kaum verwunderlich, höchst unterschiedliche Deutungen seiner Texte möglich sind. Ein Satz wie:
Im Unterschied zum Sommer – dem Leben, dem Augenblick, dem Raschvergehenden – ist der Herbst der Zeitpunkt, in dem dieses Raschvergehende als solches bewusst wird, es ist der Zeitpunkt, an dem das Leben zur Dichtung werden kann. (S. 53, Hervorhebung RS)
zeigt es deutlich. Abgesehen davon, dass der Herbst kein Zeitpunkt sondern ein Zeitverlauf ist, frage ich mich, ob das Leben nicht ganz unabhängig von irgendeiner Jahreszeit „zur Dichtung werden kann“. Helmut Böttigers Schluss möge als Beispiel für zunächst brillant klingende, aber bei näherem Hinschauen doch leere Schlussfolgerungen dienen. Was soll denn die Formulierung „das Leben wird zur Dichtung“ genau heißen? Dass der Dichter Lebenswirklichkeit als das Material seiner sprachlichen Anstrengung verwendet? Oder die Reflexion seiner Welterfahrung? Aber eine solche Aussage wäre eine Binsenwahrheit, da Sprache (in welcher Form auch immer) letztlich aus dem Fluss der Wahrnehmungen laufender Ereignisse, die man Leben nennt, stammt. In seinen hermeneutischen Versuchen geht Helmut Böttiger der Gaul dann noch öfter einmal durch:
Das Ich des Dichters verschmilzt mit dem der Geliebten zu etwas Rauschhaftem, es wird ersetzt durch den lyrischen Prozess: "[...] wir sehen uns an, / wir sagen uns Dunkles" [...] [S. 55]
Ich kann in den die Ruhe der Intimität ausstrahlenden Formulierungen Celans keinen Rausch erkennen, auch keine Verschmelzung der Individuen, schon gar keine Substitution des lyrischen Ichs durch den lyrischen Prozess: Es sind schlicht Leerformeln, die eine konventionelle Vorstellung der Vereinigung zweier Liebender spiegeln. Paul Celan ist in seinen einfachen, schlichten Aussagen vollkommen unverstellt, wahrhaftig und überzeugend. Es bedarf keiner Rauschglasur.
Das „Dunkle“ könnte das ungefilterte, unkontrollierte Tiefe der Psyche meinen, dass sich nur Menschen mitteilen können, die größte Nähe und damit Vertrauen zueinander schufen. Dunkelheit hat eine bedrohliche Seite, man kann in ihr versinken. Unwillkürlich meldet sich der Schrei des von Celan hochgeschätzten Friedrich Hölderlin, der zur Hälfte seiner Existenz in Dunkelheiten versank:
[…]
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
den Sonnenschein,
[…]
(Hälfte des Lebens, Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Hg. Michael Knaupp, Darmstadt 1998, Bd. 1, S. 445 [Fortan Knaupp 1998]
Das existenziell Dunkle versteht Helmut Böttiger offenbar als das lyrische Sprechen, doch gibt es dafür gar keinen Hinweis. Das Dunkle ist das Enigmatische, selbst in der Zeit größter Nähe kann es nur ausgetauscht, aber nicht erhellt werden. Der Nucleus des Individuums bleibt einsam, das Ich ist, wie der Begriff es sagt, unteilbar, aber gleichwohl mitteilbar, wenn auch als unlösbares Rätsel.
Sechsmal verwendet Paul Celan das Nomen „Zeit“, sie ist die das menschliche Leben strukturierende Größe.
[…]
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
[…]
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
[…]
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.Es ist Zeit.
Helmut Böttiger bezieht sich vor allem auf die letzte Erwähnung des Nomens:
Die „Es ist Zeit“-Anrufungen sind von der Atemlosigkeit der Liebeserfahrung durchdrungen. Das Gedicht läuft auf sich selber zu. [S.57]
Der erste Satz gehört in jene schon erwähnten konventionellen Erotik-Konzepte, der zweite ist wiederum eine schöne Formulierung, die nichts bedeutet. Der Interpret galoppiert an dem, was nicht in seine Deutung passt, vorbei, hier vor allem an dem Vers „Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, […]“. Das Erstarrte, das Versteinerte soll sich in der Liebesbeziehung in aufblühendes Leben verwandeln. Die besondere Qualität der wenige Wochen gelebten Liebe in Wien ist die Kraft, die das Unmögliche vollbringen könnte, dessen ist sich Paul Celan offenbar bewusst und deshalb ist „Es ist Zeit.“ kein Imperativ, sondern die apodiktische, nüchterne Feststellung eines Glückszustandes, ganz im Bewusstsein seiner selbst und der Kraft seiner Verbindung mit Ingeborg Bachmann. Es ist Zeit, dass eine gemeinsame Zukunft beginne, die auch das existenziell Dunkle beruhigt in sich schließe.
Den Schritt von der gekonnten biographischen Deutung der zitierten Gedichte hin zur umfassenden poetologischen Aussage kann ich nicht mitgehen, er erscheint mir erzwungen, ja er stellt fast eine Entwertung des Textes dar, so als sei der Bedeutungsraum bezogen auf einen Lebensmoment zu klein, zu gering. So ist der Satz:
Es geht in diesem Gedicht [Corona] um eine Verständigung darüber, was die die Dichtung kann. [S.53]
ohne Grundlage, jedenfalls konnte sie Helmut Böttiger mir nicht vermitteln. Dass Ingeborg Bachmann mit Gestundete Zeit auf Corona antwortet, ist sinnfällig und überzeugend dargestellt, dass aber dieses Gedicht auch als „poetologisch“ gedeutet wird, ist nach dem Vorgehen Helmut Böttigers folgerichtig, aber dennoch unzutreffend. Ποιήμα (Poiäma) bedeutet „das Machwerk, das Gemachte, Arbeit“ und dann auch „das Gedicht“, λόϒος (logos) „das Sprechen“, Poetologie hat folglich die Bedeutung „das Sprechen vom Machen“. Aber inwiefern sprechen die zitierten Gedichte von der Anfertigung eines Gedichtes? Helmut Böttiger extrapoliert den Herstellungsvorgang aus dem Text, allerdings enthalten die Texte nicht die geringsten Spuren, die eine solche Erweiterung zuließen, bis auf die Verben „sagen“ (Celan) und antithetisch „schweigen“ (Bachmann), daraus nun eine Poetologie abzuleiten, halte ich für verwegen. Kein Literaturwissenschaftler könnte bei der Lektüre des schon erwähnten Gedichtes Hälfte des Lebens ablesen, wie es entstanden ist, nämlich „aus dem zufälligen Nebeneinander mehrerer Entwürfe bei der Durchsicht des Stuttgarter Foliobuches“ [Knaupp 1988: Bd. 3, S. 268] . Gedichte sind Notate von Seelenzuständen, die, gelingen sie, eine den individuellen Raum übersteigende, die Zeit überwindende, aber im besten Falle, wie mit Früher Mittag erreicht, ihre Zeit definierende Kraft entfalten.
Die ohne zu weit ausgreifende Interpretationen von Gedichten auskommenden Kapitel sind, etwa über die Tagung der Gruppe 47 in Niendorf oder das 9. („Im deutschen Urwald“) spannend zu lesende biographische Literatur.
Abgesehen von den zu hohen, zu weiten hermeneutischen Sprüngen, bringt Helmut Böttiger dem Lesenden Aspekte im Leben der beiden so bedeutenden literarischen Gestalten nahe. Wenn man der biographischen Methode der Interpretationen zuneigt, öffnet er damit sicher Zugänge des Verständnisses. Die Autonomie des Textes bleibt davon unberührt, will heißen, die Texte können auch ganz anders verstanden werden.
Um noch einmal auf Corona zurückzukommen, Helmut Böttiger selbst zeigt in der Besprechung der „Legende um die Prinzessin von Kagran“ in Malina, dass Ingeborg Bachmann, die Nähe beschreibenden Zeilen „Im Spiegel ist Sonntag“ und „Wir stehen umschlungen im Fenster“ als Embleme ihrer Liebe zu Paul Celan zitiert. Keine Rede mehr von Poetologischem.
Helmut Böttiger hat, was die Textdeutung angeht, ein zu Widerspruch anregendes Buch verfasst, das ermuntert, den eigenen hermeneutischen Gaul traben zu lassen. Ein wenig glücklicher Umstand ist die am Anfang seines Textes ausgebreitete poetologische Lesart von Corona; im Folgenden entfalten sich die Beziehungsanalysen der beiden unglücklich Liebenden in einem mitreißenden Strom, in dem das lyrische Gespräch der beiden fasziniert. Helmut Böttiger bewahrt dabei zu beiden eine mitfühlende Distanz, er verrät, bei aller Ausbreitung ehemaliger Privatheit, die Protagonisten niemals. Er bietet in ungemein lebendiger Art Literaturgeschichte, die ohne Fußnoten auskommt.
- 1. Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt 2003, S. 608. [Fortan: Wiedemann 2003] >Todesfuge< von Paul Celan gelesen: https://www.youtube.com/watch?v=gVwLqEHDCQE
- 2. Hans Magnus Enzensberger. Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts. Nachwort von Werner Weber. Frankfurt 1963, S. 50
- 3. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Werner Bergengrün (*1892) in seinem Gedicht >Die letzte Epiphanie< 1944 geschrieben und bereits 1945 im Band >Dies irae<, „under authority of 6870 District Information Services“ in München veröffentlicht, in christlicher Sicht auf alttestamentarische Weise den Holocaust thematisierte. Eugen Kogon nahm sein Gedicht in seine berühmte Abhandlung >Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager< (München 1947, S. 359) auf. Am Ende des Eichmann-Prozesses wurde das Gedicht in hebräischer Übersetzung vorgetragen.
Als erste Thematisierung des Holocausts gilt der Zyklus >In den Wohnungen des Todes< von Nelly Sachs.
Hinzuweisen ist auch auf Gedichte Peter Huchels (*1903), die Kriegsgräuel beschreiben, z. B. >Dezember 1942< „[…] Vor Stalingrad verweht die Chaussee. / Sie führt in die Totenkammer aus Schnee.“ In: Peter Huchel. Gedichte. München 1967, S. 145. Gegen die aufgeführten Gedichte fällt das als Widerstandshandlung hochgelobte Gedicht >Monolog<, 1941, des damaligen Oberststabsarztes der Wehrmacht Dr. Gottfried Benn stark ab. - 4. Wiedemann 2003: 39. Der Text ist im Buch zitiert (S. 52). Corona von Paul Celan gelesen: https://www.youtube.com/watch?v=X25-IDqiC5k
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